Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 11

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Alkoholsucht

Im Laufe meines dreizehnten und darauffolgendes Lebensjahres trat eine gravierende Veränderung ein. Meine Mutter hatte einiges an Gewicht verloren, und aß im Vergleich zu früher auch viel weniger. Sie äußerte eines Tages, dass sie wieder bestrebt sei, ein normales Gewicht zu erreichen, früher auch schlank war, und dass sie sich selbst im Spiegel nicht mehr sehen könne. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder ihr Normalgewicht hatte. Trotzdem nahm sie immer weiter ab.

Ich grübelte oft, ob sie eine schwere Krankheit bekommen habe und deshalb immer dünner wurde, mir das jedoch verschwieg, um mich nicht zu beunruhigen?

An einem Nachmittag nach der Schule wollte ich meinen ganzen Mut zusammennehmen und ihr meine Ängste und Bedenken mitteilen, aber das Gespräch darüber erübrigte sich. Ich fand meine Mutter mit Wodka in der Hand am Küchentisch sitzend vor und stellte fest, dass sie sturzbetrunken war.

Ich konnte kein Wort sagen, starrte sie an und sie schrie los: »Was schaust du denn so? Das habe ich auch früher regelmäßig mit deinem Vater gemacht, und das hat uns alle Sorgen vergessen lassen. Ich bekomme ihn nicht aus dem Kopf, am liebsten würde ich hinterhergehen. Mein Leben ist so sinnlos ohne ihn geworden, er war das Liebste, was ich besaß. Es ist schon so lange her, dass er tot ist, und es gibt keinen Tag, der ohne ihn für mich erträglich ist, verstehst du? Der Alkohol hilft mir, alles zu vergessen und mich nicht permanent an Jason zurückerinnern zu müssen. Also sieh mich nicht so vorwurfsvoll an und geh´ mir aus den Augen!«

Sie stand auf und wankte ins Schlafzimmer, um sich schlafen zu legen. Mir flogen hunderte Gedanken durch den Kopf. Wie lange das schon ginge, wozu es führen könne, ob sie nun bald auch wieder mit härteren Drogen beginne und ob das ihr Untergang sei?

Mir war schlecht, ich brauchte frische Luft und irrte ziellos in der Gegend umher. In den nächsten Monaten verstärkte sich ihr Trinkverhalten massiv und ich traf sie immer seltener nüchtern zu Hause an. Der Kühlschrank blieb oft leer, und ich musste ihr immer neuen Wodka und Zigaretten vom Kiosk besorgen. Sie verließ kaum noch das Haus, wurde im Rausch aggressiver und vergriff sich an mir oder an den wenigen Möbeln, die wir besaßen. Unsere Bleibe war von Anfang an nicht besonders schön, ärmlich mit gebrauchten Möbeln eingerichtet, und das Alter sah man ihnen mittlerweile an. Ich habe mich immer geschämt und lud nie Klassenkameraden zu uns ein, da die Wohnungen meiner Mitschüler luxuriöser waren als die, in der ich hauste.

Ich bekam bei meinen Freunden auch oft eine warme Mahlzeit nach der Schule, wenn ich weder Frühstück noch Mittagessen im Bauch hatte und gefragt wurde, ob ich mitessen wolle? Solche Angebote nahm ich häufig an, da warme Mittagessen selten waren, ich nie wusste, wann ich das nächste Mal etwas essen durfte, und immer Hunger hatte. Mich vermisste daheim nach Schulschluss auch niemand, aber in meiner Klasse war ich ein sehr beliebtes Mädchen. Ich war sehr hübsch, zurückhaltend und rücksichtsvoll, und das kam auch bei den Eltern meiner Mitschüler gut an, und man lud mich gerne ein.

Ich schwänzte nun auch seltener die Schule, immer in der Hoffnung, noch bei Freunden nach Unterrichtsschluss etwas zu Essen zu bekommen. Einigen Klassenkameraden war aufgefallen, dass ich nie ein Frühstücksbrot mitbrachte, und sie packten für mich morgens auch eins ein, das ich dann in der Pause erhielt. Häufig waren es Jungs, die mir imponieren und mich zur Freundin haben wollten. Da ich keinen vor den Kopf stoßen und ihre Gefühle verletzten wollte, ging ich dann eine Zeitlang mit ihnen, bis ich zu langweilig wurde, und sie Interesse an einem anderen Mädchen fanden. Traurig darüber war ich selten, da keiner darunter war, der mir das Herz brechen konnte. Einige hatten zwar schon Liebeskummer, der mir aber erspart blieb, und worüber ich sehr erleichtert war. Ich hatte schon genug Probleme zu Hause, da war Trennungsschmerz das letzte, was ich gebrauchen konnte. Durch die Trinkerei meiner Mutter und ihre Gewaltausbrüche traute ich mich immer häufiger nicht heim.

Manchmal hatte ich nach der Schule kaum die Wohnungstür aufgeschlossen, schon erhielt ich die erste Ohrfeige, einen Tritt oder sie warf meinen Rucksack durch den schmalen Flur. Ich solle nun gefälligst zum Kiosk laufen, ihre Sachen besorgen und es sei eine Dreistigkeit, sie solange warten zu lassen, meinte sie dazu. Man könne sich nicht auf mich verlassen, viel lieber triebe ich mich in der Weltgeschichte herum und sehe Löcher in die Luft. Eine Träumerin eben, ohne Bereitschaft, als Erwachsene Verantwortung für die Mutter zu übernehmen. Hatte sie dann ihren Schnaps, schwächte sich ihr Zorn gegen mich trotzdem nicht ab, und es gab weiterhin Prügel oder Geschrei. Ich ging immer seltener nach Hause. Andere Male hatte ich Glück, sie schlief tief und fest, und ich konnte ganz in Ruhe duschen und mich umziehen und verschwand dann wieder.

Alle meine Schulbücher trug ich immer bei mir und es fehlte selten etwas, was ich nachträglich von zu Hause holen musste. Ich wünschte mir oft, selbst zum Schlafen nicht mehr zurückzumüssen, was aber leider nicht möglich war, und für mich oft einen Weg in die Hölle bedeutete. Gute Tage gab es bei ihr so gut wie gar nicht. So kam es vor, dass ich selbst spät abends keine Ruhe vor ihr fand und sie die ganze Nacht fluchte. Ich ertrug es, bis sie keine Kraft mehr dazu hatte, und Widerstand hätte mir nur noch mehr Ärger eingebracht.

Die Wochenenden waren das Schlimmste für mich, keine Chance auf etwas Essbares oder Ausweichmöglichkeiten zu Mitschülern. Mir blieben nur der Park und der Spielplatz, diese auch nur zeitlich begrenzt, da ich Mutter nicht erneut mit meinem Fernbleiben in Rage bringen wollte. Ich konnte mich noch so sehr bemühen, ihrer Ansicht nach war es immer falsch und Anlass dazu, mich physisch und psychisch zu attackieren. Von der Suchterkrankung meiner Mama und ihren Ausbrüchen mir gegenüber erzählte ich niemanden, da es mir peinlich war und aus Furcht, sie dann zu verlieren. Dann lieber so, keine Aufmerksamkeit auf ihre Misere lenken und ihr unnötig Druck verursachen. Ich war immerhin über vierzehn Jahre alt und zuversichtlich, dass ich die wenigen Jahre bis zur Volljährigkeit auch noch überstehen werde. Ich muss nur noch ein paar Jahre durchhalten und der Albtraum ist beendet, sagte ich mir.

Als Jugendliche fühlte ich mich oft wie die Fünfjährige von damals, die mit ihren Eltern auf der Straße lebte: Das Essen bei meinen Mitschülern, Gaben von der Tafel oder die Dusche am Bahnhof, nur um schnell von einem zum nächsten Halt zu hasten, um keinen Ärger zu bekommen.

Eine seltsame Art heranzuwachsen, und alles andere als behütet. Alternativen hatte ich nicht und musste mich mit den Gegebenheiten abfinden, dass der Wodka meine Mutter fest im Griff hatte. Natürlich bestand die Möglichkeit, mich mit ihrem Problem an vertrauensvolle Erwachsene zu wenden. Wohin hätte das dann jedoch geführt? In eine Wohngruppe für Jugendliche in meinem Alter, in der ich meine letzten Jahre bis zur Volljährigkeit verbracht hätte. Mit festen Regeln, Kontaktverbot zu meiner Mutter und der Ungewissheit, ob sie sich schon totgetrunken habe?

Nein, so war es sinnvoller und einfacher für mich, zu überprüfen, ob sie noch lebte. Sie war oft grausam und gemein zu mir, daran war jedoch der Alkohol schuld, den sie in großen Mengen konsumierte, aber das führte noch längst nicht dazu, dass ich ihr den Tod wünschte. Sie sollte dableiben und in wenigen Jahren endlich das Leben führen können, das sie sich für sich selbst so sehr wünschte. Ich war davon überzeugt, dass das kommen werde, sobald ich gar nicht mehr auf sie angewiesen sei und sie sich ausschließlich um ihre eigenen Belange kümmern und sorgen müsse. Manchmal betete ich auch dafür, dass sie das hoffentlich noch erleben würde und ihre Suchterkrankung ihr keinen Strich durch die Rechnung machte. Der Alkohol ist eine Droge, die sehr leicht zu beschaffen ist und kein Vermögen kostet, aber die Organe angreift und im Laufe der Zeit immer zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt. Ein Sterben auf Raten, nannte ich es gern.

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