Читать книгу Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London, Jack London - Страница 9

Fünftes Kapitel

Оглавление

Am nächsten Morgen erwachte er aus seinen rosigen Träumen in einer dampfigen Luft, die nach Seifenlauge und schmutziger Wäsche roch und von den schreienden Disharmonien eines zerquälten Lebens vibrierte. Als er sein Zimmer verließ, hörte er Wasserplätschern, scharfes Schelten und eine schallende Backpfeife: seine Schwester ließ ihren Ärger an einem ihrer vielen Kinder aus. Das Schreien des Kindes durchbohrte ihn wie ein Messer. Er war sich bewußt, daß das alles, ja selbst die Luft, die er atmete, niedrig und widerwärtig war. Wie anders, dachte er, ist doch die Atmosphäre von Schönheit und Ruhe in dem Heim, das Ruth bewohnt. Dort ist alles Geist, hier alles Materie, elende Materie.

»Komm her, Alfred!« rief er dem weinenden Kinde zu und griff gleichzeitig in die Hosentasche, wo er sein Geld lose mit sich trug, großzügig und sorglos, wie er immer und überall im Leben war. Er drückte dem kleinen Burschen ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück in die Hand und hielt ihn einen Augenblick in seinen Armen, bis er aufhörte zu schluchzen. »So, jetzt läufst du hin und kaufst dir Malzbonbons, und gib deinen Geschwistern auch etwas ab. Aber paß auf, daß du die kriegst, von denen man am längsten etwas hat.«

Seine Schwester hob das gerötete Gesicht vom Waschzuber und sah ihn an.

»Zehn Cent wären auch genug gewesen«, sagte sie. »Aber das sieht dir ähnlich, keine Ahnung vom Wert des Geldes. Das Kind überfrißt sich ja nur.«

»Laß nur, Trudel!« sagte er gutmütig, »um mein Geld kümmere ich mich schon selbst. Wenn du nicht so viel zu tun hättest, würde ich dir einen Gutenmorgenkuß geben.«

Er wäre gern liebevoll zu seiner Schwester gewesen, die gut war und ihn, wie er wußte, auf ihre Art liebte. Aber sie wurde gleichsam mit den Jahren immer weniger sie selbst und immer schwerer zu verstehen. Die harte Arbeit, die vielen Kinder und das ewige Genörgel des Mannes hatten sie verändert, dachte er. Ihm schien plötzlich, als werde ihr ganzes Wesen von welkem Gemüse, dampfender Seifenlauge und dem schmutzigen Kleingeld geprägt, das sie am Ladentisch kassierte.

»Pack dich und iß dein Frühstück«, sagte sie barsch, obwohl sie sich innerlich über seine Bemerkung freute, denn von dem ganzen Nomadenstamm der Brüder war er immer ihr Liebling gewesen.

»Ich möchte wirklich einen Kuß von dir«, sagte sie in einer plötzlichen Herzensregung.

Mit Daumen und Zeigefinger strich sie sich den tropfenden Seifenschaum zuerst vom einen Arm und dann vom andern. Er legte die Arme um ihren plumpen Leib und küßte ihre naßkalten Lippen. Sie bekam Tränen in die Augen, nicht weil sie soviel dabei fühlte, sondern weil sie von der ewigen Überanstrengung geschwächt war. Sie schob ihn von sich, aber er hatte ihre tränenfeuchten Augen noch gesehen.

»Nimm dir selbst das Essen aus den Ofen«, sagte sie hastig. »Jim wird jetzt auch aufgestanden sein. Ich mußte wegen der Wäsche so früh heraus. Aber mach, daß du so bald wie möglich aus dem Hause kommst. Tom ist gegangen, und kein anderer kann den Wagen fahren als Bernard. Das wird kein guter Tag heute.«

Martin ging schweren Herzens in die Küche, während das Bild ihres roten Gesichtes und ihrer vernachlässigten Gestalt sich wie ätzende Säure in sein Hirn fraß. Sie könnte ihn vielleicht lieben, wenn sie nur Zeit dazu hätte, sagte er sich. Aber sie arbeitete sich tot. Bernard Higginbotham war ein Schuft, daß er seine Frau sich so abrackern ließ. Andererseits jedoch fühlte er, daß nichts Schönes in dem Kuß gewesen war. Es war richtig, es war an sich etwas Ungewöhnliches. Seit vielen Jahren hatten sie sich nur geküßt, wenn er von einer Fahrt kam oder auf Fahrt ging. Aber der Kuß hatte nach Seifenschaum geschmeckt, und er hatte bemerkt, daß ihre Lippen seltsam schlaff waren. Es war kein frischer, kräftiger Druck von Lippe zu Lippe gewesen, wie ein Kuß sein sollte, es war der Kuß einer müden Frau, die so lange müde gewesen ist, daß sie vergessen hat, wie man küßt. Er dachte daran, wie sie als junges Mädchen gewesen war, als sie nach hartem Tagewerk in der Wäscherei ganze Nächte hindurch tanzen konnte und sich nicht im geringsten fürchtete, direkt vom Ball an die Plackerei des neuen Tages zu gehen. Und dann dachte er an Ruth und an die kühle Süße, die auf ihren Lippen sein mußte, so wie sie in ihrem ganzen Wesen war. Ihr Kuß mußte wie ihr Händedruck oder wie ihr Blick sein, fest und freimütig. In Gedanken wagte er es, sich ihre Lippen auf den seinen vorzustellen, und so lebhaft war seine Einbildungskraft, daß ihm in Gedanken schwindelte und er ein Gefühl hatte, als triebe er dahin durch Wolken von Rosenblättern, die sein Hirn mit ihrem Duft füllten.

In der Küche fand er Jim, den andern Pensionär, der sehr langsam und widerstrebend, mit einem matten, abwesenden Ausdruck in den Augen, Grütze aß. Jim war ein Klempnerlehrling, dessen schwaches Kinn und zu Ausschweifungen neigendes Temperament nebst einem gewissen nervösen Stumpfsinn seine Aussichten im Kampf um das tägliche Brot nicht sehr rosig erscheinen ließen.

»Warum ißt du nicht?« fragte er, als Martin melancholisch in der kalten, halbgaren Hafergrütze zu rühren begann. »Warst du gestern abend wieder besoffen?«

Martin schüttelte den Kopf. Er war niedergeschlagen durch diese ganze unsagbar schmutzige Umgebung. Ruth Morse schien ihm weiter entfernt denn je.

»Aber ich«, fuhr Jim mit einem prahlerischen, nervösen Kichern fort. »Ich war voll bis oben hin. Oh, ich hatte mächtig einen sitzen! Billy brachte mich nach Hause.«

Martin nickte, zum Zeichen, daß er gehört hatte – er besaß die angeborene Gewohnheit, alles zu hören, was man ihm erzählte –, und goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein.

»Gehst du heute abend in den Lotus-Klub tanzen?« fragte Jim. »Es wird frisch angestochen, und wenn die ganze Bande aus Temescal kommt, setzt es sicher was. Mir ist es egal. Ich gehe trotzdem mit meiner Kleinen hin. Pfui Teufel, was für einen Geschmack ich im Mund habe!«

Er schnitt ein Gesicht und versuchte den schlechten Geschmack mit Kaffee hinunterzuspülen.

»Kennst du Julia?«

Martin schüttelte den Kopf.

»Das ist meine Kleine«, erklärte Jim, »und sie ist großartig. Ich würde dich ihr vorstellen, aber du würdest sie mir bloß ausspannen. Ich verstehe nicht, was die Weiber an dir finden, wahrhaftig, aber es ist geradezu ekelhaft, wie du sie den andern wegschnappst.«

»Ich hab dir nie eine weggeschnappt«, antwortete Martin gleichgültig. Das Frühstück mußte irgendwie überstanden werden.

»Das hast du doch«, ereiferte sich der andere. »Denkst du nicht mehr an Maggie?«

»Hab nie mit ihr zu tun gehabt, nie mit ihr getanzt, außer an dem einen Abend.«

»Ja, eben!« rief Jim. »Du hast nur mit ihr getanzt und sie angeguckt, und alles war aus. Natürlich hast du dir nichts dabei gedacht, aber ich war abgehängt. Sie wollte mich nicht mehr ansehen, fragte nur nach dir. Sie war ganz toll darauf, dich wiederzutreffen, wenn du nur gewollt hättest.«

»Aber ich wollte nicht.«

»War gar nicht nötig. Ich bekam jedenfalls den Laufpaß.« Jim blickte ihn bewundernd an. »Wie stellst du das bloß an, Mart?«

»Ich mache mir nichts aus ihnen«, lautete die Antwort.

»Du meinst, du tust so, als ob du dir nichts aus ihnen machst?« forschte Jim eifrig.

Martin bedachte sich einen Augenblick, dann antwortete er: »Vielleicht genügt das, aber bei mir ist es doch noch anders, glaub ich. Ich hab mir nie was aus ihnen gemacht… jedenfalls nicht viel. Wenn du so tun kannst, als ob, wird es höchstwahrscheinlich auch gehen.«

»Du hättest gestern abend in Rileys Scheune sein sollen«, sagte Jim ganz unvermittelt. »Verschiedene von den Jungens gingen in den Ring. Da war ein Prachtkerl aus West-Oakland. Sie nannten ihn ›die Ratte‹. Glatt wie ‘n Aal. War nicht zu packen. Wir wünschten alle, du wärst dagewesen. Wo warst du eigentlich?«

»In Oakland«, erwiderte Martin.

»Im Theater?«

Martin schob den Teller zurück und stand auf.

»Kommst du heute abend zum Tanzen?« rief Jim ihm nach.

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete er.

Er ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und atmete in tiefen Zügen die frische Luft ein. In der Atmosphäre oben war er fast erstickt, und das Geschwätz des Klempnerlehrlings hatte ihn verrückt gemacht. Mehrmals war er nahe daran gewesen, Jims Gesicht in den Grützeteller zu tauchen. Je mehr der schwatzte, desto ferner schien ihm Ruth. Wie konnte er, zusammengepfercht mit solchem Vieh, ihrer je würdig werden? Er war erschrocken über das Problem, dem er gegenüberstand, und seine Zugehörigkeit zu der arbeitenden Klasse drückte ihn wie ein Alp. Alles war bestrebt, ihn untenzuhalten: seine Schwester, deren Haus und Familie, der Lehrling Jim, jeder, den er kannte, alles, was ihn mit diesem Leben verknüpfte. Das Leben schmeckte ihm nicht mehr. Bis jetzt hatte er es so, wie er und seine Umgebung es lebten, als etwas Gutes hingenommen. Er hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, außer wenn er Bücher las; aber damals waren diese Bücher nur Märchen, Märchenbücher von einer schöneren, unmöglichen Welt. Doch jetzt hatte er diese Welt als etwas Mögliches und Wirkliches gesehen, noch dazu mit einer Blume von Weib namens Ruth als Mittelpunkt; und von jetzt an mußte er den bitteren Geschmack schmerzender Sehnsucht und eine Hoffnungslosigkeit spüren, die ihn um so schlimmer quälte, als sie immer wieder von Hoffnung genährt wurde.

Er hatte zwischen den Volksbibliotheken von Berkeley und Oakland geschwankt und entschloß sich für die Oakländer, weil Ruth in Oakland wohnte. Wer konnte es wissen? – Eine Bibliothek war ein Ort, wo sie zu Hause war, und vielleicht traf er sie dort. Er wußte nicht Bescheid in Bibliotheken, und er irrte an endlosen Reihen von Romanen vorbei, bis das junge Mädchen mit den feinen französischen Zügen, das anscheinend die Aufsicht über die Abteilung führte, ihm sagte, daß die Handbücherei sich oben befand. Er war zu unbewandert, um den Mann am Tische zu fragen, und machte seine ersten Versuche in der philosophischen Abteilung. Er hatte wohl von Philosophie gehört, aber nicht gedacht, daß so viel darüber geschrieben worden war. Die hohen Regale, die sich unter der Last der schweren Bände bogen, demütigten ihn und spornten ihn gleichzeitig an. Hier gab es Arbeit für sein kräftiges Gehirn. In der mathematischen Abteilung fand er Bücher über Trigonometrie, und er überflog hastig die Seiten und starrte auf die sinnlosen Formeln und Figuren. Englisch konnte er lesen, aber die Sprache, die er hier sah, war ihm völlig fremd. Norman und Arthur aber kannten sie. Er hatte sie in dieser Sprache reden hören. Und sie waren Brüder. Verzweifelt verließ er die Regale. Es war, als ob die Bücher von allen Seiten auf ihn einstürmten und ihn unter sich begruben. Nie hatte er sich träumen lassen, daß der Vorrat menschlichen Wissens so riesig sei. Er war erschrocken. Wie konnte sein Kopf je das alles bewältigen? Später fiel ihm ein, daß andere Männer, viele Männer damit fertig geworden waren; und mit unterdrückter Leidenschaft schwor er einen wilden Eid, daß sein Kopf auch schaffen sollte, was der ihre geschafft hatte.

Und so ging er denn weiter, zwischen Entmutigung und Entzücken schwankend, und starrte auf die von Gelehrsamkeit strotzenden Regale. Auf einem, das verschiedenartige Literatur enthielt, stieß er auf ein Exemplar von ›Norrie’s Epitome‹. Er durchblätterte es ehrfurchtsvoll. Irgendwie redete es eine verwandte Sprache. Er und das Buch, sie beide gehörten dem Meere an. Dann fand er einen Band von Bowditch und Bücher von Leckey und Marshall. Da wußte er es: er wollte Navigation lernen. Er wollte kein Glas mehr anrühren, wollte arbeiten und Kapitän werden. Ruth schien ihm in diesem Augenblick ganz nahe. Als Kapitän konnte er sie heiraten (wenn sie ihn haben wollte), und wenn sie nicht wollte, nun ja, dann wollte er um ihretwillen als Mann unter Männern leben und jedenfalls nicht mehr trinken. Dann fielen ihm die Assekuradeure und Reeder ein, die zwei Herren, denen ein Kapitän dienen muß, wenn er sich nicht den Hals brechen will, und deren Interessen einander strikt entgegenlaufen. Er blickte sich in dem Raum um, schloß die Augen und sah all die zehntausend Bücher vor sich. Nein, er wollte nichts mehr mit der See zu tun haben. In diesem Überfluß von Büchern war Macht, und wenn er Großes verrichten wollte, so mußte er es zu Lande tun. Übrigens durfte ein Kapitän auch seine Frau nicht mit an Bord nehmen.

Es wurde Mittag, und es wurde Nachmittag. Er vergaß zu essen und suchte weiter nach Büchern über den guten Ton, denn außer der Sorge um seine Laufbahn quälte ihn ein einfaches und ganz gegenständliches Problem. Wie bald kann man einen Besuch wiederholen, wenn eine junge Dame einen dazu auffordert, so fragte er sich. Als er aber das betreffende Regal fand, suchte er vergebens nach einer Antwort. Er war entsetzt über das riesige Gebäude der Etikette und verlor sich in einem Labyrinth von Regeln über den Gebrauch von Visitenkarten in der guten Gesellschaft. Er gab es auf, weiter zu suchen. Er hatte nicht gefunden, was er brauchte; das einzige, was er entdeckte, war, daß es einen Menschen ganz in Anspruch nahm, wenn er nach den Regeln der Höflichkeit leben wollte, und daß er zunächst die Zeit damit verbringen müßte, Höflichkeit zu lernen.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte ihn der Mann am Pult, als er ging.

»Ja«, antwortete er. »Sie haben eine sehr schöne Bibliothek.«

Der Mann nickte. »Wir würden uns freuen, wenn Sie öfter wiederkämen. Sind Sie Seemann?«

»Ja«, antwortete er. »Und ich komme wieder.«

Woher weiß er das nur? fragte er sich, als er die Treppe hinunterschritt.

Und bis zur nächsten Straßenecke ging er sehr steif und gerade und linkisch, dann aber verlor er sich in Gedanken und verfiel wieder in seinen natürlichen, wiegenden Gang.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe

Подняться наверх