Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 7

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Obdachlos

Ich war fast fünf Jahre alt, berichtete meine Mutter, als meine Eltern die Nase von den permanenten Vorschriften des jeweiligen Sachbearbeiters gestrichen voll hatten. Das Jugendamt brachte einen Gerichtsprozess auf den Weg, um ihnen dauerhaft das Sorgerecht zu entziehen, was sie unter allen Umständen verhindern wollten. Meine Erziehungsberechtigten entschlossen sich, nachdem sie vom bevorstehenden Gerichtsprozess Kenntnis erhielten, mit mir unterzutauchen und auf der Straße zu leben. Dort konnte sie niemand so schnell finden, und dort wollten sie sich durchschnorren.

Ein Dach über dem Kopf besaßen wir nun also nicht mehr. Mein Vater verbrachte viele Stunden tagsüber am Bahnhof, um Geld für Drogen und Lebensmittel zu erbetteln, und meine Mutter passte auf mich auf. Sie hatten sich im Sommer in einem alten, desolaten Gebäude, dem keiner mehr Beachtung schenkte und dessen Betreten verboten war, mit ein paar Decken eingerichtet. Mich hielt man stets dazu an, so wenig wie möglich zu reden, zu weinen oder etwas zu fragen, damit uns niemand hörte oder sah. Ich müsste sonst in ein Heim, wohin mich böse Menschen, die uns auffänden, bringen wollten, und ich würde meine Eltern nie wiedersehen.

Das heruntergekommene Fabrikgebäude war schrecklich und manchmal taucht es noch heute aus dem Nichts heraus in meinem Kopf auf. Dann ist alles wieder präsent, der Gestank nach Urin, der Müll, und die Mäuse und Ratten, die durch das Gebäude flitzten. In solchen Momenten fließt mir ein kalter Schauer über den Rücken, ich bekomme Gänsehaut, und mir wird immer noch mulmig, obwohl es so viele Jahre zurückliegt. Ich versuche, die Gedanken dann genauso schnell wieder zu verdrängen, wie sie präsent sind, was aber meist genau das Gegenteil von dem bewirkt, was ich eigentlich beabsichtige. Es kommen noch mehr Erlebnisse aus der Vergangenheit zum Vorschein, die mich quälen oder in mir das Gefühl auslösen, dass ich ersticken muss. Ich fühle mich wie gelähmt und bin ganz starr, wenn die Bilder durch meinen Kopf wandern. Meine Eltern erscheinen in den Flashbacks, wie sie sich in dem Gebäude anbrüllen, schlagen oder beschimpfen, wenn mein Vater ohne Drogen oder Nahrung vom Bahnhof zugedröhnt zurückkehrte. Er wird in diesen Bildern von meiner Mutter als unfähig, egoistisch und verantwortungslos hingestellt, da er nur an seine Ration gedacht habe, aber keinen nächsten Schuss für sie oder etwas zu Essen für mich mitgebracht habe. Hauptsache, seine Sucht sei befriedigt, der Rest interessiere ihn wohl nicht.

Sie schickte ihn mehrfach in die Wüste und machte Schluss. Dann gab es weder Stoff für sie, noch für mich etwas zu essen. Ich wurde mit Resten ernährt oder aufgefordert, selbst auf die Suche nach Lebensmitteln zu gehen. Die Aggressivität mir gegenüber steigerte sich auch enorm, wenn meine Mutter mal zwei Tage ohne Drogen auskommen musste. Sie trat und schlug mich mit der Aufforderung, nicht untätig rumzusitzen, sondern mich endlich auf den Weg zu machen, um ihr etwas zu besorgen. Getan habe ich das nie, da ich viel zu viel Angst davor hatte, ohne meine Eltern aufgegriffen zu werden, dann im Kinderheim hätte groß werden müssen und versteckte mich einfach am nächsten Abhang einer Böschung in der Nähe der alten Fabrik. Wenn Mutter so auf mich einprügelte, bis ich verschwunden war, wartete ich, bis sie sich beruhigt hatte, und ging erst dann zurück. Manchmal war es auch so, dass Vater zurückkam, Drogen und Essen organisieren konnte, und für sie wieder der beste Freund auf der Welt war.

Sie lagen sich dann zugedröhnt in den Armen, sagten sich liebe Worte, kuschelten miteinander, ließen mich links liegen und schenkten sich gegenseitig Aufmerksamkeit, während ich in diesem Alter keine Zuwendung erhielt. Das funktionierte dann bis zu den nächsten Eskalationen, bei denen auch meinem Vater öfter die Hand ausrutschte, und er im Streit und Zorn meine Mutter verprügelte. Seine Gewaltausbrüche nahmen immer mehr zu, die Erholung meiner Mutter dauerte immer länger und der Tag, an dem er sie fast totschlug, ließ nicht lange auf sich warten.

Er trat ihr bei einer Auseinandersetzung so oft gegen den Kopf und ihren Körper, bis sie nur noch regungslos am Boden lag, keinen Ton mehr von sich gab, und aus der Nase, den Ohren, und an der Stirn blutete.

Ihr Gesicht war vollständig zugeschwollen und ich schrie Vater an, er solle damit aufhören. Er konnte seine Rage kaum unter Kontrolle bekommen, als ich brüllte:

»Hör´ auf, Papa, bitte, Mama ist tot, sie bewegt sich nicht mehr. Stop, du hast sie doch schon umgebracht. Wie soll es denn nun weitergehen, mach´ sie wieder lebendig, wir brauchen sie doch! Was hast du ihr nur angetan, und warum Papa, wieso? Ich verstehe es nicht, was hat sie dir denn so Schlimmes getan? Weshalb könnt ihr euch nicht vertragen für immer, wenn du sie wieder heile gemacht hast? Bitte mach das, und lass uns eine Familie sein!«

Die Tränen strömten mir übers Gesicht, und mein Vater ließ mich bei meiner Mutter zurück und rannte davon. Sie bewegte sich den ganzen Tag nicht einmal. Mein Vater kam abends und sagte mir, dass er uns nun für immer verlassen müsse und nicht zurückkommen könne, da er für diese Tat ins Gefängnis ginge, was er aber nicht wolle, und dass ich Hilfe holen solle. Ich müsse den Mund halten und dürfe niemandem davon erzählen, was er getan habe. Ich versprach es ihm.

Ein lapidares »Okay!« und »Danke!« waren alles, was er mir hinterließ, bevor er mit Panik in den Augen wegrannte. Es gab kein »Ich hab´ dich lieb« oder »Pass auf dich auf«, geschweige denn ein »Du wirst mir fehlen«.

Seine einzige Intention war, seine Haut zu retten, um den Knast erspart zu bekommen.

Ich rannte los, so schnell mich meine kleinen Beine trugen, fiel unterwegs zweimal hin, und erreichte eine Tankstelle, die ich betrat und rief:

»Hilfe, Hilfe, Hilfe, meine Mama ist tot, sie atmet nicht mehr und braucht einen Arzt, bitte. Wir müssen zu ihr und ihr helfen, sie kann nicht aufstehen. Sie liegt nur da und bewegt sich nicht, bitte!«

Die Polizei und der Rettungsdienst wurden sofort verständigt, der Tankstellenwart beruhigte mich, gab mir eine warme Decke, und kochte mir einen Tee. Ich erklärte dann den Einsatzkräften sehr konzentriert den Weg zum Versteck, sodass meine Mutter schnell gefunden wurde und medizinische Versorgung erhielt. Eine Polizistin fragte mich, was passiert sei, ich antwortete jedoch nicht darauf, da ich meinem Vater versprochen hatte, ihn nicht zu verraten.

Ich wollte aber erfahren, ob Mama noch atmete und Gott sei Dank lebte sie noch, was mich sehr erleichterte. Ich musste dann für einige Zeit in ein Kinderheim, wo es gar nicht so unheimlich war, wie meine Eltern oft gesagt hatten, bis meine Mutter wieder gesund war. Dort gab es zwar feste Regeln, aber kontinuierlich Mahlzeiten, Schlafenszeiten, Spielzeiten mit anderen Kindern und Erwachsenen, die man immer aufsuchen konnte, wenn man traurig, wütend oder verzweifelt war. Ich erhielt saubere Kleidung, ein eigenes Bett, was ich bislang gar nicht kannte, und das ich noch nie besessen hatte und es gab Spielzeug, das ich nur aus dem Fernsehen kannte.

Ich habe damals die Zeit im Heim als schönste in meinem Leben empfunden, an die ich mich bis heute noch sehr gerne zurückerinnere.

Die Erzieher machten mit mir auch Besuche bei meiner Mutter, die nun ebenfalls in einer Wohngruppe für junge Erwachsene lebte, und in der es Vorschriften gab. Die Treffen mit ihr fanden zu Beginn noch in größeren Abständen statt und danach immer häufiger. Ich freute mich immer sehr darauf, und es gab auch andere Kinder, die mit ihren Eltern dort wohnten. Eines Tages wurde ich dann auch gefragt, ob ich mir vorstellen könne, mit Mama später in so einer Einrichtung zu wohnen? Ich stimmte zu. Es vergingen bis dahin jedoch noch einige Wochen, da für meine Mutter zunächst ein Entzug geplant war, dem sie zugestimmt hatte, und ich musste mich noch geduldigen.

Sie fehlte mir zwar, ich schätzte jedoch auch meinen geregelten Alltag im Kinderheim. Dieser Ort gab mir das Gefühl, in Sicherheit leben zu können, ohne erneut unvorbereitet in neue Katastrophen hineingebracht zu werden. Dort gab es keine Erwachsenen, die mit der flachen Hand zuschlugen, wenn etwas falsch war oder nicht zügig genug passierte. Ich durfte aussprechen, was mich verunsicherte, beängstigte oder gar in Wut oder Panik gerieten ließ, Gefühle, die erlaubt waren und zu keinen Konsequenzen führten, die schmerzlich waren. Behutsam nahmen die Erzieher mich dann zur Seite und wir sprachen über das, was mich bewegte, was mir oft half, wieder zur Ruhe zu kommen.

Tatort Kinderzimmer

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