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Syrische Wüste, August 2015

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Einer der IS-Kämpfer schleudert die Frau in den Kofferraum des Jeeps. Ihr Rucksack fliegt auf ihren Kopf. Der größere der beiden Männer setzt sich neben den Fahrer des Autos, der andere steigt hinten ein. Der, der sich nach vorne gesetzt hat, spricht in sein Walkie-Talkie: »Fahr los, Bruder, wir warten hier noch kurz, wir müssen einen Kilometer Abstand zwischen den Fahrzeugen halten.« Seine Stimme klingt rau und emotionslos. Der zweite schwarze Jeep, der vor ihrem Fahrzeug steht, fährt sofort los. Er verlässt die asphaltierte Straße und biegt auf einen schmalen Schotterweg ein.

»Abu Khadeifa, der Bus steht noch! Der Busfahrer hat deine Anweisung anscheinend nicht verstanden«, sagt der jüngere Kämpfer, der hinten sitzt, nach einem Blick durch die Heckscheibe. Seine Stimme ist hell und sein Arabisch gebrochen, die gefesselte Frau im Kofferraum hat den Eindruck, dass er kein Syrer ist. Abu Khadeifa schaut zum Bus, schüttelt den Kopf und steigt mit der Kalaschnikow im Anschlag aus dem Auto.

Es ist Mittag, die Sonne steht genau über ihnen und brennt erbarmungslos auf die vegetationslose Steinwüste. Zwischen Deir ez-Zor und Al-Hasaka leben nur giftige Reptilien.

Abu Khadeifa klopft mit der flachen Hand auf die Karosserie des Busses. »Ich habe dir gesagt, fahr los. Verstehst du kein Arabisch! Die Frau gehört uns, vergiss sie!«, schreit er und schaut den Fahrer mit wutverzerrtem Gesicht über den Seitenspiegel an. Der Fahrer blickt starr vor Angst nur geradeaus, genauso wie alle anderen Fahrgäste, die nicht in der Lage zu sein scheinen, den Kopf zu bewegen. Eine lähmende Angst schwebt im ganzen Bus.

Abu Khadeifa blickt dauernd in den Himmel, das ist wie ein Zwang, denn die Angriffe der Kampfjets haben bereits viele von ihnen das Leben gekostet. Daher hält er beständig nach Kampfflugzeugen Ausschau, obwohl er weiß, dass es, wenn er sie sieht, schon zu spät ist, um zu fliehen, die Jets feuern ihre Schüsse auf drei Kilometer Entfernung ab.

Der Busfahrer kann nicht reagieren. Obwohl er diese Strecke seit zehn Jahren fährt und sein Bus seit Beginn des Krieges mehrmals von Bewaffneten aufgehalten worden ist, verlassen ihn diesmal seine Nerven, denn es ist das erste Mal, dass sie eine Passagierin gefangennehmen. Seine Hände zittern und sein Gesicht ist aschfahl. Die flehenden Schreie der entführten Frau, die er noch immer im Ohr hat, zerreißen sein Inneres. Abu Khadeifa senkt den Blick wieder in den Seitenspiegel, schüttelt den Kopf, lädt durch und schießt eine Salve in die Luft. Die Passagiere im Bus reagieren alle gleichzeitig, sie ducken sich und machen sich so klein wie möglich. Der Fahrer zuckt zusammen, legt den ersten Gang ein und fährt los.

»Bruder, der Abstand ist schon groß genug, fahrt ihr los?«, meldet sich das Walkie-Talkie des ersten Jeeps.

»Ja, Bruder, wir sind hinter euch, Allah ist der Beschützer«, sagt Abu Khadeifa, steigt ins Auto und gibt dem Lenker durch eine Handbewegung zu verstehen, er solle losfahren.

Die Schotterstraße ist in schlechtem Zustand, voller Schlaglöcher und Steine. Nach einer halben Stunde ist der Frau im Kofferraum schwindlig und übel. Sie fühlt sich seekrank und unter dem schwarzen Stoffsack, der ihr über den Kopf gezogen wurde, ist es mittlerweile heiß wie in der Hölle. Sie löst sich langsam aus ihrer Erstarrung und versucht, sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie zieht den schwarzen Stoff in ihre Mundhöhle, um ein Loch hineinzubeißen, damit sie mehr Luft bekommt.

»Tschetschene, schau nach, was da hinten los ist, die Geräusche nerven mich.« Abu Khadeifa spricht zu dem Kämpfer auf dem Rücksitz. Der Tschetschene löst den Knoten um den schwarzen Sack und zieht ihn der Frau vom Kopf. Beim Versuch, den ersten tiefen Atemzug zu nehmen, erbricht sie. Sie beginnt heftig zu weinen, wagt es aber nicht, zu schreien, da ihr das Gesicht von Abu Khadeifas Ohrfeige noch immer heftig schmerzt. »Ich werde das Auto sicher nicht putzen. Entweder machst du das oder irgendein Gefangener«, erklärt der Fahrer mit angewidertem Gesicht dem Tschetschenen.

Die Frau merkt, dass das Auto inzwischen wieder auf einer asphaltierten Straße fährt. Sie ist nach wie vor gefesselt, aber der schwarze Sack ist weg. Auch hört sie Geräusche von Menschen und anderen Autos. Sie scheinen nach einer endlosen Stunde Fahrt in ein bewohntes Gebiet gekommen zu sein. Sie sind in Arraqa, wie sie später erfahren wird. Endlich hält das Auto an. Die Männer steigen aus, der Tschetschene und Abu Khadeifa öffnen den Kofferraum und ziehen die Frau und ihren Rucksack heraus. Ihre Angst wächst wieder und ihr Herz beginnt noch heftiger zu klopfen, als sie die bewaffneten Männer sieht, die IS-Flaggen auf den Gebäuden, die von Mauern aus Sandsäcken umgeben sind, und die verschleierten Frauen. »Was habt ihr heute mitgebracht, Brüder?«, fragt einer der Wächter am IS-Gerichtsgebäude, das früher das Magistrat war. Abu Khadeifa meint selbstbewusst: »Etwas, das ausländische Kämpfer nicht bekommen: eine Alawitin, Bruder!«, sagt er, während er die Frau nach vorne drängt.

Nicht nur Abu Khadeifa, sondern die meisten syrischen IS-Anhänger spüren ihre Unterlegenheit den ausländischen Mitkämpfern gegenüber immer stärker. Diese brüsten sich damit, ihr luxuriöses Leben in Europa aufgegeben zu haben, um das islamische Kalifat wieder ins Leben zu rufen und die unterdrückten Syrer und Iraker von ihrem Leid zu befreien. Dieses Argument verschafft ihnen Führungspositionen und das Recht auf alles, was sie begehren. Abu Khadeifa, der vor dem Krieg als Bäcker in Arraqa gearbeitet hat, musste seine fünfzehnjährige Schwester mit lächelndem Gesicht einem Pakistani aus Irland zur zweiten Ehefrau geben, obwohl dieser bereits mit seiner schwangeren Frau und seinem Kind eingereist war. Abu Khadeifa redete sich ein, dass diese Heirat einem höheren Zweck diente, aber der Schmerz scheuerte an seinem Herzen wie ein Seil, das ständig über eine scharfe Kante gezogen wird. Er wusste, dass seine Schwester wie die Dienerin der ersten Frau gehalten wurde und gelegentlich, wenn es günstig war, dem Mann auch für seine sexuellen Vergnügungen zur Verfügung stehen musste. Daher hatte er Angst, dass es ihn irgendwann einmal zerreißen könnte und er dann als Verräter der Sache des IS dastehen würde und eine harte Strafe verbüßen müsste. Wenn Abu Khadeifa mit seinen Vertrauten darüber spricht, heißt es: »Leg dich nicht mit ihm an. Der Ire hat durch seine Kontakte mit dem Ausland viel Einfluss. Schließlich hat er dem IS sehr viel Unterstützung zukommen lassen.«

Die Frau traut ihren Augen nicht. Während sie in das riesige Gerichtsgebäude geführt wird, sieht sie auf dem Zaun, der mit spitzen Stangen den ganzen Bereich umgibt, drei Köpfe aufgespießt.

Es ist nur einige Tage her, dass diese Männer vor einer Menschenmenge aus Männern, Frauen und Kindern als angebliche Regime-Spione enthauptet wurden. Es war nicht das erste Mal, dass in der Mitte des geräumigen Kreisverkehrs solche Aktionen stattfanden, nicht nur Spione, sondern auch Homosexuelle und andere missliebige Personen werden hier öffentlich hingerichtet. Die Kameras liefen und das Video der Enthauptung wurde weltweit in den Nachrichten ausgestrahlt.

Langsam löst sich ihre Erstarrung und sie beginnt wieder zu weinen. »Was mache ich hier? Wo bin ich? Ich mache alles, was du willst! Aber lass mich bitte wieder gehen!«, fleht sie Abu Khadeifa an. Da schlägt er sie wieder ins Gesicht. In ihrem Ohr beginnt es zu rauschen. Wortlos führt er sie in das Gebäude und die Stiegen hinunter in das Untergeschoss. Sie betreten einen Raum, der wie ein Büro eingerichtet ist. Drinnen sitzen zwei Männer, die etwas gepflegter aussehen. Sie tragen Zivilkleidung und scheinen keine Kämpfer zu sein, aber direkt über ihnen hängen neben einer großen IS-Flagge zwei Kalaschnikows an der Wand.

»So, bitteschön, hier eine fette Beute. Eine Alawitin«, mit diesen Worten stößt Abu Khadeifa die Frau vor dem Schreibtisch auf den Boden und legt mit überlegener Geste ihren Ausweis vor die Männer hin. »Dokumentiere das und schreib meinen Namen dazu, ich möchte, dass mein Einsatz entsprechend gewürdigt wird und in der Berichterstattung auch vorkommt.« Der IS hat zu dieser Zeit mehrere Medienkanäle, unter anderem einen Fernsehkanal, in dem entsprechende Kampagnen gesendet werden.

Der Mann hinter dem Schreibtisch nimmt den Ausweis in die Hand und studiert ihn genau. »Wie – Alawitin, sie trägt Kopftuch, und hier steht, dass sie in Damaskus geboren ist und Nadia heißt«, wendet er ungläubig ein. »Eine ihrer Mitreisenden hat sie verraten, sie soll Sanaa heißen«, erklärt Abu Khadeifa.

»Die Frau im Bus muss den Verstand verloren haben. Ich bin Nadia, eine Sunnitin! Ich war auf dem Weg zu meinem Mann, der in Erbil arbeitet«, versucht Sanaa mit zitternder Stimme die Situation zu retten, aber der Mann hinter dem Tisch wirft ihr einen bitterbösen Blick zu. »Halt den Mund, die Stimme einer Frau ist wie ihre Haut, sie darf vor fremden Männern nicht sprechen«, weist er sie zurecht. Dann wendet er sich an den anderen, der sichtlich sein Untergebener ist:

»Abu Faruk, nimm sie und ihren Rucksack mit in den Frauentrakt und lass die Schwester ihre Identität überprüfen.«

Der Geruch der Seele

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