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Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?

Das beliebte Online-Spiel ist makaber, die Regeln aber denkbar einfach: Jemand lädt ein Foto hoch und wer die Identität der Person darauf errät, darf das nächste Bilderrätsel stellen. Ein endloses Spiel, bei dem die Spieler aus aller Welt seit mehr als zehn Jahren nicht die Lust verlieren. Bei ihrem Quiz geht es ausschließlich um Männer, meist in Schwarz-Weiß und in Uniform. Und noch etwas haben alle gemeinsam. Jeder von ihnen war Teil derselben Organisation – der wohl verbrecherischsten der Geschichte.

Seit 1999 tauschen sich militärhistorisch Interessierte in der internationalen Online-Community „Axis History Forum“ über die Geschichte der Achsenmächte (Axis Powers) im Zweiten Weltkrieg aus. Über Schlachten, Waffen, Einheiten, neue Archivfunde, vermisste Großväter, „Frauen im Dritten Reich“ und Hunderte andere Themen. Wer mitdiskutieren will, muss sich an die Forumsregeln halten: Hakenkreuze sind als Profilbild nicht erlaubt, dafür aber Symbole wie der SS-Totenkopf. Der ist in Deutschland verboten, im „Axis History Forum“ aber äußerst populär. Man toleriere außerdem keine Beleidigungen, keinen Rassismus und keine Posts, die den Holocaust leugnen oder den Nationalsozialismus, Faschismus oder eine andere totalitäre Diktatur glorifizieren. Eigentlich.

„Ich bin natürlich ein großer Experte für SS-Personal und für Foto-Identifikation“, schrieb der Hobbyhistoriker Max Williams auf Englisch und ohne Bescheidenheit am 3. Juni 2007 in das Forum.2 Er schlug ein makabres Spiel vor, bei dem die Männer der „Schutzstaffel“ im Mittelpunkt standen, Adolf Hitlers größtem Machtinstrument für Terror und Mord im „Dritten Reich“. Er nannte es „SS ID Quiz“. Der „Rätselspaß“ ist den Usern bis heute nicht vergangen, vor allem Max Williams nicht, der sein Quiz konkurrenzlos dominiert. Die Fotos auf den mittlerweile über 450 Forumsseiten zeigen meist hochrangige Offiziere aus der Waffen-SS, insbesondere von den Kampfverbänden – manchmal aber auch von den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Schwierig wurde es, wenn die Männer keine SS-Uniform trugen.

Mit dem Bild eines jungen Mannes, Anfang 20, in einer Matrosenuniform taten sich die User im Juni 2017 besonders schwer (siehe Bild auf Seite 26). Nach zwei Tagen gab „J. Duncan“ zwei Hinweise: „Er backte, was Hitler liebend gern aß“ und „Ignoriert von Tom Segev”. Da stieg sogar der selbst ernannte SS-Experte Max Williams nicht gleich dahinter: „Kuchen? Ein Lagerkommandant? Verdammt, selbst die Hinweise sind Rätsel! Komm schon, sei gnädig“3 Gesucht war also ein Konditor, der in der SS bis zum Kommandanten eines Konzentrationslagers aufgestiegen war.

Der zweite Hinweis war etwas schwieriger zu entschlüsseln, musste man dafür das Buch des israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev „Soldiers of Evil“ (1987, dt. 1988: „Die Soldaten des Bösen“) sehr aufmerksam gelesen haben – oder zumindest das Namensregister. Segev erzählt die Geschichte der Konzentrationslager mit den Geschichten der Männer, ohne die weder die Terrorherrschaft noch die Massenmorde möglich gewesen wären. Lange bevor sich in Deutschland eine eigene ernst zu nehmende Täterforschung etablierte, rekonstruierte Segev als junger Promotionsstudent mit bemerkenswerter Akribie, Geduld und Hartnäckigkeit in den 1970er-Jahren die Biografien von 36 KZ-Kommandanten mit Unterlagen des Berlin Document Centers (BDC), heute Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. „Die Personalakten liefern allerdings keine wohlfeile Antwort auf die Kardinalfrage der Geschichtsschreibung: ‚Wie konnte das alles passieren?‘“1, schreibt Segev im Vorwort. „Viele dieser Akten sagen uns jedoch, wie gewisse Leute, Nazis, SS-Männer, sich einverstanden erklärten, den Terror zu ihrem Beruf zu machen und wie es ihnen möglich war, den Mord an Millionen von Menschen als Teil ihrer täglichen Routine zu erledigen“.4 Er, der Sohn eines Juden, der 1933 mit seiner Frau aus Deutschland fliehen musste, befragte nicht nur Tausende von Akten nach den Motiven der Täter, sondern auch drei noch lebende Kommandanten und Angehörige der bereits verstorbenen. Zehn von insgesamt etwa 50 Lagerkommandanten5 kommen allerdings in Segevs Buch tatsächlich nicht vor, darunter der 2017 im „SS ID Quiz“ gesuchte Konditor und frühere Matrose. Dabei hatte sich der junge Historiker damals auch dessen Personalakte angeschaut und sie in seiner Dissertation auf fünf Seiten zusammengefasst – die hatte „J. Duncan“ offenbar aber nicht gelesen, als er seine beiden Hinweise postete.6

Erst nach drei Tagen löste der Slowake Machal alias „goofy“ das knifflige Rätsel im „Axis History Forum“. „Ich glaube, das ist Adolf Haas“, schrieb er und bekam einen lachenden Smiley als Antwort.

Schon zehn Jahre zuvor hatten andere Forums-Mitglieder Material zum KZ-Kommandanten Adolf Haas zusammengetragen.7 An seiner Biografie schien zunächst nichts besonders: Adolf Haas wurde am 14. November 1893 in Siegen geboren und wuchs in Hachenburg im Westerwald auf. Er machte die Ausbildung zum Konditor, ging in seiner Wehrdienstzeit zur Marine und geriet im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr gründete er eine Familie und machte sich als Bäcker selbstständig. 1931 trat Haas in die NSDAP ein und 1932 oder 1933 – ganz sicher waren sich die User nicht – in die SS. Vor allem die Stationen seiner schnellen „Karriere“ in Heinrich Himmlers „Schwarzen Orden“ diskutierten sie ausgiebig, einschließlich der exakten Daten seiner Beförderungen: Bald war Adolf Haas seine Tätigkeit als SS-Führer wichtiger als seine Bäckerei. 1940 bewährte er sich als Zweiter Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen und bekam kurz darauf das Kommando über sein erstes eigenes Lager in Niederhagen, am Fuß der Wewelsburg bei Paderborn. 1943 baute er sein zweites Konzentrationslager auf: Bergen-Belsen.

Warum sich Adolf Haas der NS-Bewegung angeschlossen hatte, wieso er sich für die SS entschieden hatte, an welchen Verbrechen er sich beteiligte, wie viele Menschen in seinen Lagern starben, was für ein Mensch er selbst war – all diese Fragen, die Tom Segev in seinem Buch gestellt hatte, spielten in der Diskussionsgruppe keine Rolle. Dort interessierte nicht der Mensch, sondern nur der „politische Soldat“ Adolf Haas. Nur die harten „Fakten“ zählten, von denen einige nicht stimmten: „Am 20. Dezember 1944 übernahm er die Führung des SS-Panzergrenadierbataillons 18. Haas gilt seit dem 1. Mai 1945 als vermißt.“8 Tatsächlich übernahm er nicht die „Führung“ des Bataillons und wurde auch nicht seit dem 1. Mai vermisst, sondern offiziell bereits seit Mitte März 1945. In einem anderen Kommentar hieß es, Haas wäre nach dem Krieg „von den Russen zum Tode verurteilt und exekutiert“ worden. Einen Beleg gab es nicht.9

Die User im „Axis History Forum“ waren natürlich nicht die Ersten, die sich für Adolf Haas interessierten. Das Wesentlichste samt einigen fehlerhaften Informationen hatten sie damals wortwörtlich aus einem im Internet veröffentlichten Erneuerungskonzept des Kreismuseums Wewelsburg für die Ausstellung „Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ kopiert – allerdings ohne den spannenden Abschnitt über Haas‘ schlechte Beurteilungen, seine Schwächen, Arroganz, Affären und verhängnisvolle, laienhafte Kunstliebe.

Mehrere Historikerinnen und Historiker haben sich seit den 1960er-Jahren immer wieder seiner Biografie gewidmet. Meist aber nur mit wenigen Seiten in ihren ansonsten sehr lesenswerten Büchern zur NS-Zeit im Westerwald, den Konzentrationslagern Wewelsburg und Bergen-Belsen oder allgemein zur Lager-SS.10 Darin kamen sie zum Teil zu sehr unterschiedlichen Urteilen über seinen Charakter, seine Motive und Lagerführung: Karl Hüser schreibt in der ersten Monografie zum KZ Niederhagen/Wewelsburg, „Adolf Haas und seine Helfer“ hätten „neben der großen Zahl“ gezielter „Mordaktionen“ auch „einen erheblichen Teil der Häftlinge durch Hunger, Krankheiten und Arbeitsschinderei umkommen“ lassen.11 Einige Häftlinge bevorzugte er aber offenbar: „Der Lagerkommandant Haas schätzte die handwerklichen und oftmals künstlerischen Fähigkeiten der Häftlinge und nutzte sie für seine eigenen Zwecke“, erläutert Kirsten John-Stucke, die heutige Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg.12 Eberhard Kolb, der Nestor der Bergen-Belsen-Forschung, sieht in ihm einen „ebenso primitiven wie zur Leitung eines ‚Austauschlagers‘ völlig unqualifizierten SS-Führer“.13 Er war allerdings „weder ein ‚scharfer‘ Lagerkommandant noch ein ausgesprochener Judenhasser oder Sadist“, aber mitverantwortlich für das schreckliche „Inferno“ 1945, meint Alexandra-Eileen Wenck im neueren Standardwerk zum KZ Bergen-Belsen.14 Die Überlebenden hätten ihn vielmehr als einen „behäbigen an der eigenen Bequemlichkeit mehr als an seiner Aufgabe interessierten SS-Führer“ charakterisiert, schreibt Karin Orth in ihrer Studie zur Konzentrationslager-SS.15

Doch wie konnte ein vermeintlich „primitiver“, „unqualifizierter“ und „bequemer“ Mann in der SS so weit aufsteigen, die sich unter Reichsführer-SS Heinrich Himmler als „Elite“ zelebrierte ? Was half ihm dabei und wer?

Wenn Haas kein „Judenhasser“ und „Sadist“ gewesen sein sollte, was trieb ihn dann zur SS ? Mit welcher Überzeugung beteiligte er sich an Verbrechen?

Wie vereinbarte er es mit seinem Gewissen, dass in seinen Lagern nachweislich mindestens 3026 Menschen umkamen?16 Beschützte er dagegen tatsächlich Künstler und Handwerker, auch jüdische ?

Dieses Buch fügt die verschiedenen, teils unvereinbar wirkenden biografischen Puzzle-Teile erstmals zusammen. Es kann allerdings nicht das Rätsel lösen, das nach 1945 nicht nur die Bewohner seiner Heimatstadt noch viele Jahre beschäftigte: das Verschwinden von Adolf Haas kurz vor Kriegsende. Während seine Frau ihn für tot erklären ließ, kursierten in Hachenburg mehrere Gerüchte. Die einen sagten, er sei untergetaucht und habe immer wieder heimlich seine Familie besucht.17 Andere meinten, er lebe weit weg von zu Hause. „Es wurde gemunkelt, er sei in Spanien“, erinnerte sich der Hachenburger Gerhard Latsch, der als Kind mit Adolf Haas‘ Sohn befreundet gewesen war.18 Über Spanien seien ja viele Nazis „mit päpstlichen Pässen nach Argentinien gekommen. Eine ganze Menge Nazis sind so geflüchtet, nicht die ganz Großen, aber die Mittelgroßen.“

Dass sich der KZ-Kommandant Adolf Haas nach Lateinamerika abgesetzt haben könnte, war auch meine erste Spur: Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur für Geschichte bei der WELT, und ich folgten im Sommer 2013 einem Hinweis, dass sich Haas in Brasilien ein neues Leben aufgebaut haben sollte, sogar mit einer neuen Frau. Wie die Historikerinnen und Historiker zuvor arbeiteten auch wir uns zunächst durch die 150-seitige SS-Personalakte im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, entdeckten damals aber ebenfalls keine Anhaltspunkte zu seinem Verschwinden. Die Spur endete in einer Sackgasse – so wie für alle, die nach dem verschollenen KZ-Kommandanten suchten: erst die Alliierten, dann die österreichischen und deutschen Behörden und in den 1990er-Jahren sogar einer seiner Enkel. Bis heute konnte keiner herausfinden, was mit Adolf Haas 1945 geschah. Auch ich nicht, trotz jahrelanger Recherchen.

Warum also noch ein Nazi-Buch? Diese Frage hörte ich oft. Literatur zum Nationalsozialismus ist seit 30 Jahren keine Mangelware mehr in den Buchläden. Die Bücher füllen ganze Bibliotheken. Warum braucht also der verschollene KZ-Kommandant Adolf Haas ein eigenes Buch? Zumal es nicht mit Enthüllungen zu einer spektakulären Flucht bei Kriegsende und einem geheimen Leben in Brasilien aufwarten kann.

Zum einen ist die erste Biografie von Adolf Haas ein Beitrag zur Täterforschung. Warum verüben Menschen Verbrechen, warum begehen sie Mord? Diese banale, aber höchst relevante und tagesaktuelle Frage beschäftigt nach wie vor ebenso Kriminologen wie Holocaust-Forscher. Die neuere Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft habe zwar, so der Historiker Frank Bajohr, „in den letzten zwanzig Jahren zu einer bis dahin unbekannten empirischen Rekonstruktion des Holocaust aus der Nahperspektive geführt und dabei frühere Grundannahmen“ korrigiert – am Ende ist sie aber noch lange nicht.19 Dass die „Vernichtungsmaschinerie“ stets „einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ darstellte, bemerkte der Politikwissenschaftler Raul Hilberg bereits 1961 in seiner bahnbrechenden Grundlagenstudie „The Destruction of the European Jews“ („Die Vernichtung der europäischen Juden“).20 Im Oktober 2017 wurde auf einer prominent besetzten internationalen Konferenz anlässlich Hilbergs 10. Todestages in Berlin dazu aufgerufen, sich im Sinne des Begründers der Holocaust-Forschung wieder mehr mit den kleinen Rädchen in der „Vernichtungsmaschinerie“, den „normalen“ Tätern, zu beschäftigen.21 Nicht zuletzt hatten die beiden Historiker Daniel Goldhagen und Christopher Browning Anfang und Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Studien eine hitzige öffentliche Diskussion angeregt, ob die NS-Täter ein besonders gewaltbereites, fanatisiertes Kollektiv oder eben doch „ganz gewöhnliche Deutsche“ bzw. „ganz normale Männer“ (ordinary men) waren – eine bis heute offene Frage.22

Der Bäcker Adolf Haas war ohne Zweifel ein ganz normaler Mann, aber auch einer der „normalen“ Täter – sowohl im Sinne seiner Sozialisation als auch seiner „Karriere“: Weder hatte er eine „kriminelle Neigung“ noch psychische Störungen. Weder war er besonders gebildet noch ein radikaler NS-Ideologe. Weder war er ein mächtiger noch ein berüchtigter SS-Funktionär. Er war schlichtweg Durchschnitt – so sahen es auch seine Vorgesetzten in den wenigen nicht beschönigten Beurteilungen.23 Die Biografien der Kommandanten kleinerer bzw. hierarchisch niedrigerer Lager, zu denen Niederhagen/Wewelsburg und anfangs auch Bergen-Belsen zählten, wurden bisher kaum abseits der Übersichtsliteratur erforscht. Dagegen standen vor allem die bekannteren Kommandanten der großen Lager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald sowie der Vernichtungslager im Osten im Vordergrund, aber auch Männer wie Karl Otto Koch und Amon Göth, die durch ihren Sadismus bekannt geworden sind, Letzterer nicht zuletzt durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“.24 Dass es allgemein nur zu einem Fünftel aller knapp 50 Kommandanten eigenständige Biografien gibt, liegt allerdings wohl weniger am Interesse als vielmehr an der dürftigen Quellenlage.

Die meisten Lagerkommandanten „hinterließen keine oder kaum subjektive Quellen, aus denen man auf ihre Handlungskonzepte oder auf ihre Motivation schließen könnte“, schreibt die Historikerin Karin Orth.25 Viele waren „weder intellektuell in der Lage, noch sahen sie überhaupt jemals die Notwendigkeit, über ihre Beweggründe zu reflektieren oder ein Handlungskonzept aufzuschreiben“. Das gilt auch für Adolf Haas. Wie in den meisten anderen KZ sorgte die SS in Niederhagen/Wewelsburg und Bergen-Belsen bei Kriegsende außerdem dafür, dass die Akten der Lagerregistratur nicht in die Hände der Alliierten gelangten.26 „Eine Biographie, die den Standards der Biographieforschung entspricht“, ließe sich „auf der Grundlage des überlieferten Quellenmaterials“ eigentlich nicht schreiben, resümiert Karin Orth für die Lager-SS.27 „Ihre Handlungsmaximen ließen sich meist nur aus der Rückschau gewinnen“. Genau das ist bei Adolf Haas erstaunlich ergiebig – trotz weniger subjektiver Quellen.

Einerseits ist seine SS-Personalakte ungewöhnlich umfangreich. Sie enthält zahlreiche auf Schreibmaschine getippte Beurteilungen und Beförderungsvorschläge seiner SS-Vorgesetzten, einige selbst verfasste Lebensläufe und Aufsätze sowie Korrespondenz und ein Gesprächsprotokoll anlässlich seiner Affären und eines Skandals in Bergen-Belsen, aber auch eine „SS-Ahnentafel“, auf der er bis ins 18. Jahrhundert seine „arische“ Abstammung nachweisen musste.28 Die pedantisch organisierte NS-Bürokratie hielt und hält allerdings weit mehr zu Adolf Haas bereit – nur eben weit verstreut in der Archivlandschaft. Mit dem zum großen Teil erstmals ausgewerteten Aktenmaterial aus 16 Archiven in Deutschland, Luxemburg und Großbritannien lassen sich seine Biografie, sein Karriereweg und seine Verbrechen rekonstruieren. Die Erkenntnisse der NS-, Holocaust- und Täterforschung spielen dabei eine wichtige Rolle. Da das Buch sich nicht nur an ein Fach-, sondern ein allgemein historisch orientiertes Publikum richtet, finden die verschiedenen Konzepte und Literaturhinweise allerdings meist in den Endnoten ihren Platz.

Einen emotionalen Zugang ermöglichen dagegen die zahlreichen Zeitzeugenaussagen. Dass die verschiedenen Stimmen der Überlebenden gehört werden, ist mir ein wichtiges Anliegen. Sie zeugen stellvertretend vom Leid von Millionen, machen aber auch – trotz oder gerade wegen ihrer Widersprüche – aus dem abstrakten „Täter“ Adolf Haas einen Menschen, dessen Motive nachvollziehbar werden. Ich folge hier dem Ansatz einer „integrierten Geschichte“, in der „die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer“ verknüpft werden, wie es der Historiker Saul Friedländer vorgeschlagen hat.29

Das Buch füllt keineswegs nur eine biografische Lücke in der Täterforschung. Haas‘ Weg von Sachsenhausen bis nach Bergen-Belsen zeichnet im wahrsten Sinn ein erschreckendes Bild von einem wichtigen Teil des Lageralltags, der bislang kaum zusammenhängend erforscht ist: KZ-Kunst. Wie Hunderte andere SS-Führer missbrauchte Adolf Haas die Fähigkeiten handwerklich oder künstlerisch begabter Häftlinge für seine privaten Wünsche. „Du bist mir zu schade zum Verrecken“, sagte er zu einem Häftling in Wewelsburg. Was ließ sich Adolf Haas anfertigen? Inwieweit bevorzugte oder schützte er sogar seine Auftragskünstler ? Wie kam es zu dem Bilderskandal in Bergen-Belsen, den einige Historikerinnen und Historiker für seine Versetzung an die Front Ende 1944 ausschlaggebend halten?

Andererseits endet die Geschichte von Adolf Haas nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, obwohl er seitdem nicht mehr aufgetaucht ist – weder auf einem Soldatenfriedhof noch mit einer neuen Identität.30 Heute ist der 1893 geborene Adolf Haas garantiert tot, egal ob er nun in den letzten Kriegstagen an der Front fiel, sich das Leben nahm oder ob er tatsächlich untertauchte. In der Nachkriegszeit war man sich allerdings nicht sicher trotz der amtlichen Todeserklärung von 1950, die das Todesdatum auf den 31. März 1945 festgelegt hatte. Tatsächlich belegen Akten der Staatsanwaltschaft Hamburg eindeutig, dass Adolf Haas mindestens noch am 14. April 1945 am Leben und höchstwahrscheinlich am Tod eines weiteren Menschen beteiligt gewesen war. In den folgenden Tagen bis zur Kapitulation gelang einigen aus seinem Umfeld die Flucht. Dass auch er es schaffte, hielten einige nach 1945 durchaus für möglich. Andere sahen keinen Grund, weiter nach dem verschollenen und schließlich für tot erklärten Kommandanten zu fahnden. Der Fall „Adolf Haas“ gibt einen ernüchternden Einblick in die Praxis der NS-Strafverfolgung der Alliierten und der Bundesrepublik. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um ihn zu finden? Welche Chancen verpassten die Behörden absichtlich oder unabsichtlich? Und warum interessierten sich der berühmte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seine Mitarbeiter für dessen Akte ?

Nicht zuletzt stellt sich aktueller denn je die Frage, warum der Nationalsozialismus und insbesondere der SS-Eliten-Mythos bis heute eine ungebrochene Anziehungskraft auf Militärfanatiker wie im „Axis History Forum“ und – schlimmer noch – auf Rechtsextreme weltweit haben. Zwischen ihnen zu trennen, ist oft nicht leicht: Wer Kriegsverbrecher wie Adolf Haas zum Teil eines „Rätselspaßes“ macht, verharmlost die Verbrechen der Waffen-SS und verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus’. Am 15. Juni 2018 postete der User „J. Duncan“ im „SS ID Quiz“ erneut ein Foto von Adolf Haas, dieses Mal in SS-Uniform (siehe Bild auf Seite 134). „Das mag einfach sein, aber es ist das einzige Bild, das ich kenne, auf dem dieser Mann lächelt“, kommentierte er.31 Woher stammt also die Legende von der SS-Elite? Woher die von der tadellosen Waffen-SS? Inwieweit fördert die Verherrlichung von SS-Leitwerten – Kameradschaft, Härte, Männlichkeit – heute Macht- und Gewaltfantasien? Warum findet gerade in Deutschland die Behauptung von Alexander Gauland Beifall, „Hitler und die Nazis“ seien „nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen?32 Für welche Zwecke werden solche revisionistischen Ansichten instrumentalisiert? Welche Rollen spielen Sprache, Hass und Existenzängste bei der Diskriminierung von Minderheiten?

Biografien wie die von Adolf Haas können verstehen helfen, warum „ganz normale“ Menschen sich einer radikalen Bewegung anschließen und in der Vergangenheit sogar bereit waren, ihre Mitmenschen nicht nur zu diskriminieren, sondern auch auszurauben, zusammenzuschlagen, einzusperren, zu foltern und schließlich millionenfach zu ermorden.

Editorische Notiz: Die Zitate in diesem Buch wurden in der Regel in ihrem jeweiligen Wortlaut belassen, das heißt nicht verbessert oder der neuen Rechtschreibung angepasst. Wenn Zitate in seltenen Fällen zugunsten der Verständlichkeit verändert wurden, wurde es bei der Quellenangabe vermerkt. Viele Namen wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

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