Читать книгу Der Geruch der Seele - Jad Turjman - Страница 11

Damaskus, Juni 2010

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In Tareks Vorlesung geht es heute um den berühmten Kalligraphen Abu Ali Muhammad ibn Ali ibn Muqla, oder einfach gesagt Ibn Muqla, der die arabische Schriftkunst grundlegend verändert hat, als er die Grundlagen für die Kalligraphie erstellte. Er ist sozusagen der Pate der arabischen Schrift. Sein Leben ist ein Symbol für die Unterdrückung von Innovationen im Namen der Religion. Im Jahr 928 erhielt er einen Ministerposten in einem abasischen Kalifat in Bagdad. Er reformierte die arabische Schrift, die er durch das Hinzufügen von Buchstaben, zum Beispiel p, g und v, moderner und internationaler gestalten wollte. Man unterstellte ihm jedoch, durch diese Ergänzungen den Koran zu verändern. Daraufhin wurde er als Minister abgesetzt und nach Shiraz in Persien verbannt. Er arbeitete dort aber weiter an seinem Vorhaben, was den Kalifen veranlasste, ihn verhaften und seine rechte Hand abhacken zu lassen. Auch das hielt Ibn Muqla aber nicht davon ab, an seinen Ideen weiterzuarbeiten und in Shiraz eine Schule zu gründen, um seine Künste zu verbreiten. Der Kalif ließ ihn erneut verhaften und ihm zur Strafe die Zunge abschneiden. Im Gefängnis starb er schließlich. Heute findet man in der persischen Schrift, die der arabischen weitgehend gleicht, diese drei Buchstaben.

Diese Geschichte interessiert Tarek, er liebt die arabische Schrift und ihre Kalligraphie. Später, in der Bibliothek, sucht er einige weiterführende Skripten heraus und blättert sie durch. In diesem Moment nimmt er einen schwachen Parfumduft wahr, der seinen Körper durchströmt und ihn förmlich elektrisiert. Er hebt den Kopf, denkt sekundenschnell an Sanaa, und zu seiner Überraschung steht sie tatsächlich ihm gegenüber bei einem Regal und sucht ein Buch. Sein Puls schießt in die Höhe und er spürt, wie ihm das Herz im Hals schlägt. Sanaa stellt sich gerade auf die Zehenspitzen und möchte ein Buch aus der obersten Reihe nehmen. Tarek hat das erste Mal Gelegenheit, ihre Figur etwas genauer zu bewundern. Sie trägt enge, schwarze Jeans und eine weiße, kurzärmelige Bluse. Ihre Kleidung sitzt wie angegossen, als wäre sie von einem Schneider extra für sie gemacht worden. Tarek kann den Blick nicht abwenden, so vernarrt ist er in sie. Er ballt die Hand zur Faust und entschließt sich, sie jetzt anzusprechen. Er nimmt sich vor, sie zu fragen, ob sie ihm für seine nächste Prüfung Tipps geben kann. Er steht auf, macht einen Schritt auf sie zu, dann zögert er wieder und dreht sich weg, nimmt ein Buch in die Hand. Sanaa steht noch vor dem Regal, blättert, während sie Tarek aus den Augenwinkeln beobachtet. Tarek reißt sich zusammen und macht einen Schritt auf Sanaa zu. »Guten Morgen!«, lächelt er breit. Sie erwidert den Gruß und lächelt freundlich zurück. Tarek ist von diesem Lächeln verzaubert, für ihn bleibt in diesem Moment die Erde stehen.

Er hat vergessen, was er sagen wollte, und stammelt: »Ich weiß, wir wohnen im selben Viertel, ich wollte mich einmal vorstellen. Mein Name ist Tarek.« Er ist erleichtert, diesen Schritt gemacht zu haben, und schaut sie mit großen verliebten Augen an. Beide schweigen kurz. »Ich habe vergessen, was ich sagen wollte«, gibt Tarek dann lächelnd zu.

»Ja, ich bin auch vergesslich, das passiert mir oft. Aber wenn es dir wieder einfällt, kannst du mich anrufen«, erwidert Sanaa und öffnet ihm damit eindeutig eine Tür. Wenn Tarek sein Herz sprechen ließe, würde er sagen: »Du bist die schönste Frau, die jemals auf dieser Welt gelebt hat. Ich bin so sehr in dich verliebt, und wenn es keinen Gott gäbe, würde ich dich anbeten«, aber das sagt man nicht. Tarek zieht sein Handy aus der Tasche und reicht es ihr. Sie tippt blitzschnell ihre Nummer ein und gibt es ihm zurück. Dabei streifen ihre Finger scheinbar unabsichtlich seine Hand, während sie sich in die Augen blicken. Tarek ist wie elektrisiert, er kann es kaum glauben, er hat Sanaa berührt.

»So, jetzt muss ich gehen. Meine Freundinnen warten draußen«, lächelt sie ihm zu, dreht sich um und geht. Tarek bleibt unbeweglich stehen und schaut ihr nach. Er blickt auf sein Handy und speichert die Nummer unter »Traumfrau«.

Dann läuft er schnell hinaus zu der Bank vor dem Fakultätsgebäude für Literatur, bei der er sich immer mit seinen Freunden trifft. In dem großen Garten gibt es mehrere Bänke, eine davon ist »ihre«, und ohne sich etwas auszumachen, finden sie sich immer dort. Tareks Freunde teilen seine kritische Haltung gegenüber dem Regime, und wenn sie unbeobachtet sind, drehen sich ihre Gespräche immer um Politik. Als er die Bank erreicht, sitzen dort schon Mohanad und Hibba, mit denen er seit Studienbeginn befreundet ist. Mohanad ist ein zuvorkommender blonder Syrer mit blauen Augen, der wie ein Skandinavier aussieht, dessen Familie aber schon seit Generationen in Damaskus lebt. Aber wer sich mit der Geschichte der Stadt auskennt, wundert sich nicht über das unterschiedliche Aussehen ihrer Menschen. Wenn Mohanad mit seinem breiten Damaszener Dialekt spricht, wirkt es wie ein synchronisierter Film, weil sein Aussehen nicht zu seiner Sprache passt. Hibba kommt aus Hama und lebt seit drei Jahren mit ihrem Bruder in einer der wilden Siedlungen am Rand von Damaskus, in denen ohne Planung drauflosgebaut wird und wo jeder sich selbst darum kümmern muss, sein Haus mit Strom und Wasser zu versorgen. Wegen der unzähligen Kabel für Strom und Telefon, die einander völlig willkürlich überschneiden, sieht man den Himmel kaum. Hibba ist wortgewandt und politisch sehr interessiert. Sie ist eine entschiedene Gegnerin der herrschenden Baath-Partei, denn ein Großteil der Familie ihres Vaters wurde 1982 in dem Massaker von Hama ermordet.

Tarek nähert sich der Bank mit Tanzschritten und einem Lied auf den Lippen. »Was ist los? Einen so glücklichen Tarek haben wir noch nie gesehen«, wundert sich Mohanad. »Sie hat mir ihre Nummer gegeben, sie hat mir ihre Nummer gegeben!« Hibba und Mohanad schauen ihn mit großen Augen an. »Sanaa?«, fragt Hibba.

»Ja, und ich habe sogar ihre Hand berührt«, sagt Tarek und tanzt weiter.

»Gratuliere! Aber du bist doch kein Höhlenbewohner, der noch nie eine Frau berührt hat«, wundert sich Mohanad.

»Das war keine Berührung, das war ein göttlicher Augenblick. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt!«, erklärt Tarek und betont seine Worte mit breiter Gestik.

»Ich freue mich für dich. Aber wie weit, glaubst du, wirst du mit ihr gehen? Du hast sicher nicht vergessen, welcher Konfession sie angehört!«, versucht Hibba, Tarek wieder auf den Boden zurückzuholen. Tarek zuckt die Schultern und antwortet nicht. »Sie ist Alawitin und die Tochter eines Hochrangigen. Wenn du mehr als eine Freundschaft willst, wirst du Unruhe auslösen. Alawiten geben nie einem Sunniten ihre Tochter zur Frau!«, setzt Hibba fort, und ihr Hass auf die Alawiten ist spürbar. »Jetzt zerstör doch nicht die Freude eines Verliebten, er muss sie ja nicht gleich heiraten!«, meint Mohanad. »Außerdem weiß jeder hier auf der Uni, dass der durchgeknallte Saker ständig Sanaas Nähe sucht. Die sind auch Alawiten, und Sanaas Vater wird seine Tochter sicherlich eher dem Sohn eines hohen Geheimdienstlers geben als dir«, wendet Hibba noch ein.

»Da hat Hibba zwar recht, aber jetzt hast du so lange auf diesen Moment gewartet und uns mit deinen Plänen gelöchert. Wir müssen feiern, dass du sie endlich angesprochen hast! Du lädst uns jetzt auf einen Tesqehe bei Buz-Al-Gedi ein!«, schlägt Mohanad vor. Das Restaurant Buz-Al-Gedi liegt in der Shaalan-Straße, nicht weit vom Universitätsgelände, und ist berühmt für traditionelle Damaszener Gerichte.

»Nicht nur Tesqehe, ich kaufe euch das ganze Restaurant!«, ruft Tarek überschwänglich.

»Und die Vorlesung?«, wendet Hibba ein.

»Komm, lass uns gehen. Professor Smail erzählt in der ersten Stunde ohnehin nur von den Problemen mit seiner Frau. Ich kaufe nachher in der Bibliothek eine Zusammenfassung der Vorlesung«, wischt Tarek Hibbas Einwand euphorisch zur Seite und geht bereits los.

Nur vom Denken an das köstliche Frühstück aus Kichererbsen und gebratenen Fladenbrotstücken in einer Soße aus Joghurt, Sesampaste und Zitronensaft läuft den dreien das Wasser im Mund zusammen. Sie verlassen das Gelände über den Weg des Jasmins, einen kurzen Pfad durch den Garten, an dessen beiden Seiten Jasminsträucher zu einem Tunnel zusammengewachsen sind. Es riecht intensiv nach den weißen Blüten, ein Geruch, der in die Seele eindringt und Tote wieder zum Leben erweckt.

Der Geruch der Seele

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