Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 10
ОглавлениеEin eigenes Heim
Es war endlich soweit, wir bekamen wieder unsere eigene Wohnung, und meine Mutter eine erneute Chance, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Obwohl schwierige Zeiten für mich anbrachen, war ich froh, dass ihr Wunsch in Erfüllung ging. Die Schule war tatsächlich das Erste, was sie aufgab. Es sei mit Kind und Haushalt nicht zu bewerkstelligen, teilte sie dem Jugendamt mit. Wofür jeder bitte Verständnis aufbringen solle, da sie doch bemüht sei, und es zukünftig schon anders werde, wenn ich weniger auf sie angewiesen sei. Die Taktik mit ihrem Gestöhne, überfordert zu sein, ging auf und sie gewann Zeit. Die nutzte sie, fernzusehen, Ungesundes in sich hineinzustopfen und mir zu delegieren, was an Hausarbeit nach der Schule noch zu erledigen war.
Ich kam allem nach, erlernte Neues, und war heilfroh, sie weniger um mich zu haben und Ruhe vor ihr zu haben. An manchen Tagen funktionierte nicht immer alles nach ihren Vorstellungen, und es gab Prügel, Tritte oder Beleidigungen. An anderen Tagen ging mir alles leicht von der Hand, und ich konnte mich draußen mit anderen Klassenkameraden treffen und herumtreiben. Mit der Schule hatte ich es im Laufe der Jahre auch nicht mehr so, schwänzte einige Male, schrieb schlechte Zensuren oder machte keine Hausaufgaben. Zu Herzen nahm ich mir das nicht, da die Schule ja nichts war, was ich als Erwachsener bräuchte, sagte meine Mutter. Sie hatte auch nicht geschimpft, als ich einmal eine Klasse wiederholen musste, und meinte dazu nur:
»Das Lehrpersonal soll deshalb nicht so einen Aufstand proben, und mich für so einen Unfug in die Schule bestellen und meine wertvolle Zeit verschwenden. Ich habe doch auch keinen Hauptschulabschluss, komme mehr als gut durch das Leben, und mit der Sozialhilfe kommt man über die Runden. Natürlich kann man keine großartigen Sprünge machen, aber verhungern muss mit dem Geld vom Amt auch niemand in Deutschland. Du bist eben begriffsstutzig und lernst langsamer als Mama, das ist jedoch kein Grund, so etwas zu dramatisieren und als Weltuntergang darzustellen, wie deine Lehrer es tun. Du wirst deinen Weg im Leben schon gehen, auch ohne Abschlüsse. Die sollten mal begreifen, dass nicht jeder dafür bestimmt ist, ein erfolgreicher Akademiker zu werden. So etwas einem Kind abzuverlangen führt nur dazu, dass es erst recht resigniert. Ich verstehe dich sehr gut, dass du genau deswegen dem Unterricht fernbleibst, und diesem Druck nicht mehr standhältst, der dort häufig ausgeübt wird. Mach dir mal keinen Kopf, meine Kleine, alles ist in Ordnung und wird gut!«
Das waren seltene Momente des Verständnisses für mich, und Worte, die sie aufrichtig meinte. Gelegentlich ließ ihr Verhalten sogar annehmen, dass sie stolz war, dass ich nach ihr kam und die gleichen Ansichten zur Schule entwickelte. Das stimmte mich nachdenklich und entsprach nicht der Wahrheit. Ich schwänzte nämlich oft, um meine Ruhe zu haben, vor Lärm, Gerenne, lauten Mitschülern und dem permanenten Geschimpfe meiner Mutter. Mir machte es dann viel mehr Spaß, im Park die Unterrichtszeit zu verbringen, mit mir selbst zu reden, Vögel zu füttern und zu beobachten, und neue Kraft für den täglichen Terror zu Hause zu schöpfen, was mir auch meist gelang. Manchmal staute sich alles an und ich hatte das Bedürfnis, meiner Mama die Meinung zu sagen über ihr ständiges Gebrülle. Dann setzte ich das im Park fort, in meinen Selbstgesprächen, was sehr befreiend war, oder ich schrie in die Natur hinaus, was sich an Wut gegen sie in mir angehäuft hatte. Es half stets und deshalb verlor ich in Gegenwart meiner Mutter nie die Beherrschung, ganz gleich, wie schlecht ihre Laune war, die sie an mir dann ausließ.
Mit zwölf Jahren hatte ich dadurch eine weitere wichtige Eigenschaft erworben, nämlich die Kontrolle über mich selbst, die mir ermöglichte, die Ungerechtigkeiten meiner Erzeugerin zu ertragen und auszuhalten. Ich war schon sehr eigenständig in dem Alter und organisierte meinen Alltag fast alleine. Ich ging für uns Einkaufen, kochte, putzte, fiel ihr nicht auf den Wecker und wusste, wann es an der Zeit war, das Weite zu suchen, um ihre Gewaltausbrüche nicht länger ertragen zu müssen. Darüber wurde im Nachhinein kein Wort verloren, wenn sie die Beherrschung verloren und auf mich eingeschlagen hatte, ich lief einfach davon und kam später zurück.
Miriam, bring´ mir mal dieses oder jenes, mach´ mal eben dies und das, und denk´ doch mal hieran und daran, das waren die häufigsten Sätze, die zu Hause an mich gerichtet wurden. Immer in Bereitschaft, für sie zu funktionieren, kaum Zeit durchzuatmen, und genau deswegen blieb ich der Schule fern. Mein einziger Ruheort war der Park, und die Zeit, die ich mit mir ganz alleine verbringen konnte.
Keinen Hauptschulabschluss zu bekommen, war ja laut ihr auch kein Drama und verursachte bei mir kein schlechtes Gewissen. Es gab jedoch schon Tage, an denen mich öfter beschäftigte, was später aus mir werden solle. Ich wollte definitiv eine eigene Familie, Kinder und alles richtig machen. Sie umarmen, trösten, knuddeln, erziehen und für sie da sein, wenn sie nach mir verlangten und ihnen alles bieten, was ich in all den Jahren nicht erfahren durfte. Das war auch das, was mich sehr quälte und belastete, und ich nahm mir fest vor, meine Kinder nie wegzustoßen oder meinen Partner, wenn sie mich brauchten, da das das Schlimmste war und mich mehr verletzte als die Prügel von meiner Mutter. Die Zurückweisung war unerträglich für mich.
Ich hatte mit zwölf Jahren schon einige Jungs geküsst, aber keiner interessierte mich ernsthaft. An meinen Märchenprinzen glaubte ich aber fest, und dass er da draußen irgendwo sein müsse. Ich träumte von einem eigenen Haus mit Garten, bunten Blümchen auf der Wiese und einem Kühlschrank, der immer voll war und dachte, dass ich das eines Tages erreichen könne. Nach solchen Überlegungen lief ich lächelnd nach Hause. Gute Laune war nichts, was in unser Heim passte. Der Grund für meine positive Gemütsverfassung wurde erfragt, und ich teilte ihn meiner Mama offen mit. Sie machte mir alles im nächsten Moment zunichte und äußerte:
»So jemanden gibt es nicht da draußen, und so ein Leben wirst du nie führen, Miriam, von was denn auch oder wie? Weißt du, dein Vater war so, und keiner wird mehr in mein Leben treten, der ihm ähnelt. Er war der beste Lebenspartner, den man sich als Frau nur wünschen kann, leider ist er tot. Du bist nun auch alt genug, um zu erfahren, dass du der Grund für seinen Suizid warst und niemand sonst. Ich denke also nicht, dass du jemanden verdient hast, der dich im Leben auf Händen trägt. Du hast mir genau solch einen Menschen genommen, und es soll dir genauso ergehen. Warum solltest du es leichter haben als ich? Dein Vater ist nur unter der Erde, weil ich für dich da sein musste, und ihn links liegen ließ. An gebrochenem Herzen ist er ohne mich gestorben, untergegangen. So etwas sollst du erfahren, wenn du erwachsen bist, um nachvollziehen zu können, was du angerichtet und uns angetan hast!«
Die Vorwürfe, die sie mir immer machte, trafen mich sehr, oft dachte ich darüber nach, ob sie damit recht und ich den Tod meines Vaters zu verantworten hatte. Es musste wohl so sein, da sie ihn nur im Stich gelassen hatte, weil es mich gab. Wäre ich nicht zur Welt gekommen, hätte sie sich gar nicht zwischen ihm und mir entscheiden müssen, grübelte ich. Da war es doch einsichtig, dass sie nie dazu im Stande war, mir Zuwendung zu schenken, eine Umarmung oder ein »Ich-hab-dich-lieb« und »es ist schön, dass es dich gibt«. Sie musste mich dafür abgrundtief hassen, und hat mir das nie verziehen, da bin ich sicher.
Ich dachte oft, dass ich sehr egoistisch sei, mir einen Traummann zu wünschen, mit dem alles besser und anders werde, und meiner Mutter den Partner genommen hatte, der ihr so viel bedeutete. Das stand mir nicht zu. Ich hielt dennoch an meinen Vorstellungen von einer intakten Partnerschaft fest. In Gegenwart meiner Mutter schwieg ich darüber, um sie nicht noch wütender oder trauriger zu erleben. Die Vorwürfe meiner Mutter bezweifelte ich aber und schenkte ihnen weniger Beachtung und Aufmerksamkeit. Daraus resultierte, dass ich mich weniger verletzt und angegriffen fühlte, wenn nach ihrer Meinung nichts an mir in Ordnung war, oder ich angeblich mal wieder nichts richtig gemacht hatte.