Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 6
ОглавлениеMeine ersten Jahre
Ich heiße Miriam und habe vier meiner fünf Kinder getötet. Wenn ich nun im Weiteren meine Geschichte erzähle, beginne ich mit meiner Kindheit und Jugend, damit man mich besser kennenlernen kann.
Ich war alles andere als das Wunschkind meiner Eltern, und meine Mutter überlegte, mich abzutreiben, sobald sie von der Schwangerschaft erfuhr. Mein Vater hielt das auch für sinnvoll, da beide drogenabhängig waren, und sie sahen einen Säugling eher als Störfaktor an.
Kontakt zu unseren Großeltern gab es nicht, da meine Eltern früh an einer Überdosis starben, und die Familie meines damaligen Freundes sich für uns schämte. Wir waren in ihren Augen der letzte Abschaum.
Sie gaben mir die Schuld daran, dass ihr Sohn auch drogenabhängig war, und ignorierten mich, was sie mir mehr als deutlich zu verstehen gaben. Die Wahrheit war jedoch, dass mein Partner mich mit Drogen versorgte, die er schon lange vor dem Beginn unserer Beziehung konsumierte, was seine Eltern aber nicht wahrhaben wollten. Es musste ja eine Verantwortliche geben für die Abhängigkeit ihres Jungen, und ich als Jasons Freundin war genau die Richtige dafür.
Mein damaliger Freund verspürte unter dem Einfluss von Drogen, dass er frei war von sämtlichen Sorgen und dem Druck, der auf ihm lastete, alles erschien dann easy oder war ihm gleichgültig. Den Kopf einfach mal ausschalten, um nicht mit der eigenen Misere beschäftigt zu sein. Ein Satz, den ich in der Kindheit auch oft von meinen Eltern zu hören bekam, als Ausrede für ihre Sucht.
Meine Mutter erzählte mir als Kind dauernd, wie sehr sie durch die Schwangerschaft in ihren Lebensgewohnheiten eingeschränkt gewesen sei. Sie habe damals den Rat ihrer Frauenärztin beherzigt und mich ausgetragen. Im Nachhinein habe sie das sehr bereut, da bereits die Schwangerschaft mit mir der blanke Horror für sie war, und wofür sie mich schon hasste, obwohl ich noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte. Sie musste in der Schwangerschaft auf sämtliche Drogen verzichten, konnte nur wenige Zigaretten am Tag rauchen, und Alkohol sollte auch ein absolutes No-Go bleiben, was sie aber nicht immer schaffte.
Sie meinte später, dass es sehr schwer sei, von jetzt auf gleich auf alles meinetwegen verzichten zu müssen, und wollte sich nicht alles von mir nehmen lassen, wie sie mir einmal erzählte. Es reichte ihr damals schon, dass sie ständig an Übelkeit litt, sich in den ersten Wochen häufig übergeben musste und enorm zunahm. Das verursachte im weiteren Verlauf der Schwangerschaft starke Rücken- und Gelenkschmerzen und dicke Beine durch Wassereinlagerung.
Damit nicht genug, trat ich dann später auch noch ordentlich gegen ihren Bauch, worüber sie nicht erfreut war, und bewegte mich rege hin und her, was bei ihr Schmerzen verursachte.
Sie entschloss sich somit zu einem Kaiserschnitt und wollte keine Geburt auf natürlichem Wege, da ich genug in ihrem Bauch herumgetreten habe und sie keine weiteren Schmerzen wollte. Später sagte sie, dass es meinetwegen nicht möglich war, aufgrund meines Verhaltens im Mutterleib eine Bindung zu mir aufzubauen. Sie sprach selten mit mir oder streichelte ihren Bauch, und hatte gegen Ende der Schwangerschaft nur das Ziel vor Augen, den Fremdkörper, der nicht zu ihr gehörte, wieder aus ihrem Bauch zu bekommen, erklärte sie mir einmal. In solchen Augenblicken, wenn über mich wie über einen bösartigen Tumor berichtet wurde, fühlte ich mich einfach nur falsch und nicht angenommen. Ich habe das viele Jahre später einige Male in ihrer Gegenwart angesprochen, und ihr meine Emotionen, wie es sich anfühlte, wenn in meiner Anwesenheit so über mich gesprochen wurde, mitgeteilt, woraufhin sie mir nur die Antwort gab, dass es nun mal der Wahrheit entspreche, dass ich unerwünscht war. Sie wisse, dass das ein Kind nicht hören wolle, aber sie habe lediglich erzählt, wie sie es damals empfand.
Als ich zur Welt kam, standen mir als Erstes ein Nikotin- und Alkoholentzug bevor, da meine Mutter keineswegs während der Schwangerschaft auf das Rauchen und Trinken verzichtete, sondern mir täglich diese Giftstoffe zugeführt hatte. Sie wunderte sich sehr oft, dass meine Lippen im Vergleich zu anderen Babys sehr dünn waren, dass ich oft und lange schrie und weinte, nicht zur Ruhe fand und dabei krampfte.
Die Ärzte versuchten dann, ihr zu erklären, dass das typische Anzeichen für ein fetales Alkohol Syndrom (FAS) sind, die immer zu einer körperlichen und geistigen Beeinträchtigung in der weiteren Entwicklung des Babys führen. Ob bedenklich oder weniger ausgeprägt, könne man erst im Laufe der Kindheit erkennen, und das sei abzuwarten.
Verstanden hat das meine Mutter Diana damals nicht, und sie sagte lediglich, dass sie sich dann wohl auf einen Alltag mit einer Missgeburt einstellen müsse, was ihr gerade noch gefehlt habe. Sie bedauerte sich darum, mich ausgetragen zu haben, und war überzeugt, dass es falsch war, und der liebe Gott sie nun dafür bluten lasse. Weil ich als Baby mit meinem Geschrei, das meine Eltern kaum aushielten, ständig auf mich aufmerksam machte, kam es vor, dass sie mich in ihrer Zweizimmer-Wohnung im Bad in die Wanne legten und mich weinen ließen. Das war der ruhigste Raum, er besaß kein Fenster, und so hatten sie im Wohnzimmer wenigstens Ruhe vor mir. War ich jedoch auch bis dorthin zu hören, drehten sie die Musikanlage so laut auf, bis kein Laut von mir mehr zu vernehmen war. Dann machten sie es sich auf der Isomatte auf dem Fußboden mit ihren Joints gemütlich und genossen die Musik. Durch die Lethargie, die Haschisch oft herbeiführt, kam es auch vor, dass sie vergaßen, mich zu füttern, und Mahlzeiten für mich komplett ausließen und auch nicht nachholten. Geschadet hat mir das aber nicht, meinte Mutter immer, da ich ja sowieso immer geweint und gebrüllt habe als Säugling, sie mir nichts recht machen konnte, und es anscheinend egal war, ob man mal ein Fläschchen vergaß oder nicht. Groß geworden sei ich ja trotzdem, und zu verdanken, dass ich mich so prächtig entwickelte, habe ich ausschließlich ihr, mein Vater habe sich gar nicht gekümmert.
Sie besaßen gar keine Babymöbel in der Wohnung, und als ich auf der Welt war, lag ich, wenn ich nicht in der Badewanne geparkt wurde, Tag und Nacht im Kinderwagen. Mich auf den Arm zu nehmen, meine Tränen zu trocknen und mich zu trösten, brachte sie nie übers Herz, da ihr der Bezug zur mir fehlte. Sie sagte, sie sei auch ohne Liebe von den Eltern aufgewachsen, und habe sich deshalb zu der kämpferischen Persönlichkeit entwickelt, die sie sei, und das sollte ich auch und nicht unnötig verhätschelt werden. Das sei der falsche Weg im Leben, solche Kinder wären später lebensuntauglich und besäßen kein Durchsetzungsvermögen. Das brauche man aber in so einer rauen und kalten Welt wie unserer. Meine Mutter habe alles richtig gemacht und mir das schon als Baby zu verstehen gegeben, indem sie mich stundenlang nur liegen ließ, wenn ich Angst, Hunger und Durst hatte oder eine Umarmung wollte. Wenn sie davon erzählte, fragte ich mich, weshalb sie mich überhaupt in die Welt gesetzt hatte, wenn sie mich nur als Last empfand?
Glaubt man ihren Worten, war sie mit allem überfordert, als ich ein Baby war, mit der täglichen Versorgung, dem Windelwechseln und den lästigen Arztbesuchen für Untersuchungen oder Impfungen. Liebe und Geborgenheit, ein primäres Bedürfnis eines Säuglings, blieben mir verwehrt.
Ich kann heute nicht beurteilen, wie es mir damit ging, da ich mich an die ersten fünf Lebensjahre kaum erinnern kann. Ob ich jemals einen Kindergarten besucht oder mit anderen Kindern gespielt habe, weiß ich nicht mehr. Ich kenne lediglich die Erzählungen meiner Mutter über diese Jahre, die alles sind, was mir von ihr geblieben ist.
Nachgedacht habe ich sehr oft darüber und beschloss, dass es meine Kinder eines Tages besser haben sollten. So sollten sie nicht aufwachsen und ich erkannte, dass meine Kindheit weder etwas mit normaler Erziehung zu tun hatte, noch eine Liebevolle war. Was meine Mutter mir antat, fühlte sich falsch an. Dadurch wuchs in mir sehr früh der Wunsch nach einer eigenen kleinen Familie, in der alles harmonischer und gefühlvoller verlaufen sollte. Für meine Eltern war ich ein Gegenstand, der entfernt wurde, wenn er im Weg stand, dem man keine Beachtung schenkte, da er zu nichts zu gebrauchen war.
So erkläre ich mir das Verhalten meiner Mutter, und es klingt plausibel. Ein Säugling ist ja hilflos, er kann sich nicht selbst versorgen und die Erziehungsberechtigten müssen alle Aufgaben übernehmen. Ein Baby bedeutet Stress und führt dazu, dass das Leben vollständig umorganisiert und umgekrempelt werden muss. Der Alltag erfordert Kraft und Struktur.
Die Besuche vom Jugendamt empfanden sie als lästig und nahmen die Hilfsangebote nur wahr, wenn die Sachbearbeiter Druck machten und es keine Alternativen gab.
Bei Hausbesuchen zeigte man ihnen die einfachsten Sachen, wie mich trocken zu legen und meine Wunden einzucremen. Sie wiesen meine Eltern auf mehr Ordnung in der Wohnung hin. Meine Eltern mussten häufig Termine beim Jugendamt oder bei uns zu Hause wahrzunehmen.
Die Mitarbeiter des Jugendamtes waren in den Augen meiner Mutter schreckliche Menschen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, sie als Versagerin abzustempeln und mich aus dem Haushalt zu nehmen. Dass die Besuche und Gespräche aber nicht stattfanden, weil die Sachbearbeiter nichts Besseres zu tun hatten und ihr etwas Böses wollten, sondern es hier ausschließlich um mein Kindeswohl ging, das gefährdet war, wollten sie nicht wahrhaben. In ihren Augen waren es schlechte Sachbearbeiter, die selbst keine Kinder haben konnten, unfähig waren und nun einfach ihres haben wollten. Sehr makaber, solch eine Auffassung, aber Realität, denn an ihrer Meinung hielten sie jahrelang fest. Der zweite Schuldige nach mir war gefunden und hieß Jugendamt.
Nach solchen Erzählungen beschäftigte mich sehr, weshalb ihr so daran gelegen war, dass ich weiterhin zu Hause bliebe, anstatt mich in ein Heim oder an fürsorgliche Pflegeeltern abzugeben. Gefühle konnte sie mir nicht entgegenbringen, die Realität nicht akzeptieren, dass ich da war, und besaß dennoch den Drang, mehr schlecht als recht mein tägliches Leben sichern zu wollen. Heute erkläre ich es mir häufig so, dass man ihr ebenfalls weder Zuneigung noch Aufmerksamkeit als kleines Mädchen entgegenbrachte, und dass man nur sehr schwer etwas weitergeben kann, was man selbst nie erfahren hat. Sie lernte früh, auf sich alleine gestellt zu sein, entwickelte dadurch eine Überlebensstrategie, was alles war, was sie an mich weitergeben konnte und ihr geläufig war. Der Mensch ist immer das Produkt seiner Eltern, geprägt von den Erfahrungen in der Kindheit, die ihm von den Eltern mitgegeben werden.