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Damaskus, Juni 2010
ОглавлениеTarek lächelt ein wenig, als Nauras ihn an diese alte Geschichte erinnert. Aber er schiebt die Gedanken an diesen Abend wieder weg, er mag keine Erinnerungen an die Schläge, die er als Jugendlicher von seinem Vater erhalten hat. Er fühlt sich jetzt erwachsen und will mit diesem Kapitel abschließen. Schließlich ist er zwanzig Jahre alt und verdient seinen eigenen Lebensunterhalt. Außerdem kann sein Vater für ihn gar nicht mehr sorgen, seit er seinen gutbezahlten Regierungsjob verloren hat. Nach einigen gescheiterten Versuchen, sich selbständig zu machen, arbeitet Basam jetzt für einen bescheidenen Lohn als Buchhalter in einer Fabrik, die Motoröle erzeugt. Damit kann er allerdings nicht einmal die Hälfte des Lebensunterhalts der beiden Haushalte bestreiten. Zur Unterstützung erhält er immer wieder ein paar Scheine von den wohlhabenden Eltern seiner zweiten Frau, damit er den aufwendigen Lebensstil seiner drei Töchter finanzieren kann. Tarek hingegen muss vor seinen reichen Freunden verbergen, dass er immer wieder auf der Baustelle arbeitet. Wenn er hinfährt, zieht er sich, passend zu dem teuren Viertel, in dem er lebt, saubere Kleidung an und nimmt seine Arbeitskleidung im Rucksack mit. Auf dem Heimweg hat er wieder saubere Kleidung an und achtet sehr genau darauf, dass seine Hände und Haare gewaschen sind und ihn keinerlei Spuren der Baustelle verraten.
Seine engsten Freunde aus dem Barzeh-Viertel sind Söhne von Offizieren, wichtigen Beamten oder reichen Händlern. Er bemüht sich, mit ihnen Schritt zu halten, und das gelingt ihm auch meistens, selbst wenn sie fast jeden Abend essen gehen. Oft behauptet er, gerade gegessen zu haben, doch in Wahrheit hat er kein Geld. Er hat sich damit abgefunden, als Einziger kein Auto zu besitzen. So wird er von seinen wohlhabenden Freunden eben jeden Abend abgeholt. Sie schätzen seine Unternehmungslust und seine spannenden Geschichten.
Mittlerweile sind sie bei Tareks Universität angekommen. »Die Shisha nicht vergessen! Heute Abend schauen wir uns bei Adnan eine neue Folge von ›Lost‹ an, ich hole dich ab!« Tarek nickt und küsst Nauras vor dem Aussteigen links und rechts auf die Wangen.
Die Sonne strahlt heiß und kündigt einen glühenden, windstillen Mittag an. Er geht durch die Unterführung zur Universität, wo sich schon viele hundert Studenten aufhalten. Es ist ein riesengroßes Gelände, alle Fakultäten befinden sich an diesem Ort: Medizin, Psychologie, Literatur und noch viele andere sind hier in den verschiedenen Gebäuden untergebracht. Hier befinden sich auch zwei riesige mehrstöckige Gebäude, in denen Studenten aus ganz Syrien wohnen – in einem Gebäude die Männer, im anderen die Frauen. An der Universität Damaskus sind immerhin rund 90 000 Studenten aus dem ganzen Land inskribiert. Obwohl es in Aleppo, Latakia und Homs auch große Universitäten gibt, hat das Studium an der Universität der Hauptstadt doch für viele einen besonderen Glanz.
Als Tarek aus der Unterführung kommt, fällt ihm die Menge auf, die sich am Eingang versammelt hat. Er nähert sich dem Torbogen und erblickt Sakers gigantisches Auto, das jeder auf der Uni kennt. Es ist nicht der einzige Hummer in Damaskus, aber er ist auf jeder Seite mit den riesengroßen Portraits des Präsidenten beklebt. »Du scheinst meine Worte nicht zu verstehen, bist du neu hier?«, brüllt Saker den Torwächter an. Der Sohn des Obersts hat mit seinen 22 Jahren schon eine Halbglatze, sein restlicher Körper ist allerdings so stark behaart, dass sich die Brusthaare aus dem Kragen seines T-Shirts herauskräuseln. Er hat dunkle Augenringe und einen schwammigen Körper, der Alkoholkonsum hat schon in jungen Jahren seine Spuren hinterlassen.
»Ich verstehe Sie, aber ich habe klare Anweisungen vom Rektor, keine Fahrzeuge von Studenten auf das Gelände fahren zu lassen«, erwidert der Torwächter.
»Du hast keine Ahnung, mit wem du sprichst. Wenn du das Tor nicht öffnest, wirst du es dein Leben lang bereuen!« Saker wird sichtlich aggressiver.
»Es tut mir leid, ich kann nicht –«
Während der Torwächter spricht, blickt Saker in die Runde der Schaulustigen, legt hastig den ersten Gang ein und fährt los. Die beiden Torflügel halten dem Druck nicht stand und schwingen auf, Saker fährt zum Parkplatz der Professorinnen und Professoren. Tarek schaut den erstarrten Torwächter mitleidig an. Er würde ihm gerne beistehen, weiß aber nicht, was er sagen soll. Die anderen anscheinend auch nicht, denn alle gehen wortlos an ihm vorbei. Das ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Tarek verschwindet mit allen anderen. »Wie schafft es die Ungerechtigkeit, zur Normalität zu werden?«, fragt er sich im Weitergehen.