Читать книгу Tatort Kinderzimmer - Jacqueline Padberg - Страница 8
ОглавлениеDer Entzug
Die Heimleitung erklärte mir, dass ich meine Mutter nun für längere Zeit nicht sehen könne, da sie in eine Klinik ginge, um gesund zu werden. Dafür benötige sie nun all ihre Energie, danach werde aber alles in Ordnung kommen und sie sei dann gesund. Ich müsse nur stark und tapfer sein und durchhalten.
Das gelang mir sehr gut, ich kam bestens aus mit den anderen Kindern im Heim und war auch beliebt. Ich kümmerte mich um Schwächere oder Kleinere, die Hilfe benötigten bei Dingen, die ich im Heim schon gelernt hatte. Ich war natürlich stolz darauf und konnte damit auch ein kleines bisschen vor den anderen angeben. Bei den Erzieherinnen galt ich als aufgeschlossenes, liebes und aufmerksames Mädchen, das zwar einige Entwicklungsdefizite aufwies, das aber schnell lernte, wenn man sich mit mir beschäftigte.
Mein Wortschatz als Fünfjährige war auf dem Stand einer Dreijährigen und das war laut den Fachkräften auf meine vorherige Verwahrlosung zurückzuführen.
Meine Mutter machte in der Zeit, als wir uns gar nicht mehr sehen konnten, einen Drogenentzug mit professioneller Unterstützung, der ihr meinetwegen angeraten wurde. Mein Vater war inzwischen gestorben, was ich erst später in einem Streit mit ihr erfuhr, und somit war sie die einzige Erziehungsberechtigte, die ich noch besaß.
Er hatte sie wohl bereits damals im Krankenhaus aufgesucht, um sich zu vergewissern, dass sie die Verletzungen überlebte, die er ihr zugefügt hatte. Diverse Male hatte er sich bei ihr für sein Verhalten entschuldigt und sie um eine neue Chance gebeten. Sie verneinte zunächst, ließ sich aber dann doch auf ihn ein, als sie schon in der Wohngruppe lebte und rauchte mit ihm gleich beim ersten Wiedersehen Crack.
Das wurde vom Personal der Einrichtung bemerkt und hatte Konsequenzen. Sie forderten ein Kontaktverbot zu ihrem Freund und sie musste ihre Zustimmung zu einem Entzug geben. Meine Mutter zweifelte, ob sie die Kraft aufbringen könne, die Entgiftung durchzuhalten, die jedoch durch den Selbstmord meines Vaters gestärkt wurde. Sein Suizid muss bei ihr einen Hebel umgelegt haben, denn daraufhin stimmte sie sofort dem Entzug zu.
Mutter sagte, er habe sehr um sie getrauert, wollte mit ihr glücklich weiterleben, und hätte sich den goldenen Schuss nie gesetzt, wenn sie ihn nicht mir zuliebe im Stich gelassen und ignoriert hätte. So hinterließ er es ihr in wenigen Zeilen eines Briefes, den man bei ihm aufgefunden hatte und ihr aushändigte. Ausschließlich ihre Verachtung ihm gegenüber habe ihn in diese Verzweiflung getrieben und zum Entschluss geführt, sein Leben zu beenden. So äußerte sie es später, auch dann, wenn ich nicht nach seinen Beweggründen fragte.
Der Drogenentzug muss für sie sehr schwer und fast unerträglich gewesen sein. Die Hauptsymptome wie kalter Schweiß, Frieren, Zittern, Erbrechen, oder Halluzinationen klangen rasch ab, der Gedanke an den nächsten Schuss hielt jedoch einige Wochen an.
Sie war in dieser Zeit sehr aggressiv gegen alles und jeden und sie konnte sich nur schwer beherrschen. Ihr Tabakkonsum stieg an und sie legte einiges an Gewicht zu, was jedoch gut für sie war und ihr neue Kraft verlieh.
Es verging viel Zeit, bis sie nicht mehr jeden Tag an den nächsten Schuss dachte, der Tag kam jedoch. Sie fühlte sich langsam wie ein neuer Mensch, der noch eine Chance für sich und mich erhalten hatte, und wollte in der Zukunft alles ändern: Eine fürsorgliche Mutter werden, eine Ausbildung nachholen, und wieder in einer eigenen Wohnung mit mir leben, einen strukturierten Alltag haben und endlich Verantwortung übernehmen. So sagte sie es dem Fachpersonal in der Klinik, woraufhin sie bestätigt bekam, dass dies gute Vorsätze für einen geregelten Alltag mit mir seien, sie das Schritt für Schritt angehen solle, dann sei sie auf einem guten Weg.
Ich dachte ebenfalls, eine neue Mama bekommen zu haben, als wir uns zum ersten Mal nach dem Entzug wiedersahen, und traute meinen Augen kaum. Sie hatte so eine gesunde Gesichtsfarbe, nicht mehr so fahl wie früher und rote Wangen. Ihr Blick war klar und nicht mehr trüb, und strahlten pure Lebensfreude aus. Mutter war gepflegt und anständig angezogen und schloss mich sogar in die Arme. Sie drückte mich und versprach, dass jetzt alles besser werde, und sie mir öfter zeigen werde, dass ich ihr viel bedeute. Ich schenkte ihren Worten Glauben, weinte, nickte, und schmiegte mich ganz fest an sie. Eine Umarmung von ihr war ich gar nicht gewohnt, solange ich zurückdenken konnte. Ich war sicher, dass sich ab jetzt alles zum Positiven wenden werde, und es immer ein Bett für mich, regelmäßige Mahlzeiten und ein Dach über dem Kopf gäbe, und Mama das schaffen werde. Nach dem Verbleib meines Vaters fragte ich sie nach ihrem Klinikaufenthalt nur ein einziges Mal. Wann er käme und wann wir wieder alle zusammen eine Familie sein könnten, woraufhin sie in Tränen ausbrach und aus dem Zimmer rannte. Ich erkundigte mich dann bei einer Pädagogin, warum sie weine und ob ich etwas falsch gemacht habe? Ich beschloss, nicht erneut nach ihm zu fragen, da Mama das traurig stimmte und ich sie nie wieder so sehen wollte.
Der Tag, an dem wir in eine Mutter-Kind-Einrichtung ziehen durften, stand bevor, und ich war sehr froh. Gleichzeitig quälte und belastete mich der Abschied von den anderen Heimkindern. Die meisten von ihnen waren mir sehr ans Herz gewachsen während meines Aufenthaltes, und am liebsten hätte ich sie alle mitgenommen, was aber nicht möglich war.
Geweint habe ich jedoch nicht, als ich sie verlassen musste, da meine Mutter anwesend war. Ich wollte sie nicht kränken oder den Eindruck erwecken, dass ich die Kinder lieber hatte als sie. Ich behielt also meine Gefühle für mich und ließ mir von der Trauer des bevorstehenden Verlustes meiner Spielkameraden nichts anmerken.
Mama war zufrieden und glücklich, und ich freute mich, dass es ihr gut ging. Sie fragte mich sogar auf dem Weg zu unserem neuen Zuhause, ob ich nun nichts vermissen werde, was ich aus Angst, sie zu enttäuschen, entrüstet verneinte. Sie lachte und sagte, wie schnell und bestimmend ich das verneint habe und wie sehr sie sich darüber freue. Das ließe sie vermuten, wie gerne ich doch meine Mutter zurückhaben wolle. Somit hatte ich sie mit meiner Lüge, die anderen Kinder nicht zu vermissen, zufrieden gestellt und besänftigt, was mir sehr wichtig war. Ich hatte mittlerweile sehr feine Antennen dafür entwickelt, was ich ihr zumuten konnte, besser verschwieg oder ihr gegenüber leugnen musste, damit das Stimmungshoch anhielt und es zu keinem Rückschlag kam. Ich hatte begonnen, für sie zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen.
Ich erkundigte mich öfter nach ihrem Befinden, wenn sie nicht sprach, sich zurückzog, gestresst wirkte oder beim Spielen mit mir unkonzentriert war und sich in einer anderen Welt aufhielt. Dann kam es vor, dass sie mir offenbarte, dass mein Vater ihr fehle und früher alles besser war. Die Regeln in der Wohngruppe sei sie satt und von einem Erwachsenen werde nur gefordert und man habe nur zu funktionieren. Sie frage sich dann nach dem Sinn des Lebens und für wen oder wozu es notwendig sei, sich zu bemühen, wenn man die Welt doch so oder so eines Tages verlassen müsse. Ihr Alltag sei einsam und langweilig geworden, im Vergleich zu den aufregenden Abenteuern, die sie mit meinem Vater früher erleben durfte und woran sie großen Spaß hatte.
War ihre Gemütsverfassung, nachdem sie sich mitgeteilt hatte, dann besser, und nahm mein trauriges Gesicht zur Kenntnis, bat sie mich darum, es einfach zu vergessen, was sie gesagt habe. Ich sei ein kleines Mädchen, mit dem man über so etwas noch nicht reden könne, geschweige denn sei ich als Ratgeber zu gebrauchen. Sie müsse das alles alleine akzeptieren und den Schmerz aushalten lernen, der sie so plage. Ich sei ihr da keine Stütze und solle auch nicht mehr fragen, was sie bedrücke, und solle mich mit Spielen beschäftigen. So sei es richtig, kindgerecht und so würden es ihr auch immer die Pädagogen in der Einrichtung mit auf den Weg geben, wenn sie mitbekämen, dass sie das öfter bei mir tue und sie dann gemaßregelt werde. Ich sei ja nicht einmal fähig, ihre Sorgen für mich zu behalten, die sie mir im Vertrauen erzähle, und plaudere alles aus.