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Die erste große Liebe

Ich fühlte mich in der achten Klasse oft einsam, was mein Klassenkamerad Marvin bemerkte. Er schenkte mir viel Aufmerksamkeit, neckte mich oder brachte mich mit Witzen oder seinen Erzählungen zum Lachen. Ich begann, ihn zu mögen, und schloss ihn immer mehr in mein Herz. Es verging kein Tag nach der Schule, an dem wir nichts miteinander unternahmen. Er kam aus normalen Verhältnissen, seine Mutter war Krankenschwester und sein Vater arbeitete im Straßenbau. Beide waren nach ihren Fähigkeiten fleißig und bemüht, ihrem einzigen Sohn eine sorgenfreie Kindheit zu bescheren. Es fehlte ihm an nichts, diesen Eindruck erweckte zumindest sein Jugendzimmer. Er besaß moderne Möbel, einen schicken Laptop, die neueste Spielekonsole, ein teures Smartphone, genug Taschengeld und immer schöne und kaum aufgetragene Markenkleidung.

Dinge, von denen ich nur träumen konnte, was mir aber nicht so wichtig war, da ich schon mit sauberer Kleidung im Alltag zufrieden gewesen wäre, die nicht so verschlissen war wie meine. Für die meisten Mädchen in der Klasse war er einer der beliebtesten Jungen, zu dem man aufsah und mit dem man befreundet sein wollte. Ich verstand nicht, warum er sich ausgerechnet für mich interessierte, es schmeichelte mir aber sehr.

Er ging mit mir Pizza oder Eis essen, ins Kino oder lud mich ins Schwimmbad ein. Er kaufte mir eine Kette und Ohrringe zu Weihnachten und beschämte mich, weil ich ihm außer einem Gedicht, das ich für ihn geschrieben hatte, nichts schenken konnte. Zum Glück war er begeistert. Er sagte, dass ich ausgezeichnet dichten könne, und auf jeden Fall später etwas daraus machen solle. Er sorge dafür, dass wir später ein großes Haus hätten, in dem ich dann mein eigenes Arbeitszimmer bekäme. Das waren Illusionen, aber ich fand schön, dass er solche Träume mit mir hatte. Er vermittelte mir oft das Gefühl, dass ich ihm wichtig war, etwas Besonderes, und er mich gerne in seiner Nähe hatte. Gefühle, die mir nie zuvor ein Mensch entgegenbrachte. Er war wie ein Schatz, den man für die Ewigkeit hüten und immer bewahren wollte, so ging es mir mit Marvin.

Wir kannten uns einige Zeit, hatten schon miteinander geschlafen und immer aufgepasst. Mein Freund entdeckte beim Petting eines Nachmittags einen großen blauen Fleck an meinem Oberschenkel und erkundigte sich, woher der stamme? Als ich aufspringen und gehen wollte, hielt er meine Hand fest, zog sein Shirt hoch und sagte:

»Hey, Miriam, schau, ich habe so etwas auch. Das macht mein Vater, wenn er betrunken abends vom Bau kommt, und meine Mutter verschont bleibt von seinen Fäusten, was mir lieber ist. Er soll lieber mich verprügeln als sie. Ich kann mehr einstecken. Sonst ist er eigentlich ganz umgänglich, man bekommt alles von ihm, nur wenn er getrunken hat, fällt es ihm schwer, seine Wut zu kontrollieren. Dann reicht eine Kleinigkeit, worüber er sich auf der Arbeit geärgert hat, die er runterspült und mit heimnimmt, oder eine Sache, die meine Mutter oder ich vergessen haben zu erledigen, und dann rastet er völlig aus. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, das Thema wird bei uns unter den Teppich gekehrt, und darüber darf nichts nach außen getragen werden. Es gibt auch genügend gute Tage im Monat, in denen er gar nicht trinkt. Die überwiegen und deswegen fällt es leichter, seine Trinkphasen durchzustehen. Man muss das positiv sehen, sonst würde man daran zu Grunde gehen, was aber nur etwas für Feiglinge und Weicheier ist. Ein echter Kerl kennt keinen Schmerz und steckt so etwas locker weg. Frauen sind zerbrechlichere und zartere Wesen, die darf man nicht schlecht behandeln. Wer hat dir das angetan Süße, deine Mutter? Klar, wer sonst, Vater hast du ja keinen und warum macht sie das? Was ist eigentlich mit deinem Vater, kannst du zu ihm nicht Kontakt aufnehmen, bevor deine Mama härter zuschlägt und dir etwas Schlimmeres zustößt? Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich, bitte rede doch mit mir! Du kannst mir vertrauen und alles erzählen. Ich werde niemanden davon etwas sagen, das verspreche ich dir, aber bitte antworte mir!«

Ich begann zu weinen und beichtete ihm:

»Mein Vater hat sich meinetwegen vor Jahren umgebracht, und meine Mutter fing deshalb an zu trinken. Sie schlägt oder tritt mich, wenn es nicht nach ihrer Façon läuft, und genau das war vorgestern mal wieder so. Das kommt oft vor, und ich wage mich kaum noch in ihre Nähe.«

Nach meinen Worten hatte auch Marvin feuchte Augen, schloss mich fest in die Arme, und versprach, mich in Zukunft zu beschützen. Er begleitete mich öfter nach Hause, damit ich ihr seltener alleine begegnen musste. Sie war ihm gegenüber auch nicht höflicher als zu mir, er wurde genauso angepöbelt und angegiftet wie ich, aber ihn oder mich anzugreifen wagte sie dann nicht. Mir blieben dadurch einige Prügel erspart. Das Gefühl, dass jemand auf mich aufpasste, wie Marvin es tat, war ebenfalls eine neue Erfahrung für mich. Endlich gab es mal jemanden, der um mich besorgt war, und bei dem ich nichts dafür leisten musste. Ich verliebte mich ihn und wir schliefen sehr oft miteinander. Da ich aus Geldmangel keine Pille nahm, verhüteten wir mit Kondomen, und wenn er keine mehr hatte, gaben wir acht. Der Tag, an dem das schiefgehen musste, war quasi vorprogrammiert. Marvin kam in mir, und wir schauten uns mit weit aufgerissenen Augen an. Ich geriet in Panik, er beruhigte mich und sagte, es sei schon nichts passiert. Meine nächste Menstruation käme garantiert und ich solle keine Angst haben. Als ich mich entspannt hatte, dachten wir sogar darüber nach, wie es werden könnte, wenn ich schwanger sei, und amüsierten uns über meinen dicken Bauch und die Übelkeit, die dann kommen könnte. Der erste Schreck war vergessen, ich war ebenfalls sicher, dass alles gutging.

Meine Periode ließ auf sich warten, worüber ich mit meinem Freund sprach. Er schob einen Frauenarzt Termin auf, den ich bereits vereinbart hatte, und meinte, dass ich die Blutung schon bekäme. Der Leistungsdruck der letzten Klassenarbeiten sei bestimmt zu hoch gewesen. Sie werde wohl in Kürze kommen, was ich selbst feststellen werde. Lernstress, muss ich ehrlich gestehen, hatte ich nicht, meine sprachlichen Defizite existierten auch in den weiteren Schuljahren, und somit gehörte ich nicht zu den Klassenbesten. Ich war im Gegensatz zu Marvin nicht davon überzeugt, den Hauptschulabschluss zu schaffen, da der Schulwechsel von einer Schule mit Lernförderung auf die Hauptschule nicht zu besseren Noten beigetragen hatte. Ich fühlte mich mit dem Lehrstoff oft überfordert, und hätte Marvin mit seiner Engelsgeduld sich nicht so bemüht, mit mir zu pauken, bis ich endlich verstanden hatte, wären meine Benotungen noch um einiges schlechter ausgefallen. Ich verstand viele Sachen nicht auf Anhieb, mein Wortschatz war nicht sonderlich groß, und Rechnen war nie etwas für mich. Ihn störte das nicht, er meinte oft, dass er später das Geld verdienen werde, und ich andere tolle Qualitäten besäße und munterte mich damit wieder auf. Er war ein richtiger Charmeur und wusste genau, wie er für mich die Sonne wieder scheinen lassen konnte. Ich konnte mir, obwohl ich so jung war, ein gemeinsames Leben mit ihm gut vorstellen und war fest davon überzeugt, dass er mich nie verletzen, enttäuschen oder betrügen würde. Marvin war anders, mein Prinz, von dem ich immer geträumt hatte und den Mutter mir nicht gönnte. Wir waren unzertrennlich, beide hübsch, nichts stand unserer Liebe im Weg oder konnte sie zerstören. Wir waren das Traumpaar der Klasse. Im Vergleich zu anderen Beziehungen hielt unsere schon über zwei Jahre, und wir waren beide über fünfzehn, fast erwachsen sozusagen, wie wir uns immer sagten. Mein Freund wollte zuerst seinen Hauptschulabschluss und dann eine Lehre machen, irgendein Handwerk erlernen. Was genau, konnte er nicht sagen, Maler und Lackierer oder Fliesenleger gefiel ihm. Mir imponierte es, dass er schon feste Vorstellungen von der beruflichen Richtung hatte, und es vermittelte mir ein Gefühl von Sicherheit. Er war wesentlich strukturierter und orientierter als ich. In drei Jahren würde ich volljährig sein und hatte bisher gar keine Vorstellung davon, was ich mal werden könne, außer Gedichte schreiben konnte ich nichts besonders gut, und damit als Erwachsene meinen Lebensunterhalt auf die Dauer bestreiten zu können, bezweifelte ich. Aber ich hatte ja ihn, auf den ich mich voll und ganz verlassen konnte, und deswegen machte mir die Ungewissheit keine Angst. Ich wollte ohne Stress alles in Ruhe auf mich zukommen lassen, was das Leben für mich noch bereithielt. Dass es irgendetwas beruflich für mich in der Zukunft auch mit weniger guten Noten gäbe, glaubte ich schon und war zuversichtlich.

Ich dachte oft, dass jeder Mensch auf der Welt für etwas bestimmt sei und ein besonderes Talent besäße. Vielleicht könnte ich mit meinen Gedichten berühmt werden? Nein, den Gedanken verdrängte ich rasch, da es vermessen war, anzunehmen, dass die Gedichte so herausragend waren, dass sie eine Vielzahl von Menschen ansprechen, berühren und begeistern könnten. Aber wer weiß, es war doch denkbar, eine größere Lesergruppe dafür zu finden und damit Geld verdienen zu können, das dann mit zur Sicherung unseres Lebensunterhaltes beitragen könnte. Ich war auch bestrebt, meinen Anteil in unserer Partnerschaft zu leisten, der zu einem unbeschwerten Alltag führen konnte. Es war doch immer die finanzielle Not, die die Existenzangst auslöste und meine Mutter zur Verzweiflung trieb. Wenn wir nur einmal eine Zeit gehabt hätten, in der es genügend Geld zum Einkaufen ihres Schnapses gegeben hätte, wäre sie wohl nicht zur Alkoholikerin geworden, redete ich mir ein. Denn alles, was stets verfügbar und in unbegrenzter Menge vorhanden ist, führt in keine Abhängigkeit und wird schnell uninteressant. Dinge, die wir aber nicht immer und sofort bekommen, wenn wir Verlangen danach

haben, verursachen Unzufriedenheit, Panik und Vorratsdenken, die uns zu Taten veranlassen, die wir nüchtern nie begingen. Es gäbe auf der Welt auch weniger Suchterkrankungen, Kriminalität und Gewalt, wenn man alle zufriedenstellen würde, so glaubte ich damals. Es war eine mehr als naive Denkweise, aber ich wusste es damals nicht besser.

Tatort Kinderzimmer

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