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Damaskus, April 2011

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»Meine Dame, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie die Polizisten auf unbewaffnete, friedliche Demonstranten das Feuer eröffnet haben! Dutzende Menschen fielen auf der Stelle tot um und die Menge lief hysterisch und panisch in alle Richtungen davon«, schreit eine aufgeregte Stimme im Fernsehen. Tarek sitzt mit vorgeneigtem Oberkörper vor dem Fernseher und schaut gebannt auf den Bildschirm.

»Habibi, bitte schalte dieses Gefasel aus, du wirst doch nicht diesen letzten Morgen mit den Nachrichten verbringen statt mit mir!«, bittet seine Mutter Salma, während sie einen Plastikbeutel mit Brotröllchen in seinen Rucksack packt.

»Habibti, einen kleinen Moment, ich möchte diesen Augenzeugen noch bis zum Ende hören. Die Demonstrationen in Damaskus haben letzten Freitag eine neue Dimension erreicht!«, versucht Tarek, sie auf später zu vertrösten, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen.

»Die Demonstranten haben nur nach Freiheit und Reformen gerufen! Und die Regimeschlägertypen haben einfach in die Menge geschossen, es gab einige Tote, unter ihnen auch Kinder, und Dutzende wurden festgenommen!«, berichtet der Augenzeuge der Moderatorin weiter.

»Habibi, du darfst nicht alles glauben, das ist Al Jazeera, und die verbreiten nur Nachrichten, die der Agenda ihrer Geldgeber dienen. Und dieser Augenzeuge, wie heißt er«, Salma schaut genauer auf den Bildschirm, »der sitzt wahrscheinlich bei ihnen im Studio in Doha!« Sie setzt sich neben ihren Sohn, nimmt die Fernbedienung und wechselt auf einen staatlichen Kanal. »Unsere Quellen berichten über gewalttätige Ausschreitungen im Umland von Damaskus. Jugendliche Demonstranten schleuderten Molotow-Cocktails auf die Polizeistation und verletzten dabei mehrere Polizeibeamte. Die Demonstranten wurden festgenommen. Sie gaben an, von Geheimdiensten der USA und Saudi-Arabiens angeheuert und bezahlt worden zu sein«, berichtet eine stark geschminkte Moderatorin. Daraufhin zeigt ein kurzer Film einen der Festgenommenen, der mit reumütig gesenktem Blick zugibt, dass er mit Dollars dafür bezahlt wurde, den Einflüsterungen des Teufels nachzugeben, um die Bevölkerung aufzuhetzen. Unmittelbar danach wird ein rhythmisches Lied gespielt, unterlegt mit vielen Bildern des Präsidenten. »Und wie ist das, hier gilt das Prinzip, dass die Nachrichten nur der Agenda der Geldgeber dienen, nicht?«

Die Ironie in Tareks Frage ist eindeutig. Salma schaltet den Fernseher aus, legt die Fernbedienung auf den Tisch und rückt näher an ihren Sohn heran. Sie legt eine Hand auf Tareks Schulter und die andere auf sein Knie. »Habibi, auf meiner Zunge sind Haare gewachsen, so oft habe ich mit dir schon darüber diskutiert. Du musst aufpassen. Ab morgen bist du ein Soldat im syrischen Militär! Ich werde es dir nicht verzeihen, wenn du an diesen Demonstrationen teilnimmst. Ich kann es nicht verkraften, wenn dir etwas passiert!« Das Flehen in ihrer Stimme wird deutlicher. Salma merkt, dass ihre Worte Tarek nicht erreichen. So wird sie bestimmter und lauter: »Habibi, deine Generation hat die Siebziger- und Achtzigerjahre nicht erlebt, das Regime in Syrien ist nicht wie das in Libyen oder Ägypten. Es hat sich seit vierzig Jahren mit Feuer und Schwert tief verwurzelt. Sie werden erst gehen, wenn sie das ganze Land zugrundegerichtet haben. Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben gesehen, was beim Massaker in Hama 1982 geschehen ist.«

Tarek steht auf und geht zum Fenster. Sein Herz ist schwer. Er schaut ins Leere und kann die Ironie des Schicksals nicht verstehen. Er träumt seit Jahren, dass dieses Regime und die Sippe dahinter ein Ende finden. Jetzt, wo es so weit ist, kann er nicht dabei sein, jetzt geht er nicht mit den Demonstranten auf die Straße, sondern muss seine Wehrpflicht erfüllen, um genau diesem Regime zu dienen.

Heute ist Sonntag, der Beginn einer neuen Woche. Und obwohl es erst acht Uhr früh ist, zeigt die Sonne schon ihre Kraft. Tarek beobachtet die Kinder, die spät dran sind und in ihren blauen Schuluniformen in die Schule laufen. Sie sehen aus dem fünften Stockwerk wie kleine Schlümpfe aus. Darüber hat Tarek sich öfter lustig gemacht, aber er hat auch Mitgefühl mit ihnen, er hat als Kind immer zu jenen gehört, die ein wenig zu spät kamen. Tarek hatte es gehasst, in die Schule gehen zu müssen, und sein Vater, der schon ganz verzweifelt war, musste ihn jeden Morgen mit Gewalt aus dem Bett werfen, da es weder half, ihn mit Wasser anzuspritzen, noch ihm vorzumachen, dass es schon acht Uhr war.

Gerade sieht er, wie der Schulwart das große Tor schließen möchte. Tarek kennt ihn gut. Vor Abu Mudar hatte Tarek damals große Angst, denn der verschloss immer absichtlich vor Tarek das Schultor, wenn dieser wie so oft zu spät kam. Das war seine Rache an dem Jungen, der, wenn er wieder einmal heimlich aus der Schule flüchten wollte, die Mülltonnen aufeinanderstapelte und, hinaufkletterte, wobei die Tonnen umkippten und ihren Inhalt über den Hof verteilten. In syrischen Schulen ist das Schulgelände wie ein Gefängnis von einer hohen Mauer umgeben und darf nur durch ein Tor betreten oder verlassen werden. Tarek war geübt darin, gemeinsam mit zwei Schulfreunden von der Mauer zu springen und unten abzurollen. Zu seinem Glück waren die Lehrer nachlässig und nahmen wegen seiner Abwesenheit nicht mit seinen Eltern Kontakt auf. Um genau zu sein, waren sie ganz froh, dass er öfters nicht in der Klasse war, denn er passte nie auf und war nur bemüht, Witze zu machen, um die anderen zum Lachen zu bringen.

Außerdem verspätete Tarek sich absichtlich, um sich die Rede des Direktors bei der morgendlichen Versammlung zur Fahnenbegrüßung im Schulhof zu ersparen, denn diese Rede über die Herrlichkeit und Glorie des ewigen Führers und seiner Partei wurde seit fünf Jahren wiederholt, ohne ein einziges Wort daran zu verändern. Tareks Onkel Nisar hatte ihm das Geheimnis der gleichbleibenden Rede offenbart. »Der Geheimdienst hat im Kopf des Direktors eine Schallplatte installiert, und jeden Tag drücken sie in der Zentrale auf einen Knopf«, erklärte er dem Jungen im Sommer 1999. Onkel Nisar studierte in Frankreich. Wenn er im Sommer nach Damaskus kam, durfte Tarek einige Zeit bei ihm verbringen. Er liebte den wachen Geist und die fantasievollen Geschichten seines Onkels.

Tarek hasste die Schule und die Lehrerinnen, die ihm bei jedem Versäumnis mit dem riesengroßen Holzstock gnadenlos auf die Hände schlugen. Ein Jahr später, als er in der fünften Klasse war, ersparte Tarek sich das Springen von der Mauer und ging oft gar nicht mehr in die Schule. Sein Onkel Nisar hatte ihm ein paar Bücher geschenkt, und auf einmal war er vom Lesen wie besessen. Er tat, als würde er in die Schule gehen, machte einen großen Bogen, steckte seine Schuluniform in den Rucksack, ging zurück zu seinem Wohnblock und verschwand im Keller. Zwischen den alten Möbeln las er bei schwachem Licht stundenlang. Eine Uhr hatte er nicht. Wenn er den Lärm der heimkehrenden Kinder hörte, kam er wieder aus seinem Versteck. Bald war er mit den Büchern von Onkel Nisar fertig. Tarek schaute sich zu Hause und bei Bekannten nach Lesestoff um, aber er stieß nur auf religiöse Bücher. In der Schulbibliothek war es nicht besser. Dort ging es nur um Geographie, Nationalismus und um die Herrlichkeit des Präsidenten und seiner Partei. Seine Suche war auf Romane ausländischer Autoren gerichtet, kam allerdings rasch an ihr Ende, weil sein Schulschwänzen aufflog und sein Vater ihn schmerzhaft wieder zurechtbog. An diesem Abend verwandelte sich sein Vater Basam in Rocky Balboa und boxte ihn so heftig von allen Seiten, dass Tarek nicht mehr wusste, wo sein Vater stand. Er solle nie wieder ans Schulschwänzen denken. Einen der Boxhiebe bekam er auf die Schulter, die ihn noch jahrelang schmerzen sollte.

Trotz allem las Tarek manchmal heimlich in der Klasse weiter. Eine Geschichte liebte er ganz besonders: »Die Verwandlung« von Franz Kafka. Er identifizierte sich stark mit der Hauptfigur. Wenn er schlechte Noten hatte und nicht in die Schule gehen wollte, fühlte er sich wie der Käfer. Später, als Erwachsener, würde er eine andere Interpretation für diese Metapher finden.

Nach all den Jahren wirkt der Schulwart Abu Mudar auf Tarek nicht mehr so bedrohlich wie damals, sein böser Blick ist milder geworden und mit seinem gebeugten Rücken steht er kurz vor der Pensionierung. Jetzt lässt er alle Kinder durch das geöffnete Tor, obwohl es schon zwei Minuten nach acht ist, und sperrt es erst nach dem letzten Nachzügler ab.

Tareks Blick bleibt auf das Schultor gerichtet, er ist ganz in Gedanken versunken. Er nimmt kaum wahr, dass Salma hinter ihn tritt. »Habibi, bitte schau immer darauf, dass dir nicht kalt ist«, sagt sie mit besorgter Stimme und umarmt ihn fest von hinten. Tarek blickt weiterhin schweigend aus dem Fenster. »Tarek! Hörst du mich?«, wird sie lauter. »Ja, Habibti, mach dir keine Sorgen! Außerdem ist schon Frühling und vielleicht habe ich ja Glück und werde in Latakia oder in Tartus am Meer stationiert«, erwidert Tarek, lächelt seine Mutter an und versucht, sie aufzurichten. »Nein, Habibi, sag das nicht. Lass uns doch hoffen, dass du in der Nähe von Damaskus stationiert wirst und oft nach Hause kommen kannst«, erwidert Salma.

»Was haben wir ausgemacht? Ruhe bewahren! Ich werde nicht sterben! Es sind nur ein Jahr und neun Monate. Die werde ich ganz sicher überleben. Außerdem weißt du doch, dass der Vater von Nauras ein hochrangiger Offizier ist, der sich sicher dafür einsetzen wird, dass ich einen relativ ruhigen Büroposten bekomme«, sagt Tarek tröstend.

Ihn bedrückt auch, dass sein Vater sein festes Ritual eingehalten und bei seiner zweiten Frau übernachtet hat, obwohl Tarek an diesem Tag zum Militär einrücken muss. Tarek ist mit der Regelung aufgewachsen, dass sein Vater jeden zweiten Tag bei seiner anderen Familie verbrachte. Tarek wusste von ihnen, hat aber weder seine drei Halbschwestern noch Basams zweite Frau jemals kennengelernt. Der Vater wollte diese strikte Trennung. Tarek hasste diese zweite Frau von Anfang an und machte sie für die Kälte in seinem Zuhause verantwortlich. In seinem Freundeskreis kennt er niemand, dessen Vater zwei Frauen hat. Basam beruft sich dabei auf die religiöse Erlaubnis zur Polygamie. Aber er weiß, der Koran verpflichtet den Mann, der mehrere Frauen heiratet, gerecht zu sein und sie ganz und gar gleich zu behandeln. Jedoch geht Gott im Koran davon aus, dass diese verpflichtende Gleichbehandlung keinem Mann jemals gelingen kann. Daher schläft Basam abwechselnd bei seiner ersten Frau Salma und bei seiner zweiten Frau. Und das ist das Einzige, womit Basam seinen beiden Frauen und Familien Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Tarek hatte seine Enttäuschung darüber schon immer vor seiner Mutter verborgen, sie hatte unter diesem Mann genug gelitten, und er will auch heute keine alten Wunden aufreißen. Salma erfuhr durch Zufall von der zweiten Frau, einen Monat vor Tareks Geburt. Basam war bei der Geburt nicht dabei, als wollte er seinem Sohn gleich vermitteln, übernimm du meine Rolle bei deiner Mutter. Tarek erlebte seinen Vater zu Hause niemals lächelnd. Für ihn war deutlich, dass der Vater nur zu ihnen kam, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Sobald er die Wohnung betrat, setzte er sein Pokerface auf, nahm auf seiner Stammcouch Platz, schaute mit unbeweglicher Miene in den Fernseher und sprach mit Salma nur das Allernotwendigste. Tarek und seinen beiden Geschwistern hielt er nur ihre schulischen Misserfolge vor. Draußen bei seinen Freunden erlebte Tarek seinen Vater als rhetorisch begabten Charmeur und begnadeten Erzähler. Den staatlichen Kanal hatte er auf die lauteste Lautstärke aufgedreht. Tarek bewunderte seine Extrovertiertheit und sein Selbstbewusstsein, er ahmte den Vater nach und benahm sich in großen Runden wie er. Wie Basam liebte er es, den Frauenhelden zu spielen. Bei Festen begeisterte Basam Verwandte und Nachbarn mit seinen Erzählungen über jene Zeit, als er noch das Büro des Vizepräsidenten leitete. Mittlerweile hatte der Vizepräsident nach Frankreich fliehen müssen und dort Asyl erhalten. Ihm wurde unterstellt, in den Achtzigerjahren deutsche und französische Bestechungsgelder angenommen zu haben, um diesen Ländern zu gestatten, Atommüll in der Wüste bei Palmyra zu vergraben. Das Büro wurde daraufhin aufgelöst, Basam und alle Mitarbeiter eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft genommen. Auch seine attraktive Sekretärin, mittlerweile Basams zweite Frau, wurde festgenommen. Jeder Mensch, der dem Vizepräsidenten jemals die Hand gegeben hatte, wurde über sein Verhältnis zu ihm befragt. Seitdem hatte sich das Leben für Tareks Familie grundlegend verändert, sie mussten sich von ihrem Wohlstand verabschieden und lernten, mit den neuen Umständen umzugehen. Basam versuchte mehrmals, sich selbständig zu machen, aber er scheiterte jedes Mal.

Tarek dreht sich um und nimmt Salma in die Arme. »Jetzt muss ich aufbrechen«, flüstert er an ihrem Ohr. Salma protestiert: »Warum willst du jetzt schon gehen, du musst dich doch erst um 12 Uhr bei deiner Aufnahmestelle melden!«

»Ich muss mich mit Adnan und Nauras treffen, bevor ich einrücke, das habe ich ihnen versprochen«, grinst Tarek. Er ist schon seit seiner Kindheit ein begnadeter Lügner, aber bei Salma hat ihm diese Begabung noch nie genützt, sie durchschaut ihn jedes Mal. Salma grinst zweifelnd zurück. »Du willst doch diese Alawitin treffen. Dir ist es wichtiger, mit ihr Zeit zu verbringen als mit deiner Mutter«, klagt sie wie ein kleines Kind. »Sanaa heißt sie, Mama«, und das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Tarek hat keine Lust, schon wieder über dieses Thema zu diskutieren. Ihm ist bewusst, dass diese Beziehung bei seiner sunnitischen Familie unerwünscht ist. Die religiösen Gegensätze sind so groß, dass es für einen Moslem akzeptabler ist, eine Christin zu heiraten als eine Alawitin, obwohl Alawiten und Sunniten islamischen Konfessionen angehören. Sein Onkel Nisar, der in Frankreich Chemie studiert hat, hat dort eine katholische Französin geheiratet. Das wurde in der Familie mit weit weniger Aufregung zur Kenntnis genommen als Tareks Beziehung mit Sanaa. Diese religiösen Grenzen haben für Tarek kein Gewicht. Er lächelt seine Mutter wieder an. In dieser Stunde des Abschieds soll kein Unfrieden aufkommen. »Ich lasse diese schönen Augen nicht traurig werden, trinken wir noch einen Mokka zusammen.« Mit diesen Worten geht er bereits Richtung Küche. Er holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und schreibt Sanaa, dass er sich ein bisschen verspäten wird.

In der Küche füllt er die Kupferkanne für den Kaffee mit frischem Wasser und stellt sie auf den Gasherd. Er öffnet das Glas mit dem Kaffeepulver und atmet den Geruch des Mokkas, der mit Kardamom gemischt ist, tief ein. Tarek liebt diesen zurückhaltenden Duft des Kardamoms, der sich seiner Macht bei voller Entfaltung bewusst ist. Plötzlich klingelt es. Salma öffnet die Türe, es ist Sausan, Tareks Schwester. Sie betritt die Wohnung keuchend mit ihrem neunmonatigen Baby im Arm. Sie gibt es Salma weiter, stürzt in die Küche, auf Tarek zu und umarmt ihn fest: »Gott sei Dank habe ich dich noch erwischt!« Tarek freut sich, das tut ihm gut an diesem Tag. Die beiden hatten immer eine enge Beziehung. Sausan nennt Tarek »meinen Geheimnisbrunnen«. Er hatte sie, als sie noch ein Teenager war, oft vor den Händen des Vaters und des ebenfalls gewalttätigen Bruders Salman bewahrt. Tarek wusste alles von Sausans ersten Erfahrungen mit jungen Männern und reagierte gelassen darauf, was keineswegs üblich war. Tareks Haltung unterschied sich radikal von der seines jüngeren Bruders, der Sausan immer geschlagen hatte, wenn er sie unterwegs mit jungen Männern sah.

Salman hatte die Schule mit fünfzehn Jahren abgebrochen, den Beruf des Schneiders erlernt und führte mittlerweile einen eigenen Betrieb. Basam hatte Salmans Brutalität stets befürwortet und Tarek oft verspottet: »Salman schützt unsere Ehre, und du, du lernst von deinen ehrlosen Unifreunden, wie man Hörner aufsetzt.« Tarek würde erst später darauf reagieren können, als er erfuhr, dass sein Vater bei seinen Halbschwestern ganz andere Regeln anwendete. Sie dürfen sehr westlich und modern erzogen werden, denn ihre Mutter findet, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen sollen. Basam hingegen schwor nach jeder, oft auch gewalttätigen Auseinandersetzung mit Sausan, sie dem Ersten, der um ihre Hand anhielt, zur Frau zu geben. Und das tat er dann auch: Er akzeptierte den Heiratsantrag eines Metzgers und mutete Sausan diese Zwangsehe zu.

Inzwischen ist der Mokka fertig und Tarek kommt mit einem Tablett, auf dem alles hergerichtet ist, ins Wohnzimmer. »Hier ist der beste Mokka für die schönste junge Mutter auf der Welt!« Mit diesen Worten reicht Tarek seiner Schwester eine Kaffeetasse. Sausan lächelt zurück, aber langsam füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Habibti, warum weinst du, es sind nur ein Jahr und neun Monate, und dann kehre ich zurück und ich werde euch sicher immer wieder besuchen können«, versucht er sie zu trösten. Doch Sausan weint nicht, weil ihr Bruder zum Militär eingezogen wird, sondern weil ihr Mann, der Metzger, wieder begonnen hat, sie zu schlagen. Salma versucht das Thema zu wechseln. Sie weiß ganz genau, dass Tarek darauf explosiv reagieren und es wiederum zu einer Auseinandersetzung mit seinem Schwager kommen wird. Zu ihrem Glück klingelt es in diesem Augenblick an der Haustür. »Vielleicht ist es dein Bruder Salman«, hofft Salma und geht zur Tür. »Was sagst du zu den Ereignissen im Land? Ist es eine gute Idee, jetzt zum Militär zu gehen?«, fragt Sausan ihren Bruder.

»Ich habe keinen anderen Plan, auch wenn es noch nie eine gute Idee war, zum Militär zu gehen. Ich bin sehr verwirrt«, seufzt Tarek.

»Mit Sanaa habe ich gestern telefoniert, sie weiß nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen soll«, will Sausan das Gespräch in eine andere Richtung lenken, stoppt aber abrupt, um kein Salz in die Wunden ihres Bruders zu streuen. »Was in den letzten Monaten passiert ist, war so surreal und hat alle unsere Pläne über den Haufen geworfen«, greift Tarek das Thema auf.

Da betritt Salma mit der Putzfrau Om-Fatima wieder den Raum. Als Tarek sie ansieht, zuckt er zusammen. Er hat vor dieser Frau seit seiner Kindheit Angst, und auch wenn er jetzt ein einundzwanzigjähriger, erwachsener Mann ist, schreckt er noch immer vor ihren finsteren Blicken zurück. Om-Fatima ist mittlerweile eine alte Frau, eine Beduinin aus der Wüste, die seit Jahrzehnten in dem teuren Barzeh-Viertel putzt, in dem Tareks Familie wohnt. Sie reinigt das Stiegenhaus und auf Anfrage die Wohnungen. Aber nicht nur das, sie liest auch aus Händen und Kaffeetassen und löst schwarzmagische Flüche und Schadenzauber auf. Ihr Aussehen ist seit Jahren immer dasselbe. Sie trägt eine schwarze, lange Abaya. Ihre Stirn schmückt eine Kette mit bunten Steinen. Ihre Augen sind nachtschwarz umrandet, und sie hat auf der Stirn eine Tätowierung, vier blaue Punkte und ein roter, die ein verkehrtes Kreuz bilden. Unter der Unterlippe schmückt sie ein mysteriöses Tattoo. Tarek glaubt allerdings nicht an ihre übersinnlichen Fähigkeiten, er empfindet nur große Abneigung ihr gegenüber, denn sie hat ihm als Kind sehr wehgetan. Damals, als Tarek neun Jahre alt war, hatte Salma Om-Fatima gebeten, zu überprüfen, ob Tarek von einem Djinn besessen war, da er zeitweise kaum zu bändigen war und oft mit dem Fußball in der Wohnung randalierte. Die alte Frau saß damals auf der Couch und Tarek musste vor ihr auf dem Boden niederknien. Sie drückte fest auf seinen rechten Zeigefinger und murmelte dabei etwas in einer unverständlichen Sprache. Der Druck wurde immer stärker, sodass Tarek zu weinen und zu schreien begann. Als er den Druck nicht mehr aushalten konnte, biss er in ihre Hand, rannte in sein Schlafzimmer und versteckte sich unter dem Bett. Das Problem löste sich allerdings von selbst, als seine Eltern draufkamen, dass ihm sein Onkel Nisar stets Gläser mit Schokoladencreme mitbrachte, wenn er mit seiner französischen Frau aus Paris zu Besuch kam. Tarek aß die Creme nicht auf Brot, sondern löffelte die Herrlichkeit heimlich in seinem Zimmer. Im Kasten fanden sich einige leergegessene Gläser, und als Tarek daraufhin seinen Zuckerkonsum radikal einschränken musste, legte sich auch seine Hyperaktivität.

Om-Fatima geht auf Tarek zu und legt ihre Hand auf seine Schulter. »Ich habe gehört, du rückst heute ein. Möge dir Gott den richtigen Weg voller Wohltäter offenbaren«, wünscht sie ihm. Tarek spürt ihre Hand schwer auf seiner Schulter, als hätte sie hundert Kilo, und so neigt er seinen Körper ein wenig. Er will nicht unhöflich sein, aber er will ihre Hand nicht spüren.

Sausan fragt Om-Fatima: »Liest du mir endlich einmal aus der Hand? Ich möchte wissen, wann mein Mann sterben wird!«

»Ich darf niemals den Tod eines Menschen verraten. Ja, ich lese dir aus der Hand, aber erst, wenn Tarek mir erlaubt, auch seine Hände zu lesen«, antwortet sie und schaut ihm dabei in die Augen. Om-Fatima lässt sich nie dafür bezahlen, die Zukunft aus der Hand zu lesen, sie macht es selten und nur, wenn sie Lust dazu hat. Viele Nachbarn schwören auf ihre hellseherischen Fähigkeiten. Tarek ließ sich aber nie davon beeindrucken, obwohl sie ihm ihre Dienste schon einmal angeboten hatte. Er hält das Ganze für Schwachsinn. Sausan versucht ihren Bruder zu überzeugen, und der verdreht die Augen, streckt den Arm aus und sagt: »Ich muss in zehn Minuten den Bus erwischen! Sei also kurz und prägnant!«

Om-Fatimas Augen glänzen und werden ganz schmal. Sie setzt sich im Schneidersitz vor Tarek auf den Boden und nimmt seine Hände. Es ist wie damals, nur mit vertauschten Sitzpositionen. Sie wirft einen Blick auf seine Handflächen und atmet tief ein. Tarek spürt sofort Om-Fatimas ungeheure Energie. Er kann nicht zuordnen, ob sie positiv oder negativ ist, auf jeden Fall aber ist sie ihm zu stark. Er setzt sich auf, macht sich breit und zieht die Augenbrauen zusammen. Er möchte mit dieser Energie nicht in Kontakt kommen. Salma und Sausan setzen sich zu ihm und richten ihre Blicke fest auf Om-Fatima. Alle schweigen. Salma schaltet den Fernsehapparat aus. Nach einer Minute bricht Tarek das Schweigen. »Und? Kannst du mir jetzt sagen, wann ich Präsident werde?« Om-Fatima schaut ihm kurz in die Augen und blickt wieder in seine Hände. Dann beginnt sie eindrücklich zu sprechen. »Vor dir liegt ein langer und mühevoller Weg, der dir ein unbekanntes Territorium in deiner Seele offenbaren wird. Jedoch musst du ihn zu Ende gehen und viel Schmerz durchleben. Ich könnte dir sagen, rück nicht ein, geh nicht zum Militär, aber den einfachen Weg im Leben zu nehmen, führt niemanden zu sich selbst. Nur wenn du Leid und Anstrengung in Kauf nimmst, kannst du dir selbst begegnen.«

Om-Fatima schaut mit ernster Miene zwischen Tareks Augen und seinen Händen hin und her. Tarek kann ihre Worte nicht einordnen, aber er hört weiter wortlos zu. »Ich sehe auch, dass du dir deine Finger an der Liebe schwer verbrennen wirst. Aber scheue auch davor nicht zurück. Wer von der Liebe besiegt wird, hat gewonnen. Merke dir diese Worte gut und behalte sie wie Ohrringe in deinen Ohren: Die Liebe ist wie ein Kamin. Um das Feuer am Brennen zu halten, muss man klug mit ihm umgehen können. Man darf nicht zu wenig Holz hineinwerfen, sodass es erlischt, und auch nicht alles Holz auf einmal, sodass man es in der Nähe nicht mehr aushält.« Om-Fatimas Ton ändert sich, sie spricht nicht mehr voll Überschwang und theatralisch, sondern bedächtig und wohlwollend. Tarek zieht seine Hände aus den ihren und meint spöttisch: »Danke für die Prophezeiung, Frau Wahrsagerin! Schau nicht so viele Hollywood-Filme!« Er hätte ihr gerne noch gesagt: Welche Zukunftsaussichten, die man vorher überhaupt wissen will, haben wir in diesem Land, in dem wir wie Schafe leben, aber er hält sich zurück. So steht er auf, umarmt seine Mutter und seine Schwester lange, küsst dann das Baby auf die Stirn, nimmt seinen Rucksack und geht, denn Sanaa wartet auf ihn im Park. Er will noch möglichst viel Zeit mit ihr verbringen.

Ihr Plan für eine gemeinsame Zukunft ist zunächst gescheitert, sie müssen sich einen neuen Plan ausdenken, und die Hürden, die sie schon überwunden haben, waren nur eine Kostprobe dessen, was ihnen bevorsteht.

Der Geruch der Seele

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