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Monolog und häuslicher Sturm

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Ulrike hatte noch nicht fünf Minuten am Haustor gewartet, als sie Mylius schon mit seinem Passgängerschritt durch den Schnee der Gasse herauftappen sah. Unter dem Arm trug er die eingepackten Kleider. Sie sehend, prallte er zurück, fasste sich aber schnell, klopfte den Schnee von dem Paket, reichte es ihr und sagte mürrisch: „Pfui, was für ein Wetter. Einen alten Mann in der Nacht wegen der Fetzen fortjagen. Mangel an gutem Willen können Sie mir jedenfalls nicht vorwerfen, meine geehrte Dame.“

„Die Suppe haben Sie sich selber eingebrockt, folglich mussten Sie sie auch auslöffeln“, erwiderte Ulrike ungerührt; „warum ziehen Sie denn übrigens keine Handschuhe an? Haben Sie keine? Trägt das Geschäft nicht soviel? Und der dünne schäbige Mantel da; besitzen Sie denn keinen wärmeren? Reicht der Profit nicht zu einem Pelz? Schämen Sie sich nicht, so am eigenen Leib zu knickern? Oder wenn ich Sie bedauern soll, dass Ihnen die Verhältnisse den Luxus nicht erlauben, sich vor der Winterkälte zu schützen, dann muss ich fragen: wozu schuftet ein Mensch wie Sie sein lebelang? Wozu verkriecht er sich hinter seinen Gewölbemauern jahraus, jahrein und plagt sich ärger als ein Kuli, wenn er bloss knapp das Schmalz für den Braten erschwingen kann? Dann gilt mein Bedauern nicht dem alten Mann, so hoch bei Jahren sind Sie nicht und so gebrechlich noch weniger, sondern dem Mann überhaupt, ders zu nichts Rechtem gebracht hat und dems vielleicht an Genie fehlt, vielleicht an Glück. Das ist meine ehrliche Meinung, Herr Mylius, und nun gute Nacht, mir frieren die Füsse an.“

Sie wollte gehen, aber sein Blick hielt sie fest. Er schaute zu ihr auf, denn er war erheblich kleiner als sie, hatte die Hände auf dem Rücken, sein Luchsgesicht zog sich zusammen, und der Blick war scharf, ängstlich, argwöhnisch, unschlüssig. Die fragende Kopfbewegung Ulrikes schüchterte ihn ein, und plötzlich stotterte er: „Ich hätte ein paar französische Geschäftsbriefe zu schreiben, dürfte ich da um Ihre Hilfe bitten? Wäre Ihnen sehr dankbar.“

Ulrike antwortete, sie stehe ihm gern zur Verfügung und werde morgen gegen Abend in seinen Laden kommen. Mit kurzem Gruss entfernte sie sich. Der kleinlaute, bedrückte Ton des Mannes lag ihr im Ohr und gab ihr zu denken.

Mylius ging in die Wohnung hinauf. Christine und Josephe hatten sich bereits zurückgezogen. Lothar sass in der Küche, wo es noch leidlich warm war, und schrieb an einer Schularbeit. In der grossen Stube auf- und abschreitend, sagte Mylius vor sich hin: „So eine Person; jagt einen mir nichts dir nichts auf die Gasse. Verfährt mit einem, als wäre man ihr Schuhputzer. So haben wir nicht gewettet, meine Dame. Besinnen Sie sich. Sie könnten sonst zu Ihrer Überraschung erfahren, wer H. O. Mylius ist. Ja, das könnten Sie. Ist nicht ganz ausgeschlossen.“

Es geschah nicht selten, dass er laut mit sich selber redete, schon deswegen, weil er mit niemand auf der Welt von seinen Angelegenheiten hätte reden können oder wollen. Misstraute er doch jedem auf ihn gerichteten Blick.

„Wahrscheinlich glaubt sie, man sei so ein armer Teufel, der gerade nur für den nächsten Tag zu beissen hat“, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort; „oder einer von den hunderttausend kleinen Strebern und Zapplern, die an der Oberfläche mitschwimmen und an jedem Monatsersten knieschlotternd vor dem Abgrund winseln, den sie der Familie verhehlen müssen. Schadet nichts. Soll sich nur den Kopf zerbrechen. Bin immer am besten gefahren, wenn ich die guten Leute habe an mir herumraten lassen. Da haben Sie den Beweis für die Richtigkeit meines Prinzips, hochgeehrtes Fräulein. Schweigen; hinterm Berg halten; Schweigen. Wittern die Menschen Geld, so ist ihre Phantasie wie ein losgelassenes Feuer. Jeder Lump, klappert man mit Goldstücken vor seinen Ohren, wird anspruchsvoll. Es gibt keinen Kerl, dem nicht sofort schwummerig ums Herz wird, wenn man nur den Kassaschlüssel zwischen den Fingern dreht. Geh ich auf den Markt als ein Mann, dem man reichliche Mittel nachsagt, schon heftet sich der Betrug an meine Fersen, und ich muss für jegliches Ding doppelt und dreifach bezahlen. Und riecht erst die eigene Familie Lunte, ists mit der Seelenruhe aus. Man erlebts ja Tag für Tag; Blutegel, die sie sind; die Gier frisst sie mit Haut und Haar, die Gelüste verbrennen ihnen das Hirn; Geld, Geld, Geld, schreien einem ihre Augen zu. Ein Tierbändiger wäre nötig, sie zu zähmen. Man kann sichs ja ausmalen, wie sies treiben würden, wenn sie wüssten, wenn sie nur den blassen Schimmer hätten. Da muss man gewaltig auf der Hut sein, liebe Dame.“

Eine Zeitlang schien es, als zähle er seine Schritte, dann begann er wieder zu sprechen. „Immerhin, einen Menschen sollte es geben, nur einen, der Bescheid weiss. Wozu hätte man sonst wirklich gesammelt und gespart, wozu sich die Genüsse des Lebens verweigert? Genüsse des Lebens, das ist natürlich Unsinn. Kein Lebensgenuss, der nicht in dem Leben enthalten wäre, das man durch Zwang seiner Natur führt. Geniesse ich etwa nicht? Sind die Früchte, die ich gepflückt habe, etwa eingebildet? Ist nicht alles da, alles verbucht, alles greifbar, verwertbar, Zeugnis meiner Umsicht und Berechnung und unwiderleglich mein eigen? Brauch ich wen, damit er es bestätigt oder anerkennt oder bewundert oder mir Rats erteilt? Einen Aufpasser, einen Kritiker, einen Denunzianten am Ende? Habe mich bis jetzt ganz wohl befunden in meinem Heimlichen, warum soll es einen geben, der Bescheid weiss? Der müsste schon verdammt viel Grütze im Kopf haben, um zu begreifen. Wie könnt ich seinen Trugschlüssen zuvorkommen, das falsche Bild auslöschen, das er sich sofort macht? Er sieht einen Kapitalisten in der Tarnkappe, einen Zinseszinsenhamster und Kuponaufhäufer, der zähneklappernd die verborgene Schatzkammer bewacht und seinen Lebenszweck darein setzt, den Staat, die Mitbürger, Weib und Kinder über seine wahren Umstände zu täuschen. Da wären Sie auf dem Holzweg, mein Fräulein. Kein Literatur-Geizhals steht vor Ihnen, kein Bühnenwüterich mit Krallen und zerrissenen Pantoffeln, kein Onkel Klemens, der sich eine spionierende Smirczinska auf den Nacken lädt. Das ist alles ganz anders; viel schwerer ist das, viel verwickelter, viel unsäglicher.“

Er nickte vor sich hin, dann starrte er in die Luft, als verfolge er einen Gedanken, der ihn geierhaft umkreiste. „Es müsste aber einmal eine Probe gemacht werden, trotzdem,“ sprach er weiter; „setze man den Fall, ein Bildhauer meisselt eine schöne Statue, ein Maler schafft ein wunderbares Gemälde. Sinnt und bosselt und werkt daran Jahr für Jahr und kein Menschenauge hat es je gesehn, ist er dann ein Tor, ein Prahlhans, wenn ers endlich zeigen möchte? Die Frage ist nur, ob der, den er auswählt, des Vertrauens auch würdig ist, ob nicht hinterher die blutige Reue sich meldet. Schwer zu beantwortende Frage; gefährlicher Entschluss. Diese Person; betrachten wir sie einmal. Gehen wir mit ihr ins Gericht. Was ist es für eine Person? Was ist die Ursache, dass es mich vom ersten Augenblick an gereizt hat, ihr, gerade ihr und keinem andern reinen Wein über mich einzuschenken? Ein hergelaufenes Frauenzimmer, möglicherweise sogar eine Abenteuerin. Familie nicht eben schlecht, aber ohne Zweifel deklassiert. Schlau, verteufelt schlau; geriebener Weiberverstand; zähe Art; will sich durchsetzen um jeden Preis; unheimlich resolut. Weiss, was die Sachen wert sind, weiss, was die Menschen wert sind. Nennt alles beim richtigen Namen. Sieht allem Ungemach mutig ins Gesicht. Angenehme Figur; prächtige Haltung; fester Händedruck; Augen wie vom Herrgott selber eingesetzt, damit sie das Miserable in der Welt vom Nützlichen und Tüchtigen sondern sollen. Gut, da wären wir. Da liegts wohl, was mich lockt. Möchte diese Augen sehen, wenn ihnen klar wird, was es mit H. O. Mylius für eine Bewandtnis hat. Müsste sein, wie wenn man in der Nacht einen Holzstoss anzündet. Da würden sie aufhören, geringschätzig zu blicken, die Augen. Warum ziehen Sie keine Handschuhe an? haben Sie keine? trägt das Geschäft nicht soviel? Mitleid! zum Lachen. Nur eines Wortes bedürfte es, und sie würde verstummen, masslos verstummen würde sie; zittern würde sie und verdammt bescheiden den hübschen Kopf hängen lassen. Schluss mit Ironie und Mitleid. Mitleid! zum Lachen. Da hätte man sie gepackt und niedergezwungen. Das wäre ein Sieg. So was zu erleben, lohnte der gehabten Mühe. Aber es ist noch nicht an dem. Vorsicht, alter Mylius, Vorsicht. Erst sieh zu, ob du keine zum Himmel schreiende Dummheit begehst. Nicht dich hinreissen lassen. Bleib dir treu. Erwäge jedes einzelne Wort, das du sprichst, dass es schliesslich auch ein Scherzchen gewesen sein und zurückgenommen werden kann. Gib dich nicht unbedacht in eine fremde Hand.“

Es war elf Uhr geworden, und nachdem er über den Flur Lothar mit seiner Keifstimme zugerufen hatte, er solle die Lampe auslöschen und zu Bett gehen, begab er sich selbst zur Ruhe. Doch floh ihn der Schlaf. Spöttisch-mitleidig auf ihn gerichtete Augen hielten die seinen durch viele Stunden wach.

Derweil liess die Urheberin solch ungewöhnlichen Aufruhrs es sich angelegen sein, alle ungestümen Erwartungen ihrer Schutzbefohlenen zu erfüllen, und sie lernte kennen, was entflammtes Blut ist in behüteten jungen Geschöpfen und die Begierdenwut, die sich in Träumen angesammelt hat.

Die beiden waren kaum zu zügeln und stürzten sich bedenkenlos in das Element, dessen Breite und Tiefe ihnen so gross dünkte wie ihr Hunger. Sie redeten wirr; sie schweiften trunken umher; sie ergriffen jede sich bietende Hand und bedauerten es, wenn sie sie wieder lassen mussten, weil eine andere sich ausstreckte. Blicke versetzten sie in schwindelnde Unruhe; alles war betäubend neu, Ankündigung eines noch seligeren Zustandes, Lockung, Gefahr und Dramatik. Dabei waren sie furchtsam, besonders Aimée, deren etwas verschlagene Lüsternheit durch Stolz und Sprödigkeit gehemmt war. Um so verlangender brannten die Augen hinter der Maske. Esther äusserte sich offenherzig: „Der Gedanke, dass man in dieser Welt nur der Gast für ein paar erbärmliche Stunden sein darf, könnte einen rasend machen. Was für eine Existenz führt man Tag für Tag! Helfen Sie mir aus dem Sumpf, Ulrike, und ich will Ihnen bis an mein Lebensende dankbar sein.“

„Was nicht ist, kann noch werden“, antwortete Ulrike gelassen und machte ihre stillen Glossen zu diesem bemerkenswerten Ausbruch von Temperament. Sie dachte zynisch: die könnte man alle zwei dem Teufel verkuppeln, und sie würden seinen Schwanz für einen Regenbogen halten.

Sie für ihre Person langweilte sich. Die etwas zahme Ausgelassenheit ringsum liess sie kalt; der Schaum trug sie nicht, sie sah nur den schalen Bodensatz, das Zweck- und Vernunftlose, daher erregte die leidenschaftliche Sucht ihrer Gefährtinnen, dieses Neulingsfieber, ihren heimlichen Hohn. Doch erinnerte sie sich, dass sie nicht bloss zur Betreuung da war, sondern auch zur Belehrung. Die Erde, einmal umgepflügt, musste auch gedüngt werden. Es sollte etwas wachsen. Es war für künftige Ernte zu sorgen.

Von beiden, der einen links, der andern rechts, mit Fragen bestürmt über Menschen und was zwischen den Menschen an Begebenheiten lag, hielt sie mit ihrer Wissenschaft nicht zurück, und als sie mit den Kenntnissen zu Ende war, phantasierte und dichtete sie frisch drauflos. Sie brauchte dabei nur zu fürchten, dass sie die Wirklichkeit nicht erreichte; sie zu überbieten war nach allem, was sie von der menschlichen Gesellschast erfahren hatte, ziemlich schwer. Die käuflichen Frauen, die abenteuernden Männer, die Spieler, die Verführer, die Bankrotteure, die kupplerischen Matronen, die kahlköpfigen Wüstlinge, die ordengeschmückten Streber, notorische Verschwender und Schuldenmacher in glänzenden Uniformen, Aristokratinnen mit zweideutigem Ruf, Träger und Trägerinnen erlauchter Namen, denen die Fama wenig Erlauchtes nachzusagen wusste, alle bekamen ihren Steckbrief und führten vor den Augen der erstaunten Novizen die ränkevolle Komödie auf, die man die grosse Welt nennt. Binnen kurzem hatte sich vor den zwei atemlosen Zuhörerinnen ein so monströses Gemälde von Verirrungen, Verbrechen, Niedrigkeiten, Lügen, Grausamkeiten, privaten und öffentlichen Sünden entrollt, dass ein geschickter Verfasser von Hintertreppenromanen ein Dutzend Bände damit hätte füllen können, ohne seine Einbildungskraft im mindesten zu vergewaltigen, und was Esther und Aimée betraf, so empfanden sie denselben wohlig-gruselnden Kitzel, den hervorgerufen zu haben den Ehrgeiz besagten Autors vollauf befriedigt hätte.

Denn es lag ja Ulrike nicht daran, nach Moralistenart abzuschrecken; sie verstand es und zielte darauf hin, das Laster schmackhaft zu machen und die Verderbnis in reizenden Farben zu malen. Alles, was da wogte und flatterte, liebte und hasste, lächelte und scherzte, war weit entfernt von der gültigen Regel des Wohlverhaltens; alles, was sich abspielte, vor und hinter den Kulissen, spottete der bürgerlichen Begriffe von Mass und edlem Betragen. Straflosigkeit war zugesichert; ja man bedeckte sich mit Ruhm und genoss die Bewunderung des Publikums, wenn man sich darin vor andern hervortat. Dies liess Ulrike durchblicken, und ihre Schülerinnen lauschten gläubig und andächtig.

Sie erlaubte ihnen, sich für eine Weile auf eigene Faust zu vergnügen. Während dieser Zeit kauerte sie sich in eine Logenecke und schlief. Als sie erwachte, war es schon spät, und sie begab sich mütterlich besorgt auf die Suche. Sie fand ihre Freundinnen in einer lärmenden Gesellschaft junger Herren, bedenklich munter, ja in nicht ganz einwandfreier Geistesverfassung, mahnte zum Aufbruch, begleitete die beglückt Erschöpften nach Hause und nahm die Ergüsse ihres überströmenden Dankes mit leisem Sarkasmus entgegen.

Zu Mittag kam Lothar, um sich die versprochenen achtundvierzig Gulden zu holen, und eine Stunde später brachte er die Dose. Er zerdrückte ihr beinahe die Hand vor Dankbarkeit, auch der, aber es war doch ein anderes; da leuchtete sie ein ihr gemässeres Wesen an, Wille, der dem ihren verwandt war. Da hatte sie ein Rad in Schwingung versetzt, das lief sicher und schnell seine kühne Bahn. Sie ertappte ihre Gedanken, wie sie naschhaft um das Bild des Jünglings kreisten, aber sie schüttelte sie ab und der gemeine Alltag stellte seine Forderung.

Ihre Barschaft überzählend, sagte sie sich, dass sie damit den unterschiedlichen Seitensprüngen der Myliusschen Sprösslinge nicht mehr lange Vorschub leisten könne und es nötig war, sich eine Hilfsquelle zu erschliessen oder ohne Umstände geradezu aufs Ziel zu marschieren. Die Ereignisse zeigten ihr den Weg.

Als sie am späten Nachmittag in die Myliussche Wohnung kam, fand sie alle verstört. Christine erzählte ihr, was geschehen war.

Das alte Fräulein von Elmenreich war höchst aufgeregt zu Mylius in den Laden gekommen und hatte ihm mitgeteilt, dass Lothar ihrem Neffen achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer schuldig sei, und dass bisher alle Versuche, das Geld von ihm zurückzuerhalten, vergeblich gewesen wären. Längst schon sei ihr das bedrückte Wesen Roberts aufgefallen, heute habe sie ihn ins Gebet genommen und er habe ein Bekenntnis abgelegt. Sie sei nicht reich genug, um den Verlust einer solchen Summe verschmerzen zu können, und wende sich daher an den Vater. Mylius, in fassungslosem Entsetzen, hatte sie, keines Wortes mächtig, angestiert (die Törin war nachher, als ihr klar wurde, was sie getan, zu Christine geeilt, um ihr Bericht zu erstatten); plötzlich hatte er zu schreien begonnen: er wolle mit der Sache nichts zu schaffen haben, er leugne die Verpflichtung zu zahlen, jedenfalls müsse er die Angelegenheit gründlich untersuchen, sie möge an einem andern Tag wieder vorsprechen. Kaum war sie wieder daheim, als ihr Robert verkündete, Lothar habe inzwischen das Geld gebracht. Mylius aber war in unmässigem Zorn nach Hause gekommen, hatte sich, den Stock in der Faust, über Lothar förmlich gestürzt, hatte ihn in das eheliche Schlafzimmer gezerrt, schreiend zur Rede gestellt, die Antworten nicht abgewartet und ihn so fürchterlich geschlagen, dass der Stock zerbrochen war und der Knabe schliesslich wie leblos dalag. Die Tür hatte er verriegelt; Christine, Esther und Aimée rüttelten daran und riefen, weinten, flehten; umsonst; erst als er ausgetobt, erschien er wieder mit blutunterlaufenen Augen und schweisstriefenden Haaren. Die drei Frauen brachten Lothar in seine Kammer, betteten ihn dort und wuschen Kopf und Gesicht mit kaltem Wasser. Dann hatte sich Christine zu ihrem Mann begeben, der allein bei Tische sass und mit noch immer verzerrten Mienen die Suppe schlürfte, die ihm Therese unterdessen aufgetragen, und hatte ihm, an allen Gliedern bebend, doch mit ruhiger Bestimmtheit erklärt, solche Misshandlung eines Kindes überschreite seine Befugnis, vom menschlichen Gefühl ganz zu schweigen, und sie sei nicht gesonnen, dergleichen weiterhin zu dulden. Stets habe sie, ob sie eines Sinnes mit ihm gewesen oder nicht, sich vor den Kindern und um der elterlichen Autorität willen zu ihm bekannt, auch wo er nach ihrem Dafürhalten zu scharf ins Gericht gegangen sei und seine erzieherischen Prinzipien allzu unerbittlich ins Werk gesetzt habe. Dies aber sei die Grenze, an diesem Punkt trennten sich die Wege und ende die Solidarität.

Da sie in ihrer dreiundzwanzigjährigen Ehe eine so entschiedene Sprache zum erstenmal führte, schaute Mylius ausserordentlich verwundert empor. Er runzelte die Brauen, sah eine Weile wie suchend herum und murmelte durch die Zähne: „Wenn da nicht wieder das verdammte unruhstiftende Frauenzimmer dahintersteckt, will ich Zwillich heissen. Reden Sie keinen Unsinn, Frau Mylius. Geben Sie lieber acht, dass aus Ihrem Söhnchen kein Taugenichts wird.“

Christine wusste, dass Ulrike die Helferin gewesen war. Der Ausdruck ihres Dankes war nicht frei von Scham. Sie wusste auch von dem Diebstahl der Dose. Ausser sich vor Kummer wie vor Zorn über die grausame Züchtigung hatte Lothar es ihr zugeschrien; sie solle es dem Vater nur sagen, auch das; er fürchte sich nicht; wer ihn so geschlagen, könne ihn auch umbringen, der Unterschied sei nicht gar so gross.

Düster sinnend sagte Christine: „Ein ganz anderer Mensch. Nie hätte er gewagt, so zu mir zu sprechen. Und das Schreckliche ist, dass ich ihm in meinem Innern das Verbrechen nicht einmal so verübeln kann, wie ich müsste. Denn Verbrechen ist es und bleibt es. Da handelt sichs bloss um den ersten Schritt, hernach gibts kein Halten mehr. Ich fürchte, ich komme selber auf die schiefe Bahn; ich weiss schon nicht mehr, wie ich recht tue.“

„Um den Buben haben Sie keine Angst,“ beruhigte sie Ulrike etwas kalt; „der ist von guter Art und man kann ihn lenken. Ich habe mir sagen lassen, dass ganz ehrenwerte Staatsbürger in ihrer Jugend manchmal ein wenig über die Schnur gehauen haben. Das sind so moralische Masern. Seien wir froh, dass der verräterische Lump nichts von der Dose geschwatzt hat. Malen Sie sich aus, was geschehen wäre, wenn Herr Mylius das wüsste! Es graut einem beim blossen Gedanken.“

„Freilich ists ein Glück“, gab Christine zu: „aber was machen wir jetzt mit der verhängnisvollen Dose?“

„Die behalt ich vorläufig als Pfand,“ erklärte Ulrike lachend; „es wird sich schon eine Gelegenheit bieten, sie ihm wieder zuzuschanzen, ohne dass ers merkt. Es kommt ja vor, dass die Höhlenmenschen in ihrer Höhle schlafen.“

Christine stand am Fenster und mit Ulrike nur halb zugekehrtem Gesicht sagte sie traurig: „Wie gering Sie von ihm denken! Ich müsste ihn ja verteidigen. Zwanzig Jahre hab ich ihn vor mir verteidigt und ihm ein Postament gebaut. Wenn ich zulasse, dass Sie hart über ihn urteilen, ist meine Schwäche daran schuld, nichts anderes.“

Ulrike unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. „Ich denke durchaus nicht gering von ihm,“ erwiderte sie; „im Gegenteil, ich denke sehr hoch von ihm. Ich halte ihn für einen Riesen an Kraft. Er ist so stark, dass er nicht bloss Sie und Ihre vier Kinder, sondern noch ein paar hundert arme Zwerglein ausserdem in den Sack steckt, ohne mit der Wimper zu zucken. Nicht die Schwäche ists, die Sie verhindert, eine Lanze für ihn zu brechen, o nein; ein Gefühl der Menschen- und Frauenwürde ists, wie ich glaube und hoffe, das jetzt, nicht ganz ohne mein Zutun, in Ihnen erwacht ist. Um was dreht sich denn das alles eigentlich? Nennen wir doch das Ding beim rechten Namen: worum geht denn die beständige Müh und Plage? Um zwei Gulden, um drei Gulden, um fünf Gulden, um dreissig Gulden. Herrgott, dazu sind Sie die Frau nicht, dazu geben Sie sich nur her, weil Sie sich einmal drauf eingeschworen haben; Ihr inneres Gewissen will nichts damit zu schaffen haben.“

Christine sagte hierauf: „Es kann wahr sein, es kann falsch sein, ich wills nicht untersuchen, ich darfs nicht untersuchen. Jawohl, ich hab mich drauf eingeschworen. Und was beschworen ist, muss gehalten werden, einmal für ewig.“

Die letzten Worte hatte Josephe gehört, die eingetreten war. Sie blieb stumm an der Tür stehen, und der Blick, mit dem sie die Mutter anschaute, war von so inniger, so schwingender Liebe erfüllt, dass Ulrike, als wäre sie geblendet davon, unwillkürlich die Augen abwandte.

Sie ging in Lothars Kammer. Er lag angekleidet auf dem Bett und rührte sich nicht, seit Stunden. Das weisse Tuch um die Stirn verlieh den entfärbten Zügen einen Liebreiz, dessen er sich trotz seines Zustandes wahrscheinlich bewusst war. Ulrike berührte seine Hand. Er öffnete die Augen und sah sie an. Der Starrkrampf der Erbitterung löste sich, die Lippen bewegten sich. Ulrike schaute sich vorsichtig um. Es war niemand im Zimmer. Da beugte sie sich herab, küsste ihn auf den Mund, und während sich sein Gesicht mit freudigflammender Röte bedeckte, flüsterte sie: „Ich geh jetzt zu ihm. Ich werde dich rächen. Steh auf. Sei ein Mann.“

Danach huschte sie fort.

Ulrike Woytich

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