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3. Der Schutzhaftlagerführer

KZ-Dienst auf Probe in Sachsenhausen

1940

Oranienburg bei Berlin

3.1 Der Neuling: Durch die „Dachauer Schule“ zur Waffen-SS

„Lieber Kamerad Haas!“, schrieb am 2. Oktober 1939 der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert, einer Nachbargemeinde von Hachenburg.213 Es ging um die Aufnahme eines Steinbrucharbeiters aus Dehlingen im Oberwesterwald in die SS. Er sei „zwar schon etwas verbraucht“, hatte der SS-Truppenarzt befunden, „aber noch genügend leistungsfähig zum Wachdienst“ in einem Konzentrationslager.214 Westerwälder Bürger genau für diese Aufgabe zu rekrutieren und vorzubereiten, schien die Hauptaufgabe von Adolf Haas gewesen zu sein, seitdem er tatkräftig beim Novemberpogrom 1938 mitgewirkt hatte. Einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 war der „Kreiskriegerführer“ allerdings „der guten Hoffnung, dass wir die Kameraden nicht mehr brauchen werden, denn nach den Ereignissen der letzten Tage wird es wohl den Herrn Engländern etwas enger in der Hose werden. Diese Woche werden wir ja Klarheit bekommen. Heil Hitler!“ Gerade einmal einen Monat nach Beginn des Zweiten Weltkrieges kapitulierten die restlichen Verbände der polnischen Armee am 6. Oktober 1939, ohne dass es zu einem Unterstützungsangriff seiner Verbündeten Großbritannien und Frankreich gekommen war. Insoweit behielt der „Kreiskriegerführer“ recht. Den SS-Anwärter aus Dehlingen und viele weitere SS-Männer brauchte man dennoch für den KZ-Wachdienst.

Für Adolf Hitler war Polen nur die eine Front, die andere war die Heimatfront. Sein Mann für den Kampf gegen die inneren Feinde war Heinrich Himmler. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bot für den Reichsführer-SS die willkommene Chance, mit dem Ausbau des Terrorapparats im Reich und militärischer SS-Einheiten an der Front auch seine eigene Macht auszubauen. Bürokratisches Zentrum der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung wurde das neu gegründete Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das auf die bestehenden, bewährten Institutionen zurückgreifen konnte, die wahren Orte des Terrors.215

In weniger als einem Jahr verdoppelte sich die Zahl der KZ-Häftlinge auf etwa 53.000: Zu den deutschen und österreichischen Häftlingen, darunter Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, „arbeitsscheue Personen“, Sinti und Roma, Kriminelle, Homosexuelle und weibliche Prostituierte, kamen unter anderem Tausende Polen, Tschechen und politische Gefangene aus dem Spanienkrieg und dem Frankreichfeldzug 1940. Mit der Zahl der Häftlinge wuchs auch das Lager-Netzwerk, von sechs Hauptlagern im Herbst 1939 auf dreizehn Anfang 1942. Bis zum Ende des Krieges richtete die SS insgesamt 27 Hauptlager und rund 1100 angeschlossene Außenlager ein – ein unübersichtliches System gesetzloser Gewalt und Zwangsarbeit. Obwohl Himmler im November 1938 dieses Ausmaß nicht vorhersehen konnte, hatte er doch lange im Vorfeld des Krieges Vorbereitungen treffen lassen. Denn für mehr Häftlinge brauchte er auch mehr Wachen.216

Für die Bewachung und Verwaltung der Konzentrationslager waren die SS-Totenkopfverbände zuständig, für die der Sturmbannführer Adolf Haas 1938 und 1939 so fleißig unter dem Deckmantel der „Polizeiverstärkung“ geworben hatte. Die Wachmänner hatten aber auch in den Lagern lange für den Kampfeinsatz trainiert. Für ihren Reichsführer-SS waren sie keineswegs bloße Gefängniswärter, sondern „politische Soldaten“. Himmler, der seine eigene fehlende Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg immer bereut hatte, konnte sich mit dem neuen Krieg seinen lang ersehnten Wunsch erfüllen: Hitler machte ihn zum Befehlshaber seiner eigenen, von der Wehrmacht unabhängigen militärischen Verbände, bald „Waffen-SS“ genannt. Der Fronteinsatz sollte seine SS als „Eliteorganisation“ stärken: „Würden wir kein Blutopfer bringen und würden wir nicht an der Front kämpfen, hätten wir die moralische Verpflichtung verloren, in der Heimat auf Menschen, die sich drücken und feige sind, zu schießen.“217 Gerade die SS-Wachen der Totenkopfverbände, später zusammengefasst in der SS-Totenkopf-Division, gehörten zu den rücksichtslosesten Mördern im besetzten Polen. Ihre Posten in den Konzentrationslagern mussten nun schnell neu besetzt werden. Um die Ablösung von Tausenden Wachen zu bewältigen, brauchte man auch Sturmbannführer Adolf Haas.

„Lieber Kamerad Haas!“, schrieb der „Kreiskriegerführer“ aus Hattert erneut vier Tage nach dem Ende des Polenfeldzugs. „Anbei noch ein Kamerad, der bereit ist, sich als Wachmann zur Verfügung zu stellen. Jetzt haben wir wohl unsere Zahl voll.“ Er hoffte trotzdem auf weitere Meldungen für eine „Reserve, wenn der eine oder andere mit der Zeit ausfallen sollte“.218 Und es fielen eine Menge Ersatzleute aus. Viele, vor allem ältere, hielten den Druck im KZ-Dienst nicht aus oder wurden wegen menschlicher Regungen von den Lager-Veteranen schikaniert.219 Am 30. November 1939 beschwerte sich der Führer der 78. SS-Standarte, es komme immer häufiger vor, dass „Männer eingezogen werden, die vollkommen dienstuntauglich sind. Teilweise haben diese Männer Leiden, bezw. Gebrechen, die sogar für jeden Laien ohne weiteres klar erkennbar sind“.220 Adolf Haas und die zwei Führer der anderen Sturmbanne sollten ja darauf achten, dass die „einberufenen Männer voll einsatzfähig sind“. Die gleiche Ermahnung ging einen Tag später noch einmal direkt an den Hachenburger. Einer von Haas‘ Männern im niedrigen Rang eines SS-Sturmmanns hatte sich im KZ Buchenwald für „dienstuntauglich“ erwiesen und sollte umgehend ersetzt werden.221

So wie es Himmler bereits 1938 bestimmt hatte, sollten mit Kriegsbeginn vor allem ältere und kriegsuntaugliche, in der Regel über 45-jährige Angehörige der Allgemeinen SS den KZ-Wachdienst übernehmen.222 Das traf auch auf Adolf Haas‘ Sturmbann zu: Einer Liste von 1946 zufolge wurden alle des Jahrgangs 1894 oder älter „kommandiert zur KZ-Bewachung“.223 Darunter waren auch jener SS-Anwärter aus Dehlingen, dessen Bewerbung kurz nach Kriegsbeginn bei Haas eingegangen war, und der SS-Sturmbannführer selbst. Beide waren gleich alt und auf beide passte die Bezeichnung „schon etwas verbraucht“, aber noch „leistungsfähig“. Als langjähriger Führer eines Sturmbannes stand Adolf Haas eine verantwortungsvolle Position in der Waffen-SS zu – allerdings nicht im militärisch-strategischen Sinne. Dafür war sein Rang dann doch zu niedrig und seine Kampferfahrung dank seiner langen Kriegsgefangenschaft zu gering. Sein „Durchschnitt“, der ihm auf dem Führerlehrgang in Dachau bescheinigt worden war, reichte dagegen voll aus für den Dienst im Konzentrationslager. Dort waren weniger Intelligenz als vielmehr Gewaltbereitschaft, Skrupellosigkeit und Gehorsam gefragt.

Am 20. Februar 1940 kommandierte das SS-Personalhauptamt den SS-Sturmbannführer Adolf Haas „zur probeweisen Dienstleistung“ zur Inspektion der Konzentrationslager (IKL), der Verwaltungszentrale für alle Konzentrationslager im deutschen Machtbereich.224 Die IKL war 1938 von Berlin ein paar Kilometer weiter nördlich nach Oranienburg verlegt worden, nicht zufällig in die unmittelbare Nähe des KZ Sachsenhausen – das „Sprungbrett“ für die Expansion des KZ-Systems und damit für zahlreiche SS-Karrieren.225 Genau hier ließ die IKL Adolf Haas im Kommandanturstab des Konzentrationslagers eine Probezeit als Zweiter Schutzhaftlagerführer durchlaufen. Als er am 1. März 1940 in Sachsenhausen ankam, herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt.226 „Arbeit macht frei“ las er am Tor, dann trat er ein in die Welt der Konzentrationslager.


Häftlinge und KZ-Wachmannschaften vor dem Eingangstor des Konzentrationslagers Sachsenhausen, ca. 1936–1944.

Wäre Haas einige Tage früher angekommen, hätte er unter den Häftlingen noch ein bekanntes Gesicht sehen können: Walter Friedemann, ein Jude aus Hachenburg, hatte mit Futtermitteln gehandelt, bevor man ihn im Rahmen einer „Sonderaktion Arbeitsscheu“ nach Sachsenhausen verschleppt hatte. Nach 20 Monaten Haft war er am 13. Februar 1940 „verstorben“.227 Mindestens zwei der Häftlinge waren zudem ebenso wie Haas in Siegen geboren. Einer von ihnen, Paul Lersch, starb 30 Tage nach Haas‘ Ankunft.228 Schuld war nicht bloß die winterliche Kälte. Die Häftlingsbedingungen hatten sich seit Kriegsbeginn in allen Konzentrationslagern drastisch verschärft. Dafür verantwortlich war die IKL, die nicht nur das KZ-Personal koordinierte, sondern auch den systematischen Terror und Massenmord in den Lagern. Als ihr Chef Theodor Eicke bei Kriegsbeginn auszog, um die SS-Totenkopfverbände bei ihren Mordaktionen in Polen anzuführen, hinterließ er sein ganz eigenes Erbe im Lageralltag. Kurz vor seiner Abreise hatte er den altgedienten SS-Ausbildern in Sachsenhausen noch einmal eingeschärft, die Neulinge im KZ-Dienst hart ranzunehmen. Bereits als Kommandant von Dachau hatte Eicke Maßstäbe gesetzt für die Ausbildung der KZ-Wachmannschaften, besonders aber des Führernachwuchses, aus dem später die KZ-Kommandanten rekrutiert wurden. „Toleranz bedeutet Schwäche“, hieß es seit 1933 einleitend in der „Disziplinar- und Strafordnung“ von Dachau.229 In Eickes Augen mussten die SS-Männer zum „politischen Soldaten des Führers“ erzogen werden, deren Einsatz „bis zur letzten Konsequenz“ ginge.230 „Rücksichtlose Strenge“ gegenüber den Häftlingen, „herzverbindende Kameradschaft“ untereinander, „eiserne militärische Disziplin“ und „selbstlose Pflichterfüllung“ waren die zentralen Werte seiner KZ-Ausbildung.231

Durch Theodor Eickes sogenannte Dachauer Schule mussten ab 1934 alle neuen Rekruten für das Lagerpersonal. Gewalt gegenüber Häftlingen war dabei nicht nur Alltag im KZ-Dienst, sondern wurde zum Initiationsritus der Waffen-SS. Zu dieser „Elite“ durfte sich nun auch die Lager-SS zählen – sobald sie die Härteprüfung überstanden.232 Die gemeinsamen Verbrechen sollten die Männer zu einer Gruppe zusammenschweißen: Gezielt gewöhnten die Ausbilder die Neuen an die rohe Gewalt, ließen sie Prügelstrafen übernehmen, sie mit eigenen Händen foltern und töten. Die Angst vor dem Spott der Kameraden und den Strafen der Vorgesetzten machte sie hart gegen sich und andere. „Weichheit“ wurde nicht geduldet.233 Kurz bevor Adolf Haas nach Sachsenhausen kam, warnte der neue IKL-Chef Richard Glücks, ein treuer Gefolgsmann von Eicke, in einem scharfen Erlass jeden vor ernsten Konsequenzen, der sich „Gefühlsduseleien“ hingab.234 Vor allem für die Leitung neuer Konzentrations- und Außenlager suchte er Männer der Tat.

Wer in Sachsenhausen Schutzhaftlagerführer war, hatte gute Chancen, zum Lagerkommandanten aufzusteigen: In der Zeit von 1936 bis 1945 schafften neun von insgesamt fünfzehn Schutzhaftlagerführern diesen Aufstieg.235 Abgesehen vom Kommandanten selbst war der Schutzhaftlagerführer als sein Stellvertreter der mächtigste Mann im Kommandanturstab. Ihm unterstand von den fünf Abteilungen der Kommandantur die größte, die Abteilung III „Schutzhaftlager“, und damit zahlreiches Personal: Der Rapportführer war verantwortlich für die „Häftlingsdisziplin“ und Appelle, der Arbeitsdienstführer für die Koordination der Arbeitseinsätze der Häftlinge durch die SS-Kommandoführer sowie mehrere Blockführer für die Häftlingsbaracken. Seiner Position gemäß saß der Schutzhaftlagerführer im Torgebäude, direkt über der zynischen Inschrift „Arbeit macht frei“, mit direktem Blick auf seinen Herrschaftsbereich. Im dreieckig aufgebauten KZ Sachsenhausen war der „Turm A“ der Scheitelpunkt der sternförmig angelegten Blickachsen: Für die „Geometrie des totalen Terrors“ wollte die SS das Prinzip des „Panopticons“ nutzen, das der britische Philosoph Jeremy Bentham Ende des 18. Jahrhunderts für Gefängnisse entwickelt hatte und das die gleichzeitige Überwachung vieler durch einen Einzelnen ermöglicht – wie geschaffen für den Schutzhaftlagerführer. Er galt sowohl in der SS als auch unter den Häftlingen als der wahre „Herrscher“ über das Lager.236 Als der ehrgeizige, skrupellose SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß Ende September 1939 diese Position in Sachsenhausen einnahm, führte er – ganz im Sinne Theodor Eickes – umgehend verschiedene Haftverschärfungen ein, ließ Baracken überbelegen, Essensrationen verringern, gleichzeitig das Arbeitstempo erhöhen und Anfang 1940 alte und schwache Häftlinge bei winterlichen Temperaturen Dauerappell stehen.237 Seit dem 1. März stand ihm dabei ein neuer Stellvertreter zur Seite: der Zweite Schutzhaftlagerführer auf Probe, Adolf Haas.

Es gibt keine Anhaltspunkte, ob oder in welchem Ausmaß sich Haas an der Gewalt im Lager beteiligte. Die Staatsanwaltschaft in Köln ermittelte zwar 1962 gegen ihn wegen des Verdachts, „dass sämtliche Bewacher des Konzentrationslagers Sachsenhausen in irgendeiner Form an der Ermordung von Häftlingen beteiligt waren“.238 Sie fanden allerdings nichts Konkretes und glaubten zudem lange, er sei von November 1938 bis Herbst 1939 dort gewesen. Der Zweite und Dritte Schutzhaftlagerführer waren jedoch keineswegs „nur zur Ausbildung bei uns“ und „nicht zeichnungsberechtigt“, wie es der SS-Wachmann Gustav Sorge 1957 darstellte.239 Sie vertraten und unterstützten nicht nur den Ersten Schutzhaftlagerführer, sondern besaßen zum Teil auch besondere Zuständigkeiten für Teilbereiche des KZ. So übernahm beispielsweise der bereits fünfzigjährige Otto Andresen, der zur gleichen Zeit wie Haas ein Schutzhaftlagerführer auf Probe war, Anfang 1940 Aufgaben im „Kleinen Lager“. In diesem Barackenkomplex waren seit 1938 die meisten jüdischen Häftlinge untergebracht, bis sie im Oktober 1942 nach Osten deportiert wurden.240

Auch wenn es weder vergleichbare Vermerke in den Täterakten noch Berichte von Häftlingen gibt, die Haas belasten, muss er sich in extrem kurzer Zeit den Respekt seiner Vorgesetzten im Kommandanturstab und der IKL verdient haben. Entweder als hilfreicher Bürokrat und Vorgesetzter, der vom Turm A aus Gewalt eher durch andere ausüben ließ, oder eben als Glücks‘ „Mann der Tat“, der selbst Hand an die Häftlinge legte. Nicht ohne Grund hatten ihn seine Vorgesetzten vor vier Jahren als „Draufgänger“ bezeichnet. Ob er aber Eickes brutale „Dachauer Schule“ vollkommen verinnerlicht hatte, bleibt offen. Sein direkter Vorgesetzter, Erster Schutzhaftlagerführer Rudolf Höß, hatte während seiner eigenen Ausbildung seine Angst, „zu weich“ zu sein, mit nach außen demonstrierter „Härte“ kompensiert, bevor er zum Experten für den Massenmord wurde.241 Spätere Häftlingsberichte sprechen dafür, dass Haas die Gewalt im KZ eher pragmatisch sah. Er empfand kein sadistisches Vergnügen und überließ sie eher anderen. Tatsächlich gibt es keine Berichte, wonach Haas in seinen späteren Lagern selbst folterte oder tötete. Einzig drei Fälle sind bekannt, bei denen er Häftlinge schlug. Aber so wie die Soldaten in den Mordkommandos im besetzten Polen gewöhnte auch er sich, wie die meisten „politischen Soldaten“ in den Lagern, mit der Zeit an die allgegenwärtige Gewalt. Er sah sie jeden Tag vom Fenster seines Büros im Turm A aus und akzeptierte, dass sie zum Lageralltag gehörte – und zu seinem Job, für den er gut bezahlt wurde, der ihm den Frontdienst ersparte und seiner Karriere endlich wieder auf die Sprünge half.

Nur die wenigsten Schutzhaftlagerführer waren so kurz in Sachsenhausen wie Adolf Haas.242 Am 1. Juni 1940, genau drei Monate nach seiner Ankunft, schrieb der Inspekteur der Konzentrationslager SS-Oberführer Richard Glücks an den Chef des SS-Personalhauptamtes: „H. hat sich in der kurzen Zeit sehr gut eingearbeitet und versieht seinen Dienst zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.“243 Er bitte daher, ihn zum Obersturmführer der Waffen-SS der Reserve zu ernennen. Mit anderen Worten: Haas hatte sich in nur einem Vierteljahr in der Welt der Konzentrationslager bewährt. Seine Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer, der mächtigsten Position im Lager nach dem Kommandanten, war abgeschlossen. Er sollte ein Teil der Waffen-SS werden, zur „Eliteeinheit“ in der „Eliteeinheit“ gehören. Allerdings hatte der Chef der IKL zweifelsfrei wichtigere Dinge zu tun, als jeden Schutzhaftlagerführer auf Probe im KZ Sachsenhausen persönlich und eingehend zu inspizieren. Auf welche Vorgesetzten im Kommandanturstab berief er sich also? Rudolf Höß war es wohl nicht. In seinen späteren Erinnerungen kommt sein ehemaliger Stellvertreter – wie die meisten erwähnten Personen – nicht gut weg: „Er war zwar einige Zeit (1939) in Sachsenhausen Schutzhaftlagerführer gewesen, kam aber von der Allgemeinen SS und hatte nicht viel Ahnung vom KL.“244 Auch wenn er das Jahr verwechselt hatte, wird bei seiner Aussage doch eines klar: In den Augen von Veteranen der Lager-SS wie Höß, der seit 1934 dabei war, waren Neulinge aus der Allgemeinen SS inkompetente Außenseiter, weil sie erst nach Kriegsbeginn Lagerluft gerochen hatten. Man zweifelte an ihrer Härte und Entschlossenheit.245 Dennoch hatte Haas es geschafft, diese Zweifel auszuräumen – zwar nicht bei Höß, dafür aber bei einem weitaus einflussreicheren Mann, dem Kommandanten von Sachsenhausen Hans Loritz höchstpersönlich.

3.2 Der Schützling: Korruption und Selbstbereicherung unter Hans Loritz

Dass ein Konzentrationslager, ein Ort des Terrors, gleichzeitig auch ein Ort der Kreativität sein konnte, ist schwer vorstellbar. War es doch das Ziel der SS, die Häftlinge im Lageralltag durch Gewalt und Erniedrigung ihrer Menschenwürde zu berauben. „Der Mikrokosmus des Konzentrationslagers war in jeder Hinsicht der Gegenentwurf zur Welt der Kultur und der Humanität“, schreibt die Kunstwissenschaftlerin Stefanie Endlich. „Für Kunst gab es eigentlich weder Raum noch Zeit, noch materielle Möglichkeiten.“246 Dennoch entstand hier, im denkbar kunstfeindlichsten Umfeld, eine erstaunliche künstlerische Vielfalt. Einerseits gab es die Kunst, die im Verborgenen unter großer Gefahr für die Künstler und Mitgefangenen geschaffen oder praktiziert wurde, also Literatur, Gedichte, Musik, Theater- und Kabarettstücke und bildliche Kunst. Andererseits wurde bestimmte Kunst auch vom SS-Personal geduldet, darunter Lesungen, Musik- und Theaterabende, bei denen nicht selten SS-Leute teilnahmen. Oft wurden diese geduldeten Kunstformen zur propagandistischen Außendarstellung der KZ missbraucht, vor allem im Vorzeigelager Theresienstadt. Nicht zuletzt gab es die Kunst im offiziellen Auftrag der SS. In allen großen KZ gab es dafür eigens eingerichtete Werkstätten, Arbeitskommandos und Lagerkapellen, in denen die SS die professionellen Fähigkeiten der Häftlinge für ihre eigenen Zwecke missbrauchte.247 Der Kommandant von Sachsenhausen trieb all das auf die Spitze.


Hans Loritz im Rang eines SS-Sturmbannführers, 1932/1933. Unter Loritz' Kommandantur und Schutz absolviert Adolf Haas 1940 im KZ Sachsenhausen seine Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer.

Hans Loritz war eine beinahe ebenso prägende Person für die Lager-SS wie Theodor Eicke. Er war ein „alter Kämpfer“ der NS-Bewegung und stieg seit 1934, gefördert von Eicke, schnell im KZ-System auf, erst als Kommandant von Esterwegen, ab 1936 von Dachau und schließlich von Sachsenhausen, seit Ende 1939 kommissarisch und ab März 1940 regulär. Wo er hinkam, verschärfte sich der Terror. Die Häftlinge, die er mitunter selbst prügelte, nannten ihn „Nero“. Mit wachsendem Einfluss betrieb er seine eigene Netzwerkpolitik, scharte über die Jahre loyale und gleichgesinnte SS-Offiziere um sich und holte sie wenn möglich nach, wenn er das Konzentrationslager wechselte.248 In Sachsenhausen nahm er Adolf Haas in den Kreis seiner Schützlinge auf. Während Haas‘ dreimonatiger Ausbildung unterschrieb Loritz dessen Beurteilung, die vor übertriebenem Lob geradezu überquoll: Seine persönliche Haltung sei „einwandfrei gut“, er selbst „charakterfest“, „diensteifrig“ und „geistig rege“, sein Wissen sogar „über Durchschnitt“. Generell waren ihm „besondere Mängel und Schwächen“ nicht bekannt. Den Ausbildern der SS-Führerschule in Dachau 1937 widersprach Loritz, indem er Haas‘ Fertigkeiten im Ordnungs- und Geländedienst, im Sport und bei weltanschaulichen Vorträgen durchweg für „gut“ befand. „Er verspricht ein guter II. Schutzhaftlagerführer zu werden.“ Eine höhere Position in der Kommandantur stellte er Haas nicht in Aussicht, traute ihm aber zu, „Führer einer Komp.[anie]“ zu werden, also bei der Waffen-SS an der Front zu dienen.249

Wer damals im SS-Personalhauptamt oder der IKL nur einen kurzen Blick in Haas‘ Personalakte warf, musste schnell erkennen, dass Loritz maßlos übertrieb. Aber sein Wort zählte. Anders als Rudolf Höß, dem Loritz misstraute,250 gefiel ihm offensichtlich der „Draufgänger“, auch vom Charakter her. Tatsächlich hatten sie einige Gemeinsamkeiten: Sie waren ungefähr gleich alt, von Beruf Bäcker, hatten einige Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht und später keine Skrupel, ihre Machtposition bei der SS zu missbrauchen. Adolf Haas hatte das bereits in Hachenburg bewiesen. Womöglich hatte er vor dem Kommandanten geprahlt, wie er den jüdischen Kaufmann Karl Grünebaum 1933 um 2700 Reichsmark erpresst hatte und mit nur ein paar Tagen Untersuchungshaft davongekommen war. So etwas war genau nach Loritz‘ Geschmack. Wie sich noch zeigen sollte, schaute sich der Zweite Schutzhaftlagerführer von seinem Kommandanten höchstpersönlich ab, wie er seine Unverfrorenheit auch im Lageralltag zu seinem eigenen Vorteil einsetzen konnte. Denn neben Gewalt gab es noch eine andere Art, mit Häftlingen umzugehen.

In Sachsenhausen hatte es bereits vor Kriegsbeginn einen riesigen Werkhof gegeben, auf dem die Häftlinge gezwungen wurden, vor allem für die SS-eigenen Deutschen Ausrüstungswerke GmbH Möbel, Spielzeug, Schuhe und andere handwerkliche Gegenstände herzustellen. Als Loritz ankam, ließ er die Werkstätten weiter ausbauen. Bald schon nannte man sie „Loritz-Werke“ – denn an den Waren bereicherten sich vor allem der Kommandant selbst und seine SS-Führer.251 Bereits in Dachau hatte es Loritz als sein Vorrecht angesehen, Häftlinge als Zwangsarbeiter für seine Unterhaltung und seinen privaten Reichtum auszubeuten. Sein Vorgänger und Mentor Theodor Eicke war ihm dabei ein Vorbild. Ohne Genehmigung ließ Loritz Dachauer Häftlinge einen „Wildpark“ bauen, in dem er und höhere SS-Offiziere gern jagen gingen. Er schickte sie auch zur Zwangsarbeit 175 Kilometer weiter nach Österreich in das Nebenlager St. Gilgen. Hier, nicht weit von Salzburg, hatte er 1938 mehrere Grundstücke erworben und darauf das erste Außenkommando von Dachau in Salzburg eingerichtet, allerdings nicht offiziell. Das privat organisierte Lager diente einzig dazu, ihm eine luxuriöse Privatvilla direkt am schönen Wolfgangsee aufzubauen. Als Loritz das Konzentrationslager Sachsenhausen übernahm, schickte er von dort – immer noch illegal – Baumaterial und Häftlinge nach St. Gilgen, darunter vor allem handwerklich begabte Zeugen Jehovas. Andere hohe SS-Offiziere nahmen sich ein Beispiel, erwarben in der Nachbarschaft Grundstücke und liehen sich von Loritz Zwangsarbeiter aus.252 Bis Loritz‘ Familie die fertige St. Gilgener Villa bezog, wohnten sie in der SS-Siedlung Sachsenhausen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konzentrationslager. Auch hier waren sie den Anblick von Häftlingen gewohnt, die der Familienvater vom Oranienburger Bahnhof zu Fuß zum Lager treiben und dort quälen ließ. Er und seine Frau versüßten sich jedoch den Alltag mit allerlei Luxusgütern und Kunstgegenständen, die sie sich von den Häftlingen herstellen ließen. Ein Sachsenhausen-Überlebender erinnerte sich später:

„Der damalige Lagerkommandant, SS-Oberführer Loritz, hatte, wie alle korrupten SS-Führer, die Angewohnheit einen Stab von 300 bis 500 Häftlinge nur für seine Belange arbeiten zu lassen. Diese Häftlinge wurden für Tischlerarbeiten, Kunstschmiede-Keramikarbeiten für den privaten Bedarf des SS-Oberführers Loritz und seiner Clique verwendet.“253

Die Liste ist lang: In den „Loritz-Werken“ schufteten Gürtler, Sattler, Schuster und Schneider. Künstler und Handwerker malten rund 60 Ölgemälde, webten Teppiche, fertigten Lampenschirme aus Leder, Wäschekörbe, Sessel, Tische, Briefbeschwerer mit Helmverzierung aus Silber, kunstvolle Zahnstocher, Messer und Dolche mit Granatsplitterhandgriffen, ein Dutzend Geldbeutel und Brieftaschen, ein geschnitztes Schachspiel, Fotopostkarten mit dem Motiv der St. Gilgener Villa – und sogar eine Segelyacht, mehrere kleine Boote und einen „Jagdwagen“. Wie schon in Dachau zweckentfremdete Loritz das Baumaterial für einen Luftschutzkeller, um daraus einen „Germanischen Bierkeller“ mit Kegelbahn und Schießstand bauen zu lassen. Er beutete seine Häftlinge nicht nur aus, sondern erdreistete sich sogar, auf dem KZ-Gelände einen eigenen Geflügelhof und eine Schweinemast zu unterhalten – in Sichtweite der hungernden Häftlinge.254 Für diese bedeuteten die Werkstätten allerdings eine Überlebenschance, vorausgesetzt, ihre Fertigkeiten waren wertvoll genug für den gierigen Kommandanten. Seine „Eigenart“ nutzten die Häftlinge, die den Arbeitsdienst leiteten, zum gegenseitigen Schutz, indem „immer mehr und mehr Häftlinge in diesem sog. Lagerhandwerkskommando eingebaut wurden“, so ein Überlebender.255

Keinem konnte die Korruption von Hans Loritz in Sachsenhausen entgehen. Er „sei wirklich der grösste Schieber und das wissen alle“, meinte einer seiner Männer 1942.256 Bis dahin hielt der Schutz, den ihm Theodor Eicke, das gute Verhältnis zur IKL, sein weitreichendes persönliches Netzwerk sowie all jene boten, die er großzügig mit Geschenken bedachte. Gerade die SS-Führer, deren Karrieren er gefördert hatte und die er an seiner Bereicherung beteiligte, hielten dicht und zu ihm. Der Zweite Schutzhaftlagerführer gehörte seit 1940 zweifelsfrei zu dieser „Clique“. Während Haas‘ Zeit in Sachsenhausen entstand in Oranienburg ein neues Arbeitskommando, das Wagenladungen voller Metallspenden für Kriegszwecke sortieren sollte: Ringe, Ketten, Uhren, Vasen, Pokale, Musikinstrumente, Gold- und Silbersachen. „Mancher SS-Kommandoführer nutzte die Gelegenheit, sich ein besonders schönes Stück anzueignen“, trotz Androhung der Todesstrafe, berichtete der damalige Lagerälteste Harry Naujoks.257 Kommandant Loritz stand seinen Männern bei, „wenn Gefahr bestand, daß irgendeine Manipulation über das Lager hinaus bekannt würde“. Im Gegensatz zu Rudolf Höß waren ihm Loyalität und Verschwiegenheit über die gemeinsame Bereicherung wichtiger als die tatsächlichen Fähigkeiten seiner Untergebenen. Seiner Fürsprache verdankte es Adolf Haas schließlich, dass er am 18. Juni 1940 von einem Stellvertreter Himmlers folgende Nachricht erhielt: „An den SS-Sturmbannführer Haas, Adolf. Ich ernenne Sie mit Wirkung vom 1. Juni 1940 als Reserveführer der Waffen-SS zum SS-Obersturmführer.“258 Knapp, aber höchst erfreulich.

In der Allgemeinen SS war Haas’ Karriere seit 1937 erlahmt, nun konnte sie in der Waffen-SS weitergehen. Er musste dafür lediglich in Kauf nehmen, dass er der Regel nach nicht mit dem bisherigen Dienstgrad des Sturmbannführers, sondern zwei Dienstränge niedriger als Obersturmführer übernommen wurde.259 Seine Probezeit im Kommandanturstab des KZ Sachsenhausen hatte er nach gerade einmal drei Monaten bestanden. Die Frage war nur, was nun mit ihm geschah. Immerhin war soeben der Posten des Ersten Schutzhaftlagerführers frei geworden. Am 4. Mai 1940 hatte Himmler den altgedienten Schutzhaftlagerführer Rudolf Höß zum Kommandanten des neuen großen Lagers „für den Osten“ berufen. Der Name des Lagers, damals völlig unbekannt, sollte unter ihm zum Symbol des Massenmordes werden: Auschwitz. Doch so sehr Loritz seinen neuen Gefolgsmann Haas auch unterstützt und ihn über alle Maßen hinaus in seiner Beurteilung gelobt hatte, so realistisch hatte er seine Verwendung eingeschätzt. Für die Position des Zweiten Schutzhaftlagerführers hielt er Haas geeignet, auch für die eines Kompanieführers an der Front, aber zunächst nicht mehr.

Offiziell zog ihn die SS am 1. Juni 1940 ein, allerdings nicht für den Kriegseinsatz, sondern zunächst für eine einmonatige „Übung bei der Waffen-SS“. 260 Das meldete die SS jedenfalls der Halleschen Krankenkasse, bei der Haas eine private Arbeitslosenversicherung abgeschlossen hatte. Bei dieser „Übung“ ging es jedoch weder um das Schießen oder eine sonstige militärische Ausbildung, noch kehrte er im Juli nach Sachsenhausen zurück. Kommandant Loritz und die IKL hatten ihre Meinung doch noch geändert und ihm am Ort der „Übung“ eine neue Aufgabe zugewiesen.

GEWALT, GIER UND GNADE

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