Читать книгу Der Geruch der Seele - Jad Turjman - Страница 13
Arraqa, August 2015
ОглавлениеIch werde durch einen langen Flur mit vielen Türen geführt. Manche sind geschlossen, einige sind offen, in diesen Zellen sitzen Frauen mit angstvollem Gesichtsausdruck, manche sind gefesselt. Uns kommt eine Frau in Uniform entgegen, die zwei aneinandergefesselte Frauen hinter sich herzieht. Beide tragen ein weißes Gewand, das ihren Körper fast vollständig bedeckt, und bewegen sich, ohne eine Miene zu verziehen, wie seelenlose Roboter. Ich blicke in ihre Gesichter und ihre Augen sind leer. »Für wen sind diese Frauen, Schwester?«, fragt Abu Faruk neugierig.
»Es sind abtrünnige Jesidinnen für zwei unserer heldenhaften Brüder an der südlichen Front.« Abu Faruks Augen beginnen bei diesen Worten lüstern zu glänzen.
Meinen Körper durchzuckt es wie ein Blitz, als ich höre, was für ein Schicksal vermutlich auch mich erwartet. Abu Faruk öffnet wie angewiesen die letzte der Türen, schiebt mich in die Zelle und fordert mich auf, mich auf den Boden neben eine kauernde Frau zu setzen. Sie hat ihren Kopf auf die Knie gelegt und blickt nicht auf. Er stößt mich zu Boden und hockt sich vor mich hin. Er starrt mich an und blickt immer wieder zwischen meinen Augen und meinem Mund hin und her. Er rutscht immer näher an mich heran. »So eine Schönheit hat unser Gebäude noch nie vorher betreten. Wenn du wirklich eine Alawitin bist, wirst du sicher schnell gekauft werden. Leider habe ich für dich kein Geld mehr, ich habe mein ganzes Geld für eine bei weitem hässlichere Frau ausgegeben«, flüstert er und kommt immer näher. Ich spüre schon seinen heißen Atem, und es ekelt mich vor dem Geruch nach Rauch. Ich versuche, meinen Kopf gegen die Wand zu drücken, um möglichst weit von Abu Faruk weg zu sein. Die Frau neben mir bricht in Tränen aus. »Das Militär wird bald kommen. Sie werden uns sicher befreien!«, stößt sie unter Schluchzen hervor, ohne ihren Kopf zu heben. Abu Faruk schlägt sie auf den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen: »Hör auf, du jesidisches Miststück!«
Da öffnet sich die Tür und Um Baakr stürzt herein: »Warum sitzt du so nah bei ihr! Abu Faruk, steh auf und verschwinde!«
Abu Faruk erhebt sich enttäuscht und geht mit langsamen Schritten hinaus. Um Baakr blickt zu uns beiden. Da bemerkt sie Blut auf dem blauen Kleid der Jesidin. »Bist du verletzt oder hast du deine Periode?« Die Frau antwortet nicht. Um Baakr ruft laut nach einer Soldatin. »Marua!« Dann wendet sie sich wieder an die Jesidin: »Du solltest dich auf diese Ehe einlassen! Wenn du so weitermachst, wirst du nicht überleben. Du solltest deinem Ehemann gehorchen.«
Marua steht in der Tür. »Was befehlen Sie?«, fragt sie. An ihrem Dialekt erkenne ich, dass sie aus dem Maghreb kommt, vielleicht ist sie eine jener Tunesierinnen, die sich dem IS angeschlossen haben, weil sie dem Aufruf eines ägyptischen Scheichs gefolgt sind, sich als Sexualpartnerinnen zur Verfügung zu stellen, um den Kämpfern Entspannung während der harten Kämpfe zu bringen und Nachkommen für das Kalifat zu gebären.
»Marua, nimm sie mit und schau nach, warum sie blutet«, befiehlt Um Baakr.
Marua zerrt die Frau grob in die Höhe und stößt sie aus dem Raum. Um Baakr wirft mir einen schneidenden Blick zu und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Sie zieht meinen Ausweis aus der Tasche, die sie vorher von Abu Faruk bekommen hatte.
»Antworte mir schnell auf meine Fragen, ohne lang nachzudenken. Wie heißt du, mit vollem Namen«, fordert Um Baakr mich auf.
»Nadia Mohamed Thabet,« antworte ich, ohne zu zögern.
»Wann bist du geboren?«
»Am 9.4.1990.«
»Wo wurde dein Ausweis ausgestellt?«
» Sarouja, Damaskus Stadt.«
»Wann wurde er ausgestellt?«
Da zögere ich: »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Gut«, sagt Um Baakr, »es wäre verdächtig, wenn du das auswendig wüsstest.«
Ich vermeide während dieser Befragung jeden Augenkontakt und schaue zu Boden. Nach einigen Augenblicken des Schweigens verlangt Um Baakr von mir, mich nackt auszuziehen. Sie untersucht meine Kleidung und auch meinen Körper ganz genau. Wonach sie sucht, sagt sie nicht. Anschließend untersucht sie meinen Rucksack akribisch, während ich mich wieder anziehe. In einer Außentasche findet sie mein Handy und steckt es sofort in ihre Hosentasche. »Das schaue ich mir später an.« Dann kramt sie weiter. »Und was ist das?«, fragt Um Baakr und zieht einen Plastikbeutel voller Medikamentenschachteln heraus und schüttelt ihn. »Das sind meine Medikamente«, sage ich mit leiser Stimme. »Was hast du?«, will Um Baakr wissen und zieht eine Augenbraue in die Höhe. Ich zeige mich irritiert und zögere mit der Antwort.
Um Baakr schaut mich noch immer abwartend an. »Ich habe diese Medikamente nur zur Vorsorge mit«, antworte ich mit zitternder, unsicherer Stimme. Um Baakr sieht sich die einzelnen Schachteln genauer an. »Glaubst du, ich bin dumm? Das sind keine normalen Schmerzmittel, das sind Spritzen und Hormonpräparate.« Ich gebe mich wieder irritiert und schweige. Um Baakr wird ärgerlich, packt mich am Kopftuch und drückt mich gegen die Wand. Ihr wütendes Gesicht kommt ganz nah und sie schreit in mein Ohr: »Du bist hier nicht von einer kleinen Bande entführt worden. Wir sind ein Staat, wir haben Ärzte und Krankenhäuser. Rück einfach mit der Wahrheit heraus!«
Da beginne ich mit weinerlicher Stimme zu erzählen: »Ich habe Gebärmutterkrebs und ich habe gehört, dass im Islamischen Staat Menschen mit unheilbarer Erkrankung gnadenhalber getötet werden.« Ich bin gerade selbst überrascht von meiner Fähigkeit zu schauspielern. Dass ich eine so begabte Lügnerin bin, habe ich bisher nicht gewusst. Die Medikamente sind in Wirklichkeit für die Schwester meiner Freundin Samah bestimmt, die in Erbil lebt. Krebsmedikamente sind in Syrien trotz des jahrelangen Krieges immer noch billiger als im Irak. Sie zu meiner Verteidigung zu verwenden, war nicht geplant. Auch die Idee der Euthanasie ist mir erst jetzt gekommen, um überzeugend zu wirken.
»Was für ein Schwachsinn! Wer hat dir so etwas erzählt? Jeder, dem langweilig ist, erzählt irgendwelche Märchen über den IS.« Um Baakr ist verärgert. Wir schweigen beide. Ich setze mich auf das kleine Bett, das als einziger Einrichtungsgegenstand in dem schmalen Zimmer an der Wand steht, und starre auf den Boden. Um Baakr schaut mich nachdenklich an. »Bist du gerade rein, um beten zu können?«, fragt sie. Ich schüttle den Kopf. »Dann komm mit mir auf die Toilette, um den Wudū zu machen.« Als Um Baakr die Türe der Toilette im Nebenraum öffnet, treffen wir dort Marua, die tunesische Soldatin, und die jesidische Frau, die gerade gekrümmt über dem Toilettenloch steht und erbricht.
»Ich kann nicht herausfinden, warum sie blutet, ich glaube nicht, dass es nur ihre Periode ist. Sie spricht nicht mit mir. Sollen wir sie ins Krankenhaus bringen?«, fragt Marua Um Baakr verzweifelt. »Nein. Bring sie ins Erdgeschoss in den Entlassungsraum, ihr irakischer Ehemann soll sie heute wieder abholen«, ordnet sie an. »Er soll sich darum kümmern. Er ist so stur, er hat seine Kalaschnikow verkauft, um den Kaufpreis für sie zusammenzubringen, er wird sich etwas einfallen lassen. Und, Marua, bevor du das machst, bring mir einen Gebetsteppich in das kleine Zimmer«, fügt sie hinzu.
Ich kann gerade kein Mitleid mit dieser Frau empfinden, ich bin ganz im Überlebensmodus und nur auf mich konzentriert. Ich nähere mich dem Waschbecken und beginne unter den scharfen Blicken Um Baakrs mit der rituellen Waschung. Ich wasche Kopf, Arme, Mund, Ohren und Füße dreimal, um beten zu dürfen.
Der Zustand der Toilette steht in krassem Widerspruch zur Idee der Reinigung. Becken und Fußboden sind sehr schmutzig. Ich mache so weit alles richtig, Um Baakr legt keinen Widerspruch ein. Zurück im Zimmer, stelle ich mich gleich auf den Gebetsteppich. »Zähl mir die fünf Säulen des Islam auf«, fordert Um Baakr zu überzeugen.
»Das Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammed ist sein Prophet, das Beten: die fünf Gebete am Tag, das Fasten, Al Zakat: soziale Pflichtabgaben, und die Pilgerfahrt nach Mekka«, antworte ich mit leiser Stimme. Wie alle Prediger des IS glaubt Um Baakr, dass Alawiten keine Moslems sind. Sie halten uns für Abtrünnige, für Alkoholtrinker, sie denken, dass wir Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gehen dürfen und uns mit dem Islam nicht auskennen. Aber diese Vorurteile sind gerade von Vorteil, denn sie helfen mir, Um Baakrs zu überzeugen.
»In Ordnung, und was für eine Gebetszeit ist jetzt?«, fragt sie streng.
»Nachmittag, oder?«, antworte ich.
»Dann beginne jetzt«, nickt sie.
»Ist der Gebetsteppich in Richtung Mekka gelegt?«, frage ich sie.
»Bete jetzt«, herrscht mich Um Baakr an.
Ich spreche die Vorbereitungssätze, die ähnlich den Rufen des Muezzins vom Minarett sind, und bete nach sunnitischer Art. Als ich die letzten Worte im Knien ausspreche, breche ich in lautes Weinen aus. »Warum macht ihr das mit mir? Ich will nur zu meinem Mann nach Erbil! Lasst mich weiterreisen. Die Frau im Bus ist sicher dement«, stoße ich unter Schluchzen hervor.
»So einfach wirst du nicht wieder gehen dürfen, hör auf zu weinen, ich habe jetzt keine Zeit für dich«, mit diesen Worten ergreift Um Baakr meinen Rucksack und öffnet genervt die Türe.
»Warte kurz, lass mich bitte meine Medikamente nehmen. Kann ich noch ein Glas Wasser haben?«, bitte ich. Um Baakr schaut mich ein paar Sekunden regungslos an, dann nickt sie langsam und verlässt das Zimmer. Ich versuche, das Geschehene zu verarbeiten. Das kann doch nicht real sein? Das muss ein böser Traum sein. Ich denke verzweifelt nach, wie ich meinen Vater und Tarek über diese Ereignisse informieren könnte. Das war die dümmste Idee der Welt, durch das IS-Gebiet zu fahren … Möge Gott Salim Goldhands Hände brechen für diesen Plan! Nach einigen Minuten öffnet sich die Tür, ein Wächter und Marua begleiten Um Baakr, die mir eine kleine Wasserflasche und den Beutel mit den Medikamenten zuwirft.
»Warum sind alle Medikamente neu? Musst du nichts regelmäßig einnehmen?«, fragt sie misstrauisch.
»Doch, aber ich habe meine Handtasche mit den angebrochenen Schachteln im Bus liegen gelassen, als mich die Männer herausholten«, sage ich und bin wieder verwundert, wie schnell ich meine Lügen erfinde.
»Nimm deine Medikamente ein, du wirst jetzt ins Frauengefängnis gebracht. Du wirst dort in einigen Tagen von einem Arzt untersucht werden. Wenn du lügst, dann werde ich dich das Lügen bereuen lassen«, droht Um Baakr unmissverständlich. Als ich zwei willkürlich ausgesuchte Tabletten hinuntergeschluckt habe, packt mich der Wächter am Arm und zieht mich hinaus auf den Flur.
Beim Haupteingang wartet ein Auto auf uns. Bevor wir das Gebäude verlassen, legt Marua mir Handschellen an und stülpt einen dicht gewebten Stoffsack über meinen Kopf. Dann steigt sie mit mir in das Fahrzeug. Die Fahrt dauert ungefähr fünfzehn Minuten. Die zwei Männer, die uns begleiten, müssen beim Eingang zum Frauengefängnis, das von Kämpfern bewacht, aber von Kämpferinnen verwaltet wird, zurückbleiben. Marua übergibt mich an zwei Frauen, die mir den Sack vom Kopf ziehen. Sie nehmen mir das Kopftuch, meinen Gürtel und meine Schuhbänder weg und ohne weiter mit mir zu sprechen, führen sie mich in eine Einzelzelle im Erdgeschoss, die winzig klein ist und auf deren Boden nur zwei Decken liegen. »Du bekommst erst morgen zu essen«, sagt eine der Wächterinnen und wirft krachend die Metalltüre zu. In der Zimmerdecke ist eine schmale Öffnung, durch die als einzige Helligkeit das Licht einer Neonröhre dringt.