Читать книгу Der Geruch der Seele - Jad Turjman - Страница 7
Damaskus, Juni 2010
ОглавлениеUm acht Uhr wäre Tareks erste Vorlesung auf der Uni gewesen. Um Punkt acht Uhr öffnet er die Augen. Er hat schon wieder verschlafen. Kaffeearoma erfüllt den Raum und strömt in seine Nase. Seine Mutter hat wie jeden Tag den Mokka mit Kardamom nach ihrer Geheimmethode gekocht. Der Geruch hat auf ihn eine magische Wirkung, er ist blitzschnell hellwach und gleichzeitig von einer tiefen Ruhe erfüllt. Er hört Gesprächsgeräusche vom Balkon her. Die Nachbarinnen trinken den Mokka heute bei seiner Mutter. Sie wechseln sich jeden Tag bei ihrem festen Ritual ab, morgens gemeinsam Kaffee zu trinken, über die Nachbarinnen der anderen Wohnblocks zu lästern und neueste Informationen auszutauschen. Langsam steht er auf, ohne sich zu beeilen. Seit einiger Zeit lässt er die erste Vorlesung gerne ausfallen. Er hat die Begeisterung für das Studium der arabischen Literatur mittlerweile verloren, obwohl er als Jugendlicher große Liebe und Leidenschaft für die arabische Sprache und ihre Schrift empfunden hatte. Doch Arabischlehrer will Tarek nicht werden. Dafür hasst er die Schule zu sehr. Und er hat langsam begriffen, dass er vom Gedichteschreiben nicht einmal einen Hund ernähren kann. Früher schrieb er viele Gedichte über Liebe, Sehnsucht und Ekstase an eine fiktive Frau, häufig in der Mathematikstunde. Leider erwischte ihn der Lehrer ab und zu und es gab Schläge mit einer Holzstange auf die Hände für seine Unaufmerksamkeit. Nicht nur vom Lehrer wurde er ertappt, auch von seinem Vater. Einmal, vor dem Freitagsgebet, suchte sein Vater nach einer Nagelschere. Dabei öffnete Basam eine der Schubladen und fand die zusammengefalteten Zettel mit den Gedichten.
Basam las den ersten Text, in dem er sich darüber lustig machte, dass der verstorbene Vater des Präsidenten stets als ewiger Führer bezeichnet wurde. Basam stürzte in Tareks Zimmer und gab ihm wortlos eine solche Ohrfeige, dass Tarek minutenlang ein Klingen im Ohr hörte. Sein Vater zerriss den Zettel mit dem Text, drehte sich zu Tareks Bücherregal und riss einige Bücher heraus, die ihm Onkel Nisar geschenkt hatte.
»Dieser Blödsinn verdirbt deinen Kopf! Oder willst du dasselbe Schicksal wie Onkel Nisar erleiden?«, brüllte Basam, als er mit den Büchern das Zimmer verließ.
Nisar war vor drei Jahren verhaftet worden, und Basams Nerven waren deswegen auf das Allerhöchste angespannt. Denn als sein Bruder sich 2002 nach Abschluss seines Chemiestudiums mit seiner französischen Frau in Damaskus niedergelassen hatte, hatte er sich öffentlich zu Menschenrechten und journalistischer Freiheit geäußert. Er war daraufhin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet worden und seither fehlte jede Nachricht von ihm und seinem Schicksal.
Basam verbrannte die Bücher und Tareks Texte. Seit diesem Abend schrieb Tarek nur mehr wenige Gedichte, jedenfalls nichts Politisches mehr, und Romane will er schon gar nicht verfassen. Er hält Schriftsteller für einsame Einzelgänger, die kein Sozialleben haben. Außerdem lesen Araber nicht viel, und wenn, dann meistens Werke von ausländischen Autoren. Die syrischen Autoren und ihre Werke verschwinden in den Kellern der Geheimdienste. In Baramkeh gibt es einen Buchbasar, das ist der beliebteste Ort in Damaskus, um Bücher zu kaufen. Die Händler dort verkaufen haufenweise ins Arabische übersetzte Trivialromane. Onkel Nisar ist Tareks Vorbild. Er stellte sich oft vor, was der Onkel im Gefängnis gerade machte.
Salma sitzt schon seit einer Stunde mit Wisal, Maisaa und Fardous, ihren Nachbarinnen, auf dem Balkon mit Ausblick auf die Stadt. Sie trinken ihren Mokka, und im Hintergrund singt Fairuz mit ihrer sanften Stimme. Das ist die morgendliche Göttin des Gesanges, eine libanesische Sängerin, deren Lieder jeden Tag von sechs bis neun Uhr in der Früh an jeder Ecke von Damaskus gespielt werden.
»Wieso bist du noch da?«, fragt Salma ihren Sohn. »Vielleicht solltest du dir irgendwann doch einen Wecker anschaffen, sonst schließt du dein Studium erst mit Krücken ab«, sagt sie, und die Nachbarinnen kichern. Von der Erfindung des Weckers hält Tarek nicht viel. Er behauptet immer, dass der Wecker ihn dumm mache und ihm den ganzen Tag eine Blockade im Kopf bescheren würde. Er wache lieber von selbst auf. Es mache ihn produktiver.
Eigentlich ist Tarek mit seinen Gedanken ganz woanders. Er verspätet sich absichtlich, um im Bus Sanaa zu sehen, eine Studentin, die an derselben Universität studiert wie er. Sie ist bereits im dritten Semester und für sie beginnen die Vorlesungen erst um neun. Auf der Uni will Tarek sie nicht ansprechen, aber zum Glück wohnt sie in der Nähe und nimmt manchmal den gleichen Bus wie er, um zur Uni zu fahren. Heute will er die Gelegenheit nutzen, um sie endlich einmal anzusprechen.
Er zieht sich mit großer Sorgfalt an und besprüht sich übermäßig mit seinem »Amber«-Parfum.
»Trinkst du jetzt einen Mokka mit uns oder nicht?«, ruft Salma ungeduldig. »Sag etwas oder hat die Katze deine Zunge gefressen?«, fügt sie hinzu. Tarek geht zu ihnen auf den Balkon und küsst seine Mutter auf die Stirn. »Zu deinem Mokka kann ich nicht Nein sagen, das ist der beste Wecker auf der Welt«, antwortet Tarek. Salma kann kaum atmen, die Duftwolke, die Tarek umgibt, ist zu stark. Sie hält sich einen Teil ihres Kopftuches vor den Mund. Auf dem Balkon muss sie Kopftuch tragen, da ist sie in der Öffentlichkeit.
»Es ist immer wieder verwunderlich, wie du dich in diesem Saustall von einem Zimmer so hochzeitsreif herrichten kannst«, stichelt Salma weiter.
»Und was ist der Anlass, dass du dich so fein machst?«, wundert sich Wisal.
»Habe ich sonst schlecht ausgeschaut?«, will Tarek wissen. »Das mache ich nur für mich«, fügt er hinzu.
»Hol dir eine Tasse aus der Küche«, fordert ihn Salma auf. Aber Tarek will keine Zeit verschwenden. Er gießt sich aus der Kupferkanne einen Mokka in Salmas Tasse, trinkt ihn im Stehen in einem Schluck aus und verabschiedet sich.
Als Kind liebte er es, in der Runde von Salmas Nachbarinnen zu sitzen und zuzuhören. Die Frauen erzählten die spannendsten Geschichten, besonders aufregend waren die von Wisal. Sie arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Gerichtsschreiberin und ihre geheime Schatztruhe ist voller Geschichten. Salma ruft ihm nach: »Du bist ein echter Dimashqi, wie dein Vater, euch bringen nur Frauen zum Aufblühen!«
Tarek läuft die Treppen hinunter. Sein Nachbar aus dem vierten Stock, der Apotheker, schließt gerade hinter sich die Wohnungstür ab.
»Gott beglücke deinen Morgen, Nachbar«, begrüßt ihn Tarek im Vorbeigehen.
»Wohin, wohin? Warte kurz, ich wollte dich fragen, wo ihr eure neue Klimaanlage gekauft habt. Ich habe von meiner Frau gehört, dass sie gut ist. Es ist mittlerweile Juni, wir haben mittags schon 35 Grad, wie wird das erst im August werden? Unsere alte funktioniert nicht mehr gut«, will der Apotheker wissen.
»Die Europäer würden ›Klimawandel‹ sagen«, erwidert Tarek.
»Die Europäer haben andere Probleme. Sag mir, was eure Anlage gekostet hat. Sie scheint teuer zu sein, denn der äußere Teil ist sehr leise«, sagt der Apotheker neugierig.
»Mein lieber Nachbar, ich schicke dir die Nummer des Installateurs, und er wird dir weiterhelfen. Die Preise ändern sich ständig«, meint Tarek im Weitergehen.
»Warte kurz! Ich fahre bei deiner Uni vorbei, du kannst mitfahren!«, bietet ihm der Nachbar an.
»Ich gehe heute nicht zur Uni, ich muss meinem Bruder im Geschäft helfen. Salam aleikum«, lügt Tarek.
Tareks Bruder Salman hat eine Schneiderei für Damenbekleidung. In Wirklichkeit hat Tarek seinem Bruder noch nie ausgeholfen. Ihr Verhältnis ist nicht besonders gut.
»Für deine Gedichte bekommst du nur dann Geld, wenn du sie als Einwickelpapier für Falafelröllchen verwendest«, spottet Salman, wenn bei Familientreffen über Tareks Zukunftsperspektiven gesprochen wird.
»Was stört dich daran? Es ist doch gut so, du machst Kleider für Frauen, die sich für ihre Männer hübsch machen wollen, und ich schreibe Lieder für Frauen, die ihre Männer vermissen. Außerdem es ist eine super Werbekampagne, wenn meine Schriften als Einwickelpapier genutzt werden. Ich erreiche die Menschen zu einer besonderen Zeit, dann haben sie etwas für den Magen und die Seele gleichzeitig«, kontert Tarek. In Wahrheit jedoch jobbt er auf einer Baustelle bei einem Elektriker.
Tarek tritt auf die Straße. Es ist ein herrlicher Tag, wolkenloser Himmel, die Sonne steht noch nicht im Zenit, es ist angenehm warm. Die Vögel zwitschern so enthusiastisch, dass man die einzelnen Stimmen nicht unterscheiden kann. Der Geruch des Frühlings liegt noch stark in der Luft. Die Dimashqis wohnen in Barzeh, einem reichen Stadtteil am Rand von Damaskus mit vielen kleinen Gärten zwischen den Wohnblocks, in dem viele Beamte und hochrangige Offiziere leben. Die Damaszener haben eine große Vorliebe für Blumen und alle Grünpflanzen. Auch wenn man die Stimmen der Vögel nicht unterscheiden kann, so kann man unter den vielen Blumengerüchen doch einen herausriechen: So unterschiedlich die Bewohner das kleine Grün vor ihrer Haustür auch gestalten, alle sind sich darin einig, Jasmin zu pflanzen. Die Vielfalt an Religionen und Konfessionen in dieser Nachbarschaft ist auch eines der Merkmale dieses Viertels. Nach dem Vorbild der Altstadt wurde hier eine Kirche neben einer Moschee gebaut. Von Tareks Balkon sieht es so aus, als würden sich die beiden Türme umarmen.
Tarek schaut auf die Uhr, es ist acht Uhr fünfunddreißig. Die Busse in Damaskus haben keinen Fahrplan. Aber er hat beobachtet, dass Sanaa um diese Zeit zur Universität fährt. So läuft er zur Hauptstraße hinunter und hat nur einen Gedanken im Kopf, den er ständig wiederholt: »Sprich sie, verdammt noch einmal, endlich an! Hast du nicht gesehen, was ihre Augen dir sagen?« Er klopft sich mit der Faust an die Schläfe. Plötzlich zuckt er zusammen: Hinter ihm macht ein Auto eine Vollbremsung und der Fahrer hupt ununterbrochen. Tareks Puls schießt in die Höhe, er springt auf die Seite und schaut nach hinten. Sein Freund Nauras lacht sich hinter dem Lenkrad kaputt. Erleichtert, wenn auch nicht begeistert, beruhigen sich Tareks Gesichtszüge und er nähert sich dem Auto seines Freundes.
»Wie ich immer sage, du bist der Sohn des Harams!«, ruft er. So nennt man in Damaskus Menschen, die durch außerehelichen Sex gezeugt wurden. »Aber gut, jetzt habe ich mehr Adrenalin im Blut. Das brauche ich heute.«
»Steig ein, ich fahre bei deiner Uni vorbei«, fordert ihn Nauras auf. Sein Kindheitsfreund studiert Wirtschaftswissenschaft an einer Privatuniversität außerhalb von Damaskus. Nauras stammt aus einer wohlhabenden Familie und hat ein eigenes Auto. Das gehört eigentlich dem Militär, aber sein Vater verfügt über mehrere Dienstautos, über deren Nutzung er frei bestimmen kann. Er ist einer der wenigen Sunniten, die einen hohen militärischen Rang erreicht haben. Die überwiegende Mehrheit der Militär- und Geheimdienstoffiziere sind Alawiten und kommen aus der Küstenregion wie der Präsident selbst. »Nein, ich muss mit dem Bus fahren, denn heute ist der Tag, ich werde Sanaa auf einen Kaffee einladen oder sie jedenfalls ansprechen, ich weiß es noch nicht genau«, lehnt Tarek das Angebot ab.
»Ich verstehe deine Logik nicht. Du sagst, sie läuft den ganzen Tag bei dir auf der Uni herum, und du willst sie unbedingt im Bus ansprechen?«, fragt ihn Nauras mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sanaa ist doch eine privilegierte junge Frau. Sie lässt sich von den Chauffeuren ihres Vaters fahren, du wirst sie im Bus nicht erwischen!«
»Auf der Uni kann ich sie nie alleine sprechen, sie ist immer in Gesellschaft ihrer Freundinnen. Und es gibt einige alawitische Kollegen, die gar nicht davon begeistert wären, wenn ich sie anspreche. Du kennst Saker, den Sohn von Oberst Maher Saleh, dem größten Tier beim Geheimdienst. Er läuft ihr auf der Uni immer hinterher«, erklärt Tarek fast verzweifelt.
»Ja, das verstehe ich«, antwortet Nauras, »mit der Präsidentenverwandtschaft würde ich mich auch nicht anlegen. Sakers Vater ist berüchtigt. Er kann zum Tode Verurteilte vom Galgen befreien und dafür jemand anderen aufhängen lassen. Dann wünsche ich dir viel Glück, mein Freund! Und nicht vergessen, heute Abend spielen wir bei Adnan Karten. Bring deine Shisha mit!« Mit diesen Worten fährt Nauras los.
Tarek geht weiter zur Hauptstraße. Da bemerkt er, dass der Bus langsam vorbeifährt. Er steckt zwei Finger in den Mund und stößt einen schrillen Pfiff aus, um den Busfahrer auf sich aufmerksam zu machen. Der Fahrer bemerkt ihn, gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, dass der Bus voll ist und Tarek nur einen halben Sitzplatz haben kann, denn in diesem abgenutzten Minibus kann man nicht aufrecht stehen. Tarek nähert sich und schaut suchend hinein, ob Sanaa drinnen sitzt. Zu seiner Enttäuschung findet er sie nicht. Schnell entscheidet er sich, auf den nächsten Bus zu warten. Er dreht sich um und sucht mit Blicken die Straße ab. Und dann passiert, was heute nicht passieren sollte: ein Auto mit Militärkennzeichen fährt an ihm vorbei. Er kennt dieses Auto nur zu gut. Es ist das von Sanaas Vater, General Tamim Mahmoud. Er blickt kurz hinein und ist enttäuscht: Sanaa sitzt hinten und wird vom Chauffeur ihres Vaters gefahren. Sie halten kurz Augenkontakt. Sie lächelt schüchtern. Ihr Lächeln macht Tarek wahnsinnig. Er kann nicht genau einordnen, was ihn an Sanaa fasziniert … Ihre großen, grünen Augen mit Augenbrauen wie gebogene Schwerter darüber oder ihr magisches Lächeln oder ihre zarte, braune Haut oder ihre langen, dunkelbraunen Haare. Vielleicht ist es auch ihre energiegeladene Ausstrahlung oder einfach alles zusammen.
Aber jetzt ist alles umsonst gewesen, er hat zwei Einladungen, mitzufahren, ausgeschlagen und konnte Sanaa trotzdem nicht ansprechen. Nun muss er auch noch auf den nächsten Bus warten. Er setzt sich auf eine kleine Mauer neben der Straße und holt die Kopfhörer aus der Tasche. Aber zu seinem Glück hält ein Auto neben ihm, es ist Nauras: »Ich habe gesehen, dass sie im Auto sitzt. Ich habe mir gedacht, ich hole dich ab, bevor du hier wie ein einsamer Hund ewig wartest!«