Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 9
ОглавлениеDie Mutter-Kind-Einrichtung
Meine Mutter hatte sich für die Zukunft einiges vorgenommen und mir viel versprochen. Oft versagte sie aber schon bei ganz alltäglichen Dingen. Ich verbrachte mit ihr nun fast drei Jahre in der Einrichtung. Zu Beginn der Zeit, die wir dort verlebten, besuchte ich einen heilpädagogischen Kindergarten, um die Entwicklungsdefizite auszugleichen und aufzuholen, die ich durch meinen geringen Wortschatz aufwies. Die Chancen waren nach Ansicht der Erzieher recht gut. Es ging zunächst darum, mich kontinuierlich in den Kindergarten zu schicken. Damit war meine Mama schon überfordert. In der Mutter-Kind-Einrichtung gab es Vorschriften, die Mütter erhielten Unterstützung von Fachkräften, Strukturen zu erlernen, die Bereitschaft dazu musste aber von jeder selbst kommen, die mit ihren Kindern dort lebte. Darauf konnten die Fachkräfte keinen Einfluss nehmen, zumal es ja junge Erwachsene waren, denen nichts Unmögliches abverlangt wurde. Mama scheiterte jedoch, da ihr selbst einfache Aufgaben zu viel waren, nahm nun auch immer mehr zu, aß sehr viel und verbrachte ihre Zeit am liebsten vor dem Fernseher in unserem Zimmer. Sie nahm Unmengen von Chips oder Süßigkeiten zu sich und wollte von mir nicht gestört werden.
Ich lernte, still neben ihr zu sitzen und mich nicht vom Fleck zu bewegen. Wenn es mir erlaubt wurde, beschäftigte ich mich alleine oder spielte mit anderen Kindern. Im Laufe der Zeit hatte sie so viel an Gewicht zugenommen, dass es ihr nach wenigen Monaten schon nicht mehr gelang, mir tägliche Mahlzeiten zuzubereiten, mich morgens zum Kindergarten zu bringen oder Ihre Termine beim Therapeuten wahrzunehmen. Am Anfang hatten sich die Pädagogen noch darum bemüht, neue Therapieplätze für sie zu bekommen. Da meine Mutter alle Therapeuten für primitiv hielt und als anstrengend empfand, ging dem Fachpersonal nach dem vierten Versuch, einen Psychotherapeuten/-in zu finden, der Atem aus.
Sie hielten sie immer öfters zu mehr Eigeninitiative an und ermahnten sie, sich morgens die Zähne zu putzen, duschen zu gehen, mich zur Kita zu bringen, zu kochen oder Wäsche zu waschen. Alles Dinge, die meine Mutter im Alltag kaum noch leisten konnte und auch nicht wollte.
Manchmal roch sie so streng nach Schweiß, dass ihr ans Herz gelegt wurde, mal wieder ein Bad zu nehmen, da die Geruchsbelästigung, die auf ihre mangelnde Körperhygiene zurückzuführen war, gerade in den Sommermonaten kaum zu ertragen war. Mama war eine Zumutung für die übrigen Mitbewohner. Sie fasste das sofort als Angriff auf, schrie herum, dass man immer etwas an ihr auszusetzen habe, und die Wohngruppe schlimmer als ein Gefängnis sei. Dann schloss sie sich auch schon mal den ganzen Tag mit mir in unserem Zimmer ein, um Ruhe vor den Appellen zu haben. Einfach war das nicht, da ich mich nicht nur ruhig in ihrer Gegenwart zu verhalten hatte, sondern mir auch jegliche Möglichkeit genommen wurde, mit anderen Kindern zu spielen, die ich sehr liebgewonnen hatte.
Die ersten beiden Jahre, in denen ich auf eine Schule für Kinder mit Lernbeeinträchtigung ging, durfte ich sie selten stören und um Hilfe bitten. Ich hatte sehr schnell gelernt, den Schulweg alleine zu gehen, was meine Mutter sehr gut fand, da sie morgens in Ruhe ausschlafen konnte. Kleine Aufgaben konnte ich auch schon übernehmen und machte mir im zweiten Schuljahr sogar meine Pausenbrote selbst. Ich räumte unser Zimmer auf, wenn ich wieder einmal angeschrien wurde, dass es katastrophal aussähe, und ich müsse endlich mithelfen und eigenständiger werden. Ich bemühte mich sehr und konnte ihr immer mehr Aufgaben in der Wohngruppe abnehmen.
In die Schule ging ich sehr gern, hatte einige Freundschaften geschlossen, und wandte mich bei Fragen zu den Hausaufgaben an Gleichaltrige, da ich in der Einrichtung keine Umstände machen wollte. Die Sozialpädagogen, die genug Arbeit mit den Mitbewohnern hatten, wollte ich nicht fragen und meine Mutter nicht stören. Ich hatte einmal einen Versuch unternommen, von ihr Unterstützung bei einer Rechenaufgabe zu erhalten, woraufhin sie mir das Hausaufgabenheft mehrmals auf den Kopf schlug, es zerriss und mich in scharfem Ton angiftete:
»Miriam, siehst du nicht, dass ich Fernsehen schaue, jetzt nicht. Denkst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als dir bei so einem Unsinn zu helfen, den ein Erwachsener später im Leben zu nichts gebrauchen kann. Das ist nicht wichtig, verstehst du? Was im Leben zählt, ist Müll hinausbringen, das Zimmer säubern und deiner Mama Brote schmieren, wenn sie es verlangt. Hast du das verstanden? Nur das ist relevant, also lasse mich mit diesen kindischen Sachen in Ruhe, du brauchst keine Schulaufgaben zu machen. Notwendig ist, dass du erwachsen wirst und Mama nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit belästigt, weil du lebensunfähig bist. Ein Baby kann das erwarten von seinen Eltern, jedoch keine Zweitklässlerin mehr, auch wenn es bequem ist. Ich hoffe, wir haben uns verstanden und nun geh und lass mich alleine!«
Nach dieser Ansage habe ich nie wieder den Mut aufgebracht, sie um Rat zu bitten. Ich suchte ihn mir woanders, um die Hausaufgaben in der Schule vorzeigen zu können, und wollte sie kein weiteres Mal damit so in Rage bringen. Ich machte sehr gute Fortschritte in der Schule, und auch von meiner Mutter glaubte man das, da öfter aufgeräumt war, der Müll entsorgt wurde, und ich jeden Tag nun wieder pünktlich zur Schule ging. Ich hielt mich an die Abmachungen und Versprechen, die mit Mutter vereinbart waren.
Die Fachkräfte kamen zu der Überzeugung, dass Struktur nun kein Fremdwort mehr für sie war, und schlugen ihr vor, dabei behilflich zu sein, eine eigene Wohnung für uns zu finden, allerdings unter der Bedingung, dass sie ihren Hauptschulabschluss nachhole, wenn ich in der Schule war. So sei sie beschäftigt und könnte später eine Ausbildung machen. Sonderlich begeistert war meine Mama nicht, willigte aber ein, da sie nichts lieber wollte, als aus der Einrichtung herauszukommen und wieder ihre eigenen vier Wände zu haben. Auf dieses Ziel konnte sie systematisch hinarbeiten, ging pünktlich zum Unterricht für ihren Schulabschluss, der bereits vor unserem Auszug auf den Weg gebracht wurde, und schmierte mir sogar öfters Pausenbrote, obwohl ich das längst alleine konnte. Sie spielte die verantwortungsbewusste und fürsorgliche Mutter, ging mit mir Eis essen und gelegentlich ins Kino und spielte auch mal mit mir. Dass das nicht aufrichtig gemeint war, ließ sie mich schon auf meinem Schulweg wissen, als sie äußerte:
»Ich kann den Tag kaum erwarten, an dem wir unsere eigene Wohnung haben. Mir gehen die Pädagogen und die Schule gehörig an die Substanz, und das ist das Erste, was ich hinwerfen werde, wenn wir hier ausgezogen sind. Dann weht ein anderer Wind und ich kann den lieben und langen Tag wieder tun und lassen, was ich möchte. Endlich keine Vorschriften mehr! Es ist auf die Dauer kräftezehrend, immer vorzugeben, dass ich alles Alltägliche organisieren kann und zuverlässig geworden bin. Ich habe keine Vorstellung davon, wie lange das noch gehen soll und ich durchhalten muss. Ich hoffe nur, dass sich mein Einsatz auszahlt. Sonst waren meine Bemühungen umsonst, aber es wird bestimmt schon klappen. Du musst dann aber auch wieder aktiver werden, der Urlaub ist dann vorbei, Miriam, und du solltest mehr leisten zu Hause. Ich kann mich nicht um alles kümmern, und Kinder sollen auch ihre Pflichten erfüllen. Ich habe dann genug zu tun und kann mir nicht jeden Tag auch noch mit dir die Zeit vertreiben und dich bespaßen. Ich hoffe, du verstehst das, und dass das unter uns bleibt!«
Ich gab mein Wort, redete mit niemandem darüber und hoffte, dass ich in der Zukunft nun bald wieder alleine meinen Schulweg laufen könnte. Es war sehr beängstigend, dass sie mich nur noch kritisierte, und ihren ganzen Frust an mir ausließ, wenn sie mich zur Schule begleitete. Es war an vielen Tagen kaum zu ertragen, jedoch wagte ich nicht, etwas dazu zu sagen. Mich brachte das einige Male innerlich so auf, dass ich vor lauter Zorn fluchte. Ich dachte dann nur, dass sie hoffentlich demnächst mit mir in eine eigene Wohnung zöge, und ihr Gestöhne und Gejammer über Gott und die Welt aufhören werde. Die Ruhe auf meinem Weg zur Schule wollte ich wieder genießen. Mutter wühlte mich nämlich oft sehr auf und verursachte eine enorme Anspannung und Nervosität in mir, die ich mir als Kind weder erklären, noch regulieren konnte. Ich kam angespannt zum Unterricht, wenn sie mich begleitet hatte, und dieser Zustand hielt an, bis sie mich nach Schulschluss abholte, um mir auf dem Rückweg erneut ihr Leid zu klagen.
Ich schluckte alles herunter, hörte ihr zu und antwortete ihr, wenn sie mich etwas fragte. Es war anstrengend, auf dem langen Schulweg die Konzentration nicht zu verlieren und ihr permanent zuzuhören. Alles drehte sich um ihr Leben, das so ungerecht verlief. Sind Pädagogen, Sachbearbeiter oder ich die Verantwortlichen dafür gewesen? Kein einziges Mal war sie dazu im Stande, Gründe für ihr häufiges Versagen bei sich selbst zu suchen und sich ihre Fehler einzugestehen. Das machte mich wütend. Heute denke ich oft, dass das wahrscheinlich bequemer war und der Weg des geringsten Widerstandes. Wäre es anders gewesen, hätte sie sich ja damit auseinandersetzen, Probleme, die auftraten, analysieren, und sich um Lösungsvorschläge bemühen müssen. Eine Alternative, die großen Kraftaufwand benötigte, den meine Mama weder aufbringen konnte noch ernsthaft in Erwägung zog. So war es doch einfacher und die Schuldigen für ihre eigene Misere waren schnell gefunden. Was das für mich bedeutete, bedachte und berücksichtigte sie dabei nicht. Ich war ihr Mülleimer, in den sie ihren Ballast warf, das machte sie gerne und auch dann, wenn er schon übervoll war, und dringend hätte geleert werden müssen. An manchen Tagen, wenn sie feststellte, dass mein Mülleimer übervoll war, und ich Wut auf sie entwickelte, nahm sie sich zurück und wartete, bis es mir wieder besser ging.