Читать книгу Ulrike Woytich - Jakob Wassermann - Страница 12
Ulrike entringt dem Schatzhüter sein Geheimnis
ОглавлениеEs war dreiviertel sieben vorbei, als Ulrike den Myliusschen Laden betrat. Der Angestellte, ein kahlköpfiger, leidend aussehender Mensch mit einer blauen Brille, rüstete sich zum Weggehen. Ein alter Diener trug die Verschlussbretter für die Tür und die Schaufenster hinaus. Im Hintergrund des langen Raumes tauchte spähend Mylius auf. Da die meisten Gasflammen schon verlöscht waren, herrschte unangenehm bleiches Zwielicht. Doch Mylius erkannte sie sogleich, kam mit seinem torkelnden Gang, die Hände in den Taschen, auf sie zu und grüsste verdrossen.
Wenn es ihm recht sei, möchte sie jetzt die Briefe schreiben, sagte sie; früher habe sie leider nicht Zeit gefunden; wie sie sehe, werde aber das Gewölbe geschlossen, es sei also wohl nicht mehr möglich?
Mylius zog die Uhr und überlegte. Ulrike erkannte sehr genau, dass er auf sie gewartet hatte und längst mit sich im reinen war. Sehr freundlich, dass sie sich erinnere, antwortete er; für ihn sei es nicht zu spät, für ihn gebe es keine Feierstunde; ob sie sich in sein Privatbureau bemühen wolle?
Er wies nach hinten und sie folgte ihm. Dem Diener gebot er, die Lichter im Gewölbe brennen zu lassen, den Gasometer werde er selbst zudrehn. Dann ging er noch einmal hinaus und gab ihm mit leiser Stimme einen Befehl. Wieder in dem engen, von zwei grünbeschirmten Lampen erleuchteten Kontor angelangt, entnahm er einer Pultlade ein paar vollbeschriebene Blätter und reichte sie Ulrike. Es waren die deutschen Texte zu den Briefen, die sie übersetzen sollte. Sie liess sich auf einem der beiden Schraubstühle nieder, dem Platz des Bebrillten offenbar, denn Mylius sass auf der gegenüberliegenden Seite des Doppelpultes, und fing an zu lesen. Das eine Schriftstück betraf den Verkauf der Einrichtung aus einem herzoglichen Schloss, das andere die Erwerbung zweier Bilder, eines Watteau und eines Turner. In beiden Fällen handelte es sich um bedeutende Summen. Mylius hatte den Stummel einer ausgebrannten Virginiazigarre im Mund, er rauchte aus Sparsamkeit meist kalt, addierte halblaut Zahlen in einem Heft und schien Ulrikes Anwesenheit vergessen zu haben. Doch entging es ihr nicht, dass er bisweilen einen forschenden Blick auf sie warf.
Sie legte die Blätter weg. Es würde zu lange dauern, wenn sie das heute noch machen sollte, sagte sie; es seien ja ganze Prozessschriften; darauf sei sie nicht gefasst gewesen.
„Fangen Sie heute wenigstens an, morgen ist auch ein Tag,“ antwortete Mylius unzufrieden; „oder haben Sie die Lust schon verloren? Hätte mirs denken können. Junge Damen haben was anderes im Sinn.“
„Stimmt diesmal zufällig,“ sagte Ulrike; „aber es ist nichts Erfreuliches. Erlauben Sie, dass ich ohne Umschweife davon rede. Wollen Sie mir zuhören oder soll ich warten, bis Sie mit dem Zusammenzählen fertig sind?“
Mylius hob den Kopf. „Bitte höflichst, Verehrteste,“ sagte er mit unangenehmem Glitzern im Blick, „was steht zu Diensten?“
„Wüsst ich nur, wie ichs vorbringen soll,“ begann Ulrike mit einem fast salbungsvollen Ton von Bescheidenheit; „ich meine die Geschichte mit Lothar. Unterbrechen Sie mich nicht, begehren Sie nicht auf, es kann mir nicht einfallen, mich in Ihre Erziehungsmassregeln zu mischen. Es war ein leichtsinniger Streich, und der Bub hat die Lehre verdient, die ihm zuteil geworden ist. Wenn einer meiner Brüder so was angestellt hätte, der Vater hätte ihn zu Brei zerschlagen. Ein belgischer Baron Saville, den ich kannte, hat seinen zwanzigjährigen Sohn, weil er sich mit Wucherern eingelassen hatte, vier Monate lang bei Wasser und Brot in das Verliess seiner alten Burg gesperrt; erst die Polizei musste ihn befreien. In London hab ich einmal zugesehn, wie ein Metzger einem verhungerten Köter, der ihm eine frisch-abgeschnittene Hammelrippe vom Hackblock stibitzte, das Beil nachschleuderte und ihm den Schädel zerspaltete. Der Mann war in seinem Recht. Hammelrippen sind heilig, besonders in England, und müssen verteidigt werden. Jeder wehrt sich wie er kann. Hierzulande ist man wehleidiger als anderswo; so eine Mutter hierzulande schreit gleich Zetermordio, wenn man das Söhnchen unsanft beim Schopfe packt. Ich hab was übrig für die Leute à la Saville, und die Köter, die auf Diebstahl ausgehn, sind mir verhasst.“
„Bravo, mein Fräulein, an gesundem Menschenverstand fehlt es Ihnen wahrlich nicht“, entgegnete Mylius, ohne den heimlichen Hohn in Ulrikes Worten zu spüren. „Alte Erfahrung: mit einem Menschen, der etwas von der Welt gesehn hat, lässt sich reden. Ich sage Ihnen, der Junge hat den Teufel im Leibe; was ist zu tun? Den Teufel hat man bekanntlich schon in alten Zeiten durch Prügel ausgetrieben. Man muss das Leck verstopfen, will man das Schiff vorm Sinken bewahren.“
„Ist wahr,“ nickte Ulrike, und der bescheidene Ton wurde geradezu unterwürfig; „bei Ihnen kann man lernen. Immerhin, das Malheur war geschehen, der angerichtete Schaden musste gutgemacht werden. Der Stock, so nützliche Dienste er geleistet haben mag, ist noch kein Zahlmeister, und die Ehrenreichs brauchten ihr Geld. Frau Christine hatte das Geld nicht, also hab ich mich zur Hilfe erboten und es vorgestreckt. Seien Sie nur ganz getrost, ich werde Sie nicht darum mahnen, ich weiss, dass es Ihnen schwer fiele, einen solchen Betrag unvorbereitet aus dem Geschäft zu nehmen; ich kenne das, habe ja selbst in den engsten Verhältnissen gelebt, man ist nicht alle Tage bei Kasse, Schulden da und dort, erst schindet man sich um den Taler, dann fliegen zwanzig zum Schornstein hinaus. Das verfluchte Geld; wie edelmütig könnte der Mensch sein, wäre nicht das Geld. Zu danken haben Sie mir nicht, ich tu es aus Freundschaft, Zinsen verlang ich keine. Sie unterschreiben einen Zettel: ich schulde an Ulrike Woytich oder deren Rechtsnachfolger achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer, die ich zurückerstatten werde, sobald ich in der Lage bin. Sie können auch in Raten zahlen; wie Sie wünschen, wie es Ihnen am besten passt. Nur möchte ich bitten, dass Sie über unsere Verhandlung zu Hause schweigen. Es ist Ihnen doch nicht lästig, dass ich so offen mit Ihnen rede?“
Die Frage klang ausserordentlich treuherzig, und Ulrike griff gleich nach einem Stück Papier und dem Federhalter, um den Schuldschein auszufertigen. Sie wusste, dass es nicht dazu kommen würde. Mylius schob den Stummel vom rechten Mundwinkel in den linken und biss mit den kleinen gelben Zähnen grimmig in das zerkaute Ende. Ulrike tat, als bemerke sie es nicht. „Es ist eben schwer für einen Mann,“ sagte sie elegisch, wie zu sich selbst; „mein Gott, in heutiger Zeit. Zahlreiche Familie, Ladenmiete, Wohnungsmiete, Steuern, Gehälter, ein gewisser Schein von Wohlhabenheit und Kreditfähigkeit muss aufrechterhalten werden; ein paar hundert Gulden will man zurücklegen für Krankheitsfälle oder Extratouren; das alles aufzubringen, ist keine Kleinigkeit. Wenn man ein junger Mensch ist, na ja, da verträgt man einen Puff, da schlüpft man so mit durch, aber in gesetzten Jahren und mit solcher Last und soviel Existenzen auf dem Buckel, da ist es bitter.“ Sie seufzte. „Könnt ich Ihnen nur helfen!“ brach sie aus und schlug auf das Pult, „wär ich doch kein Frauenzimmer!“
Mylius erhob sich. Er schritt eine Weile zwischen dem eisernen Ofen und dem Geldschrank hin und her, und Ulrike beobachtete ihn neugierig. Plötzlich blieb er stehen, wandte sich zu ihr und sagte lakonisch: „So ein einfältiges Geschwätz hab ich all meine Tage nicht gehört.“ Er kicherte.
Ulrike machte ein erstauntes und beleidigtes Gesicht.
„Kommen Sie mal mit mir,“ fuhr er fort und winkte ihr mit dem Finger; „ich will Ihnen mal was zeigen.“ Er ging voran und führte sie quer durch das vordere Gewölbe, in dem die Lichter brannten, in einen finstern Raum, der seitlich davon lag. Er zündete zwei Gasflammen an und sagte in gönnerhaftem und humoristischem Ton: „Jetzt passen Sie auf, Sie unschuldsvolle Seele. Sehen Sie den Schrank da?“ Er deutete auf ein riesiges wurmstichiges Möbelstück, das schwarz neben der Tür aufragte.
„Ja; ein alter Kasten, gewiss,“ antwortete Ulrike harmlos; „auf dem Trödelmarkt gibts viele von der Art. Was ists mit ihm?“
Mylius lachte. „Es ist ein Augsburger Schrank aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, Herzchen. Ich habe ihn auf einer Auktion in Stuttgart um achtzehntausend Mark erstanden. Er ist mehr als das doppelte wert. Die geschnitzten Engel sind allein eine Kostbarkeit.“
„Achtzehntausend Mark?“ rief Ulrike mit dem Ausdruck vollkommensten Unglaubens; „was soll denn an dem verräucherten Brettergestell achtzehntausend Mark kosten? Mir können Sie leicht einen Bären aufbinden. Um das Geld kann man ja das ganze Zeug, das da herumsteht, beim Juden erhandeln.“
Mylius lachte bloss. Er geriet nun in eine wunderliche Geschäftigkeit. Er schleppte einen Stuhl mit geschnitztem Wappen herbei und sagte, der sei aus dem Palazzo Strozzi in Florenz und für Sammler eine begehrenswerte Rarität. Wenn sie ihm fünftausend Gulden dafür biete, sei er ihm noch nicht feil. Er führte sie zu einem Reitsattel, der eine verschossene Samtdecke und Verzierungen aus Elfenbein hatte und aus der Zeit der Maurenherrschaft in Granada stammte; dafür habe er siebentausend Gulden auf den Tisch gelegt. Er zeigte ihr eine Bronzefigur von Riccio, Kopf des schlangenhaarigen Neides, und meinte, wer die besitze, könne sich ins Fäustchen lachen; er wies ihr Medaillen von Pisanello und Miniaturen von Füger und Isabey und sagte, die repräsentierten, wie sie sie da sehe, ein ganz stattliches bürgerliches Vermögen. Während sie noch in Betrachtung stand, kam er mit einem Becher, bei dessen Anblick sie stutzte, denn er war aus purem Gold und Mylius sagte, es sei ein Gefäss von Jamnitzer, einem berühmten Meister der deutschen Renaissance, und sei nicht für fünfzigtausend Gulden zu haben. Dann zog er sie am Ärmel zu einer Vitrine; in dieser befand sich etwas Merkwürdiges, ein winziges Bett mit entzückend geschnitzten Elfenbeinengeln und einem Baldachin, von dem ihr Mylius mitteilte, er sei aus echtem Genueser Samt, einem der seltensten Stoffe der Welt; das Ganze sei das Puppenbett einer burgundischen Prinzessin aus der Zeit Karls des Kühnen, ein Museumsstück von unermesslichem Wert, das er durch Zufall an sich gebracht.
Ulrikes Augen bekamen einen gierigen Glanz, den sie zu verbergen bestrebt war. Allmählich war ihr die Lachlust vergangen. Das Puppenbett der burgundischen Prinzessin gefiel ihr. Sie konnte den Blick nicht losreissen. Sie prägte sich die Formen und Figuren ein. Es erwachte ein neuer Instinkt in ihrer Brust, ein neues, aus Aberglauben, Verlangen, Scheu und Wertahnung gemischtes Gefühl für die schmückenden Dinge, die leblosen, mit Vergangenheit beladenen, an Vergangenheit gebundenen Dinge, von denen ein jedes einzig in seiner Art war, jedes den Wunsch der Wissenden ausmachte, jedes ein Stück Reichtum in sich trug und infolgedessen Schutz und Sicherheit verschaffte gegen die Not und gegen die Gewöhnlichkeit. Das Puppenbett der burgundischen Prinzessin mit den zierlichen Säulchen und dem Samtbaldachin wurde ihr zum lockenden Bild einer unbekannten Welt, und beinahe hätte sie die Hände ausgestreckt, um es zu nehmen und zu behalten, so unabweisbar hatte sie die Empfindung: das ist für mich bestimmt, das gehört mir und gehört zu mir.
Sie hütete sich aber, hiervon etwas merken zu lassen, auch lenkte Mylius’ Gebaren ihre Aufmerksamkeit völlig auf seine Person. Er kramte in Truhen, Fächern, Schubladen, schleppte Dutzende von Gegenständen herbei, erklärte, deutete, bewunderte, forderte sie auf zu bewundern, nannte Preise, berichtete, wo er dies entdeckt habe, welche Geschichte hinter jenem lag, wer es veräussert habe, wer es zu erwerben trachte, nannte Namen von Herzogen und Herzoginnen, Fürsten und Fürstinnen, Grafen, Baronen, grossen Herren aller Länder, zitierte Gespräche mit ihnen, schilderte die Mühen und Listen, deren es bedurft, um eine Schale, ein Service, einen alten Schreibtisch, eine Schmiedearbeit, ein Gemälde in seinen Besitz zu bringen. Er war verwandelt, ein Mensch von anderer Kategorie als der, den sie in ihm zu sehen gewohnt war; seine Miene hatte etwas still Verliebtes und Gehobenes wie bei einem Trophäenträger; das allein schon hätte Ulrike Vorstellung und Begriff von dem Wert der aufgehäuften Altertümer gegeben, auch wenn sie minder weltläufig und unbelehrter gewesen wäre, als es ihr passte, sich zu stellen. Sein Lächeln war gutmütig-spöttisch, als wollte er sagen: du hast dich getäuscht, Armselige, bekenne nun deine traurige Ignoranz. Er hatte gleitende, geschmeidige, streichelnde, sachtreue Bewegungen, die Hände umfassten das einzelne mit stolzer Sorgfalt. Da war ein Ding, das einer Königin zu eigen gewesen war; da eines, an dem das Schicksal eines grossen Geschlechtes hing; da eines, das von der Verarmung eines ehemals glänzenden Hauses zeugte; da eines von unbekannter Herkunft, bedeutend und anziehend nur für Kenner. Mylius betastete sie, schätzte sie ab, klammerte sich mit den Blicken an sie, kannte ihre verborgenen Merkmale, ihre geheimen Fehler, wusste um ihre Einzigkeit oder ob der Wert verringert war durch Duplikate, Pendants und Nachahmungen, hielt Zwiegespräche mit ihnen, als seien sie lebendige oder schlummernde Geschöpfe, warf eine Anekdote hin, die an diesem haftete, ein historisches Ereignis, das jenes erhöhte und beleuchtete, einen langwierigen Prozess, der um ein drittes geführt worden war. Da war eine mit Halbedelsteinen besetzte Kette aus erstaunlicher Silberfiligranarbeit; wie er sie wog; wie er sie bedächtig auf die Stoffunterlage breitete; er sagte, sie sei einst Eigentum der schönen Fürstin Sapieha gewesen; als wenn er sie um den Hals der Fürstin legte, war die Gebärde, als wenn mit der Kette auch die Fürstin selbst sein geworden wäre und er Macht hätte über ihre abgeschiedene Seele oder sie auferstehen lassen könnte aus dem Grab.
Es war Äusserung von Macht. Zum erstenmal erfuhr Ulrike zu innerst und im tiefsten Kern, was Besitz ist. Dieser Mann besass! Alle diese Gegenstände waren sein, weil er in allen lebte, in allen herrschte, sie alle durchdrang, durchwirkte, durchblutete. Dieser alte Mann war unnahbar, unangreifbar durch Besitz, und durch Besitz wuchs er in ihren Augen zu gewaltiger Grösse.
Aber sie hätte sichs nie verziehen, wenn sie das geringste hiervon hätte wahrnehmen lassen. Was sie da sah und gesehen hatte, galt nicht und entschied nicht für sie. Ihr war nötig Einblick, Überblick, Zahl, Bestimmtheit, Mass und Unbezweifelbarkeit. Mit ihren aufgestachelten Sinnen witterte sie aufs schärfste, dass alles, was er ihr dargeboten und gewiesen, etwas anderes verbarg, Wichtigeres noch, dass es nur das Fundament war, über dem sich ein Gebäude erhob, dessen Umfang und Höhe sie nicht zu erkennen vermochte, weil er es wie ein Zauberer den Blicken der Menschen entrückt hatte, zu dem er ihr aber den Zutritt je früher freigeben würde, je blinder sie sich stellte.
Es war indessen acht Uhr geworden, und Ulrike sagte, sie müsse nach Hause, sie wolle ihn nicht länger stören. Mylius schüttelte den Kopf. Er habe seiner Frau Botschaft durch den Diener geschickt, dass er spät oder gar nicht zum Essen kommen würde, antwortete er; habe ausrichten lassen, er habe eine Besprechung mit einem Geschäftsfreund, der morgen früh wieder abreise. Warum das? fragte Ulrike verwundert, es laufe ja seiner ehrwürdigsten Gewohnheit entgegen; man wisse ja, dass er in Jahren nicht den Abend ausserhalb der Familie verbracht habe; was ihn denn eigentlich verhindere, nach Hause zu gehen? Es sei nun so, antwortete er, plötzlich mürrisch geworden; er habe sichs schon gestern vorgesetzt, als sie ihm ihr Kommen angekündigt, und als sie in den Laden getreten, sei es beschlossen gewesen. Es wäre etwas zwischen ihm und ihr, das hätte erledigt werden müssen. Also ihretwegen? fragte Ulrike noch verwunderter; es schmeichle ihr natürlich ungemein; sie könne sich nicht denken, worauf er es beziehe; meine er den Trödelladen, mit dessen Inhalt er sie eben bekannt gemacht, sie sagte es in absichtlich geringschätzigem Ton, so müsse sie gestehen, es habe sie interessiert, mal so was zu besichtigen, aber damit seien sie ja nun fertig, und er brauche zu Hause das Essen nicht versäumen. Mylius schien geärgert; er entgegnete, um sein leibliches Wohl möge sie sich nicht sorgen, er habe ein paar Brote in die Tasche gesteckt und werde sie jetzt mit ihrer Erlaubnis verzehren. Er zog ein nicht ganz sauberes Päckchen aus der Rocktasche, wickelte es auf, es enthielt drei mit Wurst belegte Semmeln, und reichte es ihr auf der flachen Hand. Sie dankte; sie ihrerseits müsse heim, sagte sie und schickte sich an, durch den vorderen Raum ins Kontor zu gehen, um Mantel und Hut zu holen.
Dieser ganze banale Wortwechsel war von Ulrike aus eine höchst geschickt inszenierte Komödie.
Mylius folgte ihr langsam. Er verwandte kein Auge von ihrem Gesicht. Sein Blick war unruhig und finster. Als sie nach dem Mantel griff, sagte er: „Sie irren. Wir sind durchaus noch nicht fertig.“
„Wieso?“ fragte sie, erschrocken tuend, „soll ich vielleicht noch mehr Trödel bestaunen? Genug für heute.“
Mylius würgte den Bissen, den er im Munde hatte, hinunter und sagte erbost: „Trödel? Trödel? Das Wort scheint Ihnen Spass zu machen. Sie haben also nicht begriffen, was der Trödel ist und was dahintersteckt? Ist in dem geehrten Köpfchen zu wenig Platz also. Das geehrte Köpfchen kann nicht fassen, dass der Trödel eine ungeheure Lebensarbeit veranschaulicht und in sich schliesst? Schade. Hätte das geehrte Köpfchen für klüger gehalten.“
„Lassen Sie mein Köpfchen gefälligst aus dem Spiel“, fuhr ihn Ulrike missmutig an. Dann, nach einer Pause, sagte sie, es sei Maulwurfswesen. Staub sei es, Wurmfrass, Verfall, Überbleibsel, Allerweltshausrat. Dass Hunderttausende in dem Ramschmagazin steckten, wolle sie nicht leugnen, dürfe sie auch nicht bezweifeln, aber das sei, wie wenn man Goldkörner aus einem Berg graben wolle. Wer habe was von den Hunderttausenden? Er allein habe Freude davon. Doch das sei Narrenfreude nur, denn er gönne sich ja nicht die Butter aufs Brot. Es seien auch bloss eingebildete Werte, abhängig vom Belieben der Sonderlinge und der ridikülen Laune reicher Dummköpfe. Heute Mode, morgen Moder. Eine Zufallswoge treibe den Preis empor, eine andere stürze ihn. Handel sei soviel wie Borg; man setze die Dinge gegeneinander zum Pfand. Das sei nichts Festes, nichts wobei man sagen könne: das und das hab ich, keiner kann mirs streitig machen und keiner wegnehmen, darum muss ich nicht zittern in der Nacht, nicht Diebe und Feuer fürchten, es steht da wie ein Turm. Ihr imponiere bloss das Feste; sie sei für den Turm und nicht für Ramsch. Und wenns noch zehnmal soviel Trödel wäre und hundertmal so kostbar, es könne ihr nichts bedeuten, nicht mehr als schillernde Seifenblasen, die ja auch aus trübem Wasser entstünden. Er wiege sich vielleicht in der Illusion, er schwimme in Reichtümern, aber sie wisse recht gut, dass er sich selber keinen Glauben beimesse und es in seinem Innern für eitel Blendwerk halte. Wie käme es denn sonst, dass er ein Leben führe wie ein Armenhäusler und den eigenen Sohn wegen jämmerlicher fünfzig Gulden zuschanden schlage? Er möge ihrs nicht übelnehmen, aber sie müsse reden, wie ihr der Schnabel gewachsen sei, und ihr widre nun einmal gründlich vor der Armenhäuslerluft um ihn herum. Ihr widre einerseits, andererseits daure er sie, daure sie die Frau, dauerten sie die Kinder.
Mylius entgegnete nichts. Er ging hin und her, hin und her, unablässig. Die Stimme, die da sprach, verursachte ihm eine ungewohnte Pein. Sie durchwühlte ihn; es war, als schabe sie ihm die Haut vom Leibe, aber er erinnerte sich nicht, je eine so sonderbare Lust beim Anhören einer Stimme verspürt zu haben. Sie versetzte ihn in einen Rausch von Zorn und Hass, doch Zorn und Hass mündeten in jene Lust. Er fühlte manchmal ähnliches, wenn er unerkannt eines seiner Häuser betrat, die irgendwelchen Strohmännern zugeschrieben waren, aber in Wirklichkeit ihm gehörten, ihm vom Dach bis zum Keller, und wenn ihn niemand grüsste, niemand beachtete, während doch jeder einzelne in Devotion erstorben wäre, hätte er gewusst, wer der unscheinbare Fremdling war. Darauf eben war seine Existenz gegründet, ihr Verführerisches, ihr Gefährliches, auf das Harun-al-Raschid-Sein, das heimliche König-Sein, Fülle der Gewalt zusammengepresst in einen unscheinbaren Kern, so dass Wirklichkeit schon beinahe Traum wurde und die Stunden des Tages sich in Zauberspiegel verwandelten, die der Welt eine armselige Lüge, ihm aber die berückende Wahrheit zeigten.
Die Stimme war ein Verdichtetes von vielen Stimmen auf dem dreieinhalb Dezennien langen Weg zum Ziele. Er hatte keiner das Ohr geliehen; er hatte es verstanden, hart und fest zu bleiben. Man konnte behaupten, sein Herz habe sich nicht geregt in dreieinhalb Jahrzehnten; seine Sinne hatten einem zugefrorenen See geglichen. Diese Stimme rief ihn anders an; er konnte nicht umhin, ihr zu lauschen. Sie verhiess etwas; sie hatte ein dunkel-ehernes Metall; und wenn es bloss wäre, dass man sie vor Erstaunen verstummen machen konnte: herrlichster Augenblick. Er ging hin und her, hin und her, lauernd, furchtsam, unschlüssig. Da sagte Ulrike: „Vergessen Sie nicht, den Schuldschein zu schreiben; dass ich eine Sicherheit haben muss, werden Sie einsehen.“
Erst verzerrte sich sein Gesicht vor Ärger, dann kicherte er. Er schritt zum Geldschrank, öffnete die angelehnte schwere Stahltür, entnahm ihm ein grüngegittertes Körbchen, das mit Silbergeld angefüllt war, stellte es auf das Pult und zählte mit ungeduldig stossenden, gehässigen Handbewegungen achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer vor Ulrike hin, immerfort boshaft kichernd, da er wusste und wünschte, dass ihr die Unterbringung so vieler Münzen lästig fallen würde.
Ulrike zählte nach, langte nach ihrem Stoffbeutel und schob seelenruhig das ganze glockentönende Geld hinein.
Nun herrschte eine Weile Schweigen. Mylius setzte sich auf seinen Drehstuhl und verschränkte die Arme. Er knirschte ein wenig mit den Zähnen und fragte plötzlich, indem er sie starr ansah, ob sie ihn für einen sehr einsamen Menschen halte. Sie besann sich und bejahte, doch in einer Art, als denke sie an etwas anderes. Ob sie eine Vermutung über den Grund dieser Einsamkeit habe? Sie runzelte die Stirn und war eine Sekunde lang über den Zweck des Verhörs im unklaren, aber nur eine Sekunde lang; eine minder scharfsinnige Person hätte durch Befremdung oder zur Schau getragene tugendhafte Frostigkeit einen kaum mehr gutzumachenden Fehler begangen. Sie entschloss sich, wieder die bescheidene, gelehrige Miene zu zeigen, und lächelte aufmerksam. Mylius sagte, seine Einsamkeit rühre her von der Furcht; Furcht vor den Menschen, Furcht vor ihrem Neid, ihrer Neugier, ihrer Habsucht, ihrer Begehrlichkeit.
Er hielt inne, um den Eindruck seiner Worte zu beobachten. Ulrike sagte nichts. Die Finger der rechten Hand spielten mit dem Korallenkettchen am Gelenk der linken. Ihre Augen waren gesenkt, das Herz klopfte heftig.
Er wisse nicht, ob sie Vertrauen verdiene, fuhr er fort; wäre er überzeugt, dass er sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen könne, Verschwiegenheit, die unbrechbar sein müsste wie Gold, so würde er ihr etwas eröffnen, was er noch keiner Menschenseele eröffnet. Sie werde also begreifen, dass es sich um ein Vertrauen höchsten Grades handle, ein erprobtes und bewiesenes; aber obschon er sie für ein ungewöhnliches Frauenzimmer halte, ungewöhnlich durch Schicksal wie durch Charakter, in dem Punkt habe er seine Bedenken, das mache ihn zaudern.
„Soll ich mich selber rühmen?“ fragte Ulrike; „hab ich ein anderes Zeugnis als mein Gesicht und meine Augen? Und wenn ichs hätte, wärs glaubwürdiger als die? Für die Welt ist der Mensch, was er scheint, aber wer die richtige Nase hat, wird dann auch nicht enttäuscht von dem, was er ist. Ich seh mir die Leute immer besser an, als sie mich ansehn, dadurch bleibt mir ein Vorteil in der Hand. Verschwiegenheit ist zuweilen ein gutes Geschäft, zuweilen ein schlechtes. Ich kann von einem schlechten erzählen. Meine erste Stellung in Brüssel war bei einer Baronin Desmarest; sie lebte mit ihrem Mann im Scheidungsprozess, und es war noch ungewiss, wem die Kinder zugesprochen würden. Die Frau hatte die geringeren Aussichten, die Kinder, zwei engelschöne Geschöpfe, die der Baron über die Massen liebte, befanden sich aber noch bei ihr. In der Angst, sie zu verlieren, fasste sie den Entschluss, sie aus dem Hause zu geben; das geschah in grosser Heimlichkeit. Sie brachte sie zu ihrer alten Amme in ein Dorf bei Rouen, und ich begleitete sie auf der Reise, war also der einzige Mensch, der den Aufenthalt der Kinder kannte. Die Baronin war eine äusserst launenhafte Dame; die Trennung von den Kindern und die Angst vor dem Gerichtsbeschluss, der dann auch wirklich zu ihren Ungunsten ausfiel, verstörte ihr Gemüt, und das gute Einvernehmen zwischen mir und ihr endete eines Tages mit einem Streit, den sie vom Zaun brach und in dessen Verlauf sie mich gröblich beleidigte. Sie hatte es darauf angelegt, dass ich Knall und Fall das Haus verlassen musste, da sie seit der Scheidung in bedrängten Umständen war und sich schämte, mir zu gestehen, dass sie mir nicht einmal mehr den Gehalt bezahlen konnte. Ich hatte keine fünf Franken im Vermögen, ein anderer Posten wollte sich nicht finden, ich führte wochenlang ein Leben zum Gotterbarmen, und es kam vor, dass ich in Tagen nicht ein Stück Brot zu essen hatte. Also Hunger, nackter blöder Hunger. Da erschien eines Morgens der Baron Desmarest bei mir; weiss der Himmel, wie er es fertig gebracht hatte, meine Wohnung zu entdecken. Er wollte mich dazu bewegen, dass ich ihm verriet, wo die Kinder hingeschafft worden waren, nach denen er seit dem gerichtlichen Spruch unablässig, aber vergeblich, gesucht hatte. Ich weigerte mich. Die erste Unterredung war nur kurz, doch er kam wieder. Er erschöpfte sich in Bitten und Argumenten, er bot mir Geld, eine beträchtliche Summe, er versprach, meine Zukunft sicher zu stellen, er weinte und tobte vor mir, ich liess mich auf nichts ein und sagte, das könne ich vor der Mutter nicht verantworten. Wie die Geschichte ausging, weiss ich nicht; es gelang mir ein paar Tage darauf, ein Unterkommen zu finden, und ich war nun doppelt froh, dass ich mich nicht verkauft hatte. Eher noch hätt ichs für die guten Worte tun können als für Geld; ich mochte nicht, vielleicht aus Eigensinn nicht, vielleicht aus esprit de corps nicht, denn die Männer haben fast immer Unrecht gegen die Frauen, auch wo das Recht auf ihrer Seite ist. Sie sehen also, schweigen kann ich; ich muss nur wissen, was auf dem Spiel steht.“
Mylius nickte mehrmals düster versonnen. „Freilich,“ murmelte er, „um Bagatellen verlohnt sich kein Eid. Auch besteh ich nicht auf einem Eid. Ein Handschlag ist oft besser und bindet stärker. Was auf dem Spiel steht? Weiss nicht. Ich weiss bloss, dass mich die Last zu drücken anfängt. Das Netz wird eng; der Fäden sind zu viele. Bisweilen verlangt mich nach einem Menschen, zu dem ich sagen kann: da und da haperts, was soll geschehen? da und da hab ich meine liebe Not, ich tue das und das, ists gut so? Der oder die Betreffende brauchte nicht zu antworten. Nötig ist, dass er hört und versteht. Haben Sie draussen im Laden die marmorne Grabstele gesehn? Es soll der römische Kaiser Septimius Severus sein, behaupten die Archäologen. Vor den postier ich mich manchmal hin und red ihn an. Frag ihn zum Beispiel, ob ich den Anbau zu dem Haus auf der Rossauerlände dazukaufen soll; ob die Sägemühle bei Mönchskirchen nicht mehr Nutzen abwerfen würde, wenn man das Stauwerk höher legte; ob es geraten ist, den Duborczinschen Wald zur Hälfte schlagen zu lassen; bricht Krieg aus, ist der ganze verloren. Wenn ich nachts aufwache, stürmen die Gedanken wie ein Rudel Wölfe auf mich ein. Der Verwalter auf dem Landskroner Gut scheint kein ehrlicher Mann zu sein; ein anderer, unter dessen Namen der Gleichenberger Meierhof gekauft worden ist, fordert Provision über die Gebühr und man muss ihm den Standpunkt klar machen; statt für fünfzehntausend Pfund englische Konsols hätte man vielleicht nur für zehntausend kaufen und für den übrigen Betrag afrikanische Minenpapiere anschaffen sollen, die jetzt soviel versprechen; der Verkauf der Petroleumaktien war übereilt, sie steigen sicher noch im Kurs; so muss man alles mit sich selber abmachen. Wen sollte man einweihen? Die Frau? die würde mit den Ohren von allen ihren Kindern hören, und bin ich nicht jetzt schon der Rabenvater, der seine Familie darben lässt, weil er kein Gefühl für sie hat? Sie selber haben mirs ja eben an den Kopf geworfen. Aber die mag ich nicht zu Mitwissern haben, die von mir zehren wollen. Was ich aufgerichtet habe, ist für künftige Zeiten aufgerichtet, es ist mein, verstehen Sie? ausschliesslich mein. Da gibt es keine Blutsbande, keine väterliche Schwäche, keine sentimentalen Rücksichten, das lass ich mir nicht wegdisputieren, sie haben zu leben, sie haben ein Dach überm Kopf, das andere ist mein. Aber nehmen wir an, ein Mensch gräbt im Dunkeln, im Innern der Erde fördert er gigantische Schätze und ist sich dessen bewusst; trotz dieses Bewusstseins kommt es wie Geistesverwirrung über ihn und er verliert den Massstab, den Blick, er wünscht, dass ein Strahl Licht auf sein Getanes fällt, dass einer, den er achtet und der ihn nicht erkennt, die Meinung über den einsamen Wühler gründlich ändern muss und zur Einsicht kommt: der alte Mylius, aufgepasst, ist kein Stück Dreck am Weg, das man mit dem eleganten Fussspitzchen beiseite schleudern kann; ihr täuscht euch, ein Block ist er, ein Berg ist er, ein Gebirg ist er, aufgepasst, sonst rennt ihr euch die Schädel ein. Sehen Sie, das ist mein Fall. Neun Millionen Gulden hab ich mir errungen, errungen, so darf ichs wohl nennen; und Sie, mein liebenswürdiges Kind, halten mich für einen Bettler, dem man achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer mitleidig borgen muss.“
Er stiess ein meckerndes Gelächter aus, und Ulrike, die überzeugt war, dass er plötzlich verrückt geworden sei, sah ihn an und musste gleichfalls lachen.
„Nun, was sagen Sie jetzt?“ fragte er, indem er sich vor ihr aufstellte, die Arme auf die Hüften gestemmt, den Kopf zurückgeworfen.
„Ich sage, dass Sie ein bisschen übergeschnappt sind und dass Sie sich ins Bett legen und ein beruhigendes Pulver nehmen sollten“, antwortete Ulrike unwillig.
„Dacht es mir“, nickte Mylius grinsend. „Solche Zahl hat etwas als ob einen der Donner anrührte. Dacht es mir, dass Sie glauben würden, es sei in meinem Uhrwerk da oben nicht recht richtig. Ist auch ganz in der Ordnung so, denn für Aufschneiderei und Zungengeläufigkeit eines Möchtegern und Gernegross könnte das nicht mehr gelten. Liegt schon jenseits der Grenze. Würde mich an Ihrer Stelle nicht anders verhalten. Aber Gott sei Dank gibt es ja Beweise, und sogar unumstössliche Beweise. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt zu reden, wenn ich nicht dokumentarisch belegen könnte, was Ihnen so ungeheuerlich, so hirnverbrannt scheint, meine Gute, meine Teure.“
Er liess sein unleidliches Kichern hören, ging abermals zum Geldschrank, holte aus dem oberen Fach ein umfängliches blaues Kuvert heraus und entnahm diesem einige Bogen Papier, die er mit zitternden Fingern auseinanderfaltete und Ulrike dicht vor die Augen hielt. „Was ist das?“ fragte er heiser und gebieterisch; „was ist das? Ein Testament, nicht wahr? Ausgefertigt, eigenhändig unterschrieben, notariell beglaubigt und mit dem Amtssiegel versehen: wann? Am zweiten Januar dieses Jahres. Gut. Was steht hier, am Schluss der fünften Seite, das da, was als Endresultat mit roter Tinte doppelt unterstrichen ist, was steht da? Lesen Sie! Lesen Sie laut!“
Ulrike las gehorsam vor: „Gesamtstand meines Vermögens am heutigen Tage Summa Summarum: neun Millionen einhundertdreiundzwanzigtausend Gulden.“
Ulrikes Gesicht wurde so weiss wie das Blatt vor ihr. Die Stimme brach und verlor sich in ein rauhes Gurgeln. Die Augen nässten sich, wie sie oft unter dem Einfluss des Grauens oder der tragischen Erschütterung feucht werden. Sie schaute Mylius leeren Blickes an, verstummt, regungslos, atemlos.
Diese Wirkung hatte Mylius erwartet, genau diese hatte er ersehnt. Seine Züge vergrösserten sich, ein fast irres Leuchten der Freude war in ihnen, etwas wie die glückliche Befriedigung eines Liebenden, der endlich Erhörung gefunden hat; er zog einen Stuhl ganze nahe zu Ulrike heran, setzte sich, blätterte hastig in den zusammengehefteten Bogen, deutete mit dem knochigen Zeigefinger auf einzelne Stellen, und seine Stimme klang sonderbar zärtlich, während er redete. „Sie sehen, meine hochgeschätzte Dame und Freundin, wie diese nicht unbeträchtliche Ziffer zustande gekommen ist. Es gesellt sich eben eines zum andern, sachte, sachte, keiner merkts, auf einmal läufts in die Milliönchen. Schöne Milliönchen, brave Milliönchen. Hat mans in Jahren und Jahren mit Fleiss und Geduld und Wachsamkeit und Sparsamkeit und Spürsinn bis zur ersten gebracht, dann folgt die zweite, die dritte, die vierte und so weiter bald nach wie die Schäfchen dem Leithammel. Da haben Sie zunächst den Überschlag über das Ramschmagazin, wie Sie es zu betiteln beliebten; hier: Abteilung Mobilien und Liegenschaften. Eindreiviertel Millionen. Ist natürlich nur eine ungefähre Schätzung, da es sich um fliessende Werte und veränderlichen Bestand handelt, doch eher zu niedrig als zu hoch gegriffen. Dann die Häuser. Drei Häuser in der Stadt, darunter das, in dem die Wohnung ist, und das, in dem wir uns befinden; zwei in der Vorstadt. Grundbücherlich auf Decknamen eingetragen, doch mittelst sicherer Verträge insgeheim auf mich überschrieben. Eine Million achtmalhunderttausend. Der galizische Wald, zehntausend Joch: zwei Millionen. Das Gut, die Meierei, das Schloss Gleichenstein, der ehemalig gräflich Weissenwolffsche Besitz, in Summa: zwei Millionen zweimalhunderttausend. Zuletzt: Wertpapiere, Renten-titres, Aktien, Promessen, Pfandbriefe, Obligationen, Schuldverschreibungen und Wechsel, in Summa: eine Million dreimalhundertdreiundsiebzigtausend. Capito, mein Fräulein Ulrike Woytich?“
Er schaute sie betroffen an, denn was ihm antwortete, war kein menschlicher Laut, sondern ein eigentümliches Krächzen; zugleich brach aus ihren weitgeöffneten Augen eine diabolische Flamme, etwas Verheerendes, Gelbes, Jaguarhaftes, das seinen zärtlichen und wortreichen Fiebereifer plötzlich dämpfte. Noch war das unbegrenzte Erstaunen in ihren Mienen; der ungläubige Schrecken, der ihm schmeichelte; das Nichtfassenkönnen, Nichtausdenkenkönnen; die Starrheit wie bei der Erscheinung eines Phänomens, für das keine Einbildungskraft zureichte; aber alles dies sammelte sich, ohne dass sie die Regung zu beherrschen oder zu verschleiern vermochte, zu jenem masslosen Blick aus dem innersten Innern. Sie stand auf. Sie stotterte, ihr sei nicht wohl; er möge draussen aufsperren und sie fortlassen; sie müsse an die Luft; sie könne nicht mehr zuhören, nicht mehr sprechen; sie müsse erst alles überdenken und sich zurechtfinden. Dabei warf sie den Mantel über, nahm sich nicht die Zeit, den Hut aufzusetzen, griff nach dem vom Silbergeld beschwerten Beutel und lief wie gehetzt in das vordere Gewölbe. Mylius folgte ihr aufgeregt und ängstlich verwundert, kehrte aber zurück, um auch seinen Mantel und Hut zu holen, da schrie sie wie ausser sich: „Aufmachen! sofort aufmachen!“ und erschrocken gehorchte er.
Nun war sie auf der Strasse. Sie rannte ein paar Schritte. Dann blieb sie stehen und presste die Hände gegen die Brust. Dann rannte sie wieder. Achtlos trat sie in Schneepfützen; das Wasser spritzte empor. Dann blieb sie abermals stehen, drückte die Schultern zusammen und flüsterte inbrünstig, drohend, überwältigt, fliegenden Atems: „Neun Millionen Gulden!“
Eine Weile starrte sie stumm die nächtlich verödete Gasse entlang, dann sagte sie mit dunkler voller Stimme: „Jetzt, Ulrike, nimm alle Kraft zusammen. Jetzt gibts Arbeit und Lohn für dich.“
Indes ein wildes Lächeln ihre Lippen kräuselte, setzte sie ihren Weg fort, äusserlich ruhiger, doch erfüllt von stürmischen Gedanken und Erwägungen.
Eine halbe Stunde danach, es war zehn Uhr, läutete sie an der Wohnung des Hofrats.