Читать книгу Ulrike Woytich - Jakob Wassermann - Страница 13

Hier wird nicht geträumt

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An den Gewohnheiten des Alten gemessen war es spät. Das ungestüme Ziehen der Glocke scheuchte zuerst die Smirczinska auf; sie erschien im Nachtkittel, struppig und erbost, und wollte Ulrike nicht einlassen. Der Streit artete in ein Handgemenge aus, der Lärm lockte den Hofrat herbei, gespenstisch hager stand er im grünen Schlafrock aus der Türschwelle. Ulrike drang mit Gewalt in sein Zimmer. Er maulte, doch wies er die keifende Smirczinska zur Ruhe. „Was fällt der Nachteule ein?“ schrie Ulrike; „bin ich so heruntergekommen, dass ich mich von diesem wackligen Knochengerüst beleidigen lassen muss? Schaffen Sie Ordnung zwischen mir und ihr, Onkel Klemens, sonst nehm ich den erstbesten Stuhl und schlag ihn an ihrem polnischen Querkopf entzwei.“

Der Hofrat maulte stärker. Er stelzte mit vorgestrecktem Hals wie ein schwarzer Storch um den Tisch herum und verschlang Luft. Sperrstunde, Bettzeit, Schlafenszeit; nichts war ihm so verhasst wie Störung. Ein Begriff von widerwärtig einschneidender Sinnfälligkeit: Störung. Ein österreichischer Begriff, Medusenfratze des Beamten. Was Ketzerei dem religiös Gläubigen, das war ihm Störung. Das, worauf man nicht vorbereitet war; was aus dem Gleichgewicht brachte; was nicht haargenau wie gestern war, mit einem Wort das Andere, das Neue.

Er hatte die Amtsherrschermiene in den Ruhestand hinübergetragen, diesen weltenalten Ausdruck von Reskriptverfassern und Aktenbestattern, den die Menschheit kennt wie ihre Zuchthäuser und ihre Friedhöfe. Wenn er am Fenster seiner düstern Wohnung sass und trübsinnig auf die Gasse blickte, auf die steinerne Madonna in der Mauernische gegenüber, auf den Bäckerladen und die Schusterwerkstatt, auf die Hüte, Mützen, Regenschirme und stapfenden Füsse der Passanten, hatte er noch immer das Gefühl, als bestehe das alles, weil er es erlaubt hatte, und als bedürfe es nur einer Urgenz oder eines Marginales, um es aus dem Fluss zu bringen. Dass er es nicht tat, hatte seinen Grund gleichsam darin, dass Störung vermieden werden musste.

Schon unter Metternich war er im Kanzleidienst gewesen. Er hatte noch, demütig gekrümmt, das schlau und süss lächelnde Diplomatengesicht des alten Gentz gesehen. Er hatte sich unter den bestellten Wächtern befunden, als die Revolutionsraben des Jahres 30 den ehrwürdigen Bau der Monarchie umkrächzten und dank den umsichtigen Vorkehrungen unverrichteter Dinge wieder in ihre gallischen Sümpfe zurückschwirren mussten. Er hatte im Jahre 48 die höchst gefährlichen Meutereien bändigen und ersticken geholfen, und als die Studenten aufs Glacis zogen, hatte er dafür plädiert, dass man die renitente Krapüle mit Kartätschen nach Hause schicke. Denn was war es? Störung. Er war unter Alexander Bach öffentlicher Zensor gewesen, hatte dabei täglich vor Augen gehabt, wessen die zuchtlosen Geister sich erfrechen, wenn man sie über Papier und Druckerschwärze unbehindert schalten lässt, und dem Literaten- und Zeitungsschmiererpack den Nerv abzuschneiden, war ihm Wonne gewesen.

Es gab nur einen einzigen Menschen in der Welt, der sich rühmen durfte, einen gewissen Einfluss auf ihn erlangt zu haben: Ulrike. Wodurch es gekommen war, wusste er nicht zu sagen, oder er hatte es vergessen; auch gestand er sichs nicht ein. Wenn er bloss ihre Schritte hörte, wurde ihm unbehaglich zumute, und am liebsten hätte er sich versteckt. Unter ihrem heftigen und durchbohrenden Blick befiel ihn eine Schwäche, deren er nicht Herr zu werden vermochte; ihr Auftreten, ihre Sprache, ihre boshaften Anspielungen, ihre unbekümmerte, ja unverschämte Kritik erregten seinen stummen, aber wirkungslosen Grimm. In ruhiger Gelassenheit hätte er seine Tage hinbringen können, wäre sie nicht gewesen; auch wenn sie fern war, erbitterte ihn der Gedanke an sie, an ihr respektloses Einbrechen in seine Existenz, an die Möglichkeit ihres plötzlichen Auftauchens, an die Störung, die sie in seinen Lebensabend gebracht hatte.

„Was ist nun wieder los?“ knurrte er sie an, als sie mit ihrer frech-gefälligen Fratze, wie er es im stillen nannte, vor ihm sass; „überfällt man einen alten Menschen bei nachtschlafender Zeit? Wozu treibst du dich noch in Wien herum? Befreie mich endlich von deinen lästigen Scherereien und Quertreibereien; mach dass du mir aus den Augen kommst; du hast um vier Wochen Frist gebeten, die sind um, die Mansarde wird am Ersten vermietet.“

„Ich brauche Ihre Mansarde nicht, Onkel, ich werde mich wo anders einquartieren“, antwortete Ulrike gleichmütig.

„Wo anders? Was soll das heissen? Willst am Ende hier bleiben? nicht nach Paris gehn?“

Sie nickte freundlich.

„Daraus wird nichts,“ brauste er auf, „du musst fort, schnür dein Bündel und schau, dass du fortkommst.“

„Echauffieren Sie sich nicht, ich bleibe hier,“ erwiderte Ulrike kühl; „in Ihrer Nähe, Onkel, unter Ihrem Schutz. Die Familie Mylius wird mich höchstwahrscheinlich bei sich aufnehmen. Sie wissen ja von meiner Beziehung zu den Leuten, ich hab Ihnen ja davon erzählt. Inzwischen hat sich mancherlei ereignet, und besonders was heute passiert ist, möcht ich Ihnen nicht vorenthalten, in Ihrem eigenen Interesse nicht.“ Auf einmal lachte sie vor sich hin, ergriff den mit Silbergeld gefüllten Beutel und schleuderte ihn mit ganzer Kraft gegen die Tür. Draussen ertönte ein unterdrückter Schrei.

Der Hofrat fuhr zusammen. Er wollte zornig werden, aber der klirrende Klang des Wurfgeschosses machte ihn betroffen. „Es scheint, du hast da einen Beutel voller Geld“, sagte er und sein pergamentgelbes Gesicht zeigte Argwohn und Erstaunen.

Ulrike hob den Beutel auf, schüttete die achtundvierzig Silbergulden auf den Tisch, ordnete sie in zwei Reihen, zog die Dose mit dem Smaragd hervor, die sich ebenfalls in dem Beutel befand, und legte sie an die Spitze der Kolonne. „Wie hoch schätzen Sie das Döschen, Onkel?“ fragte sie; „Sie verstehen sich doch auf dergleichen.“

Der Hofrat nahm die Dose, betrachtete sie von allen Seiten, öffnete sie, roch hinein, wog sie, faltete die Stirn und entgegnete: „Zwei- bis dreihundert mag sie wert sein; zweihundert gut und gern. Woher hast du sie? Vom alten Mylius etwa? Hast vielleicht ein Techtelmechtel mit dem alten Mylius? Wär gar nicht so dumm. Wär wirklich gar nicht so dumm.“ Er lachte das lautlose Lachen, bei dem sich die Muskeln des Unterkiefers schmerzhaft verzerrten.

„Können Sie dreissigtausend Gulden flüssig machen, Onkel?“ fragte Ulrike, die rüde Anzüglichkeit nicht beachtend; „haben Sie Lust, zehn Prozent dafür einzustreichen, also dreitausend glatt zu verdienen, ohne den Finger zu rühren?“

Der Hofrat riss die Augen auf. „Ich? Dreissigtausend Gulden? Ich? Mich dünkt, meine liebe Nichte, du bist schwachsinnig geworden. Dreissigtausend Gulden! Ich!“

„Hören Sie mir zu, bevor Sie mich anblasen,“ sagte Ulrike stirnrunzelnd; „es sind meine verwandtschaftlichen Gefühle, die mich veranlassen, Ihnen als erstem das Geschäft vorzuschlagen; wo ein so sicherer Gewinn in Aussicht steht, find ich Geldgeber soviel ich will.“

„Was hat sie da wieder ausgeheckt, heilige Mutter Gottes“, brummelte der Hofrat verstört.

„Hören Sie zu.“ Flüsternd begann sie zu berichten. Sie beugte sich hüben über den Tisch, der Hofrat beugte sich drüben über den Tisch. Die Hängelampe beschien den braunen Scheitel und den eisgrauen. Bisweilen knackte ein Möbel, bisweilen rieselte Kalk hinter der schlottrigen Tapete. Es war eine lange Erzählung. Der Hofrat lauschte mit steinernen Mienen und erloschenen Augen, doch bei der Gipfelung mit dem Testament und den neun Millionen am Schluss sprang er vom Sessel empor. Er drehte sich ein paarmal um seine Achse, was einen schauerlich-komischen Anblick bot, denn der grüne Schlafrock umflatterte ihn dabei und die Pantoffeln klappten wie bei einem Geistertanz. Er stiess unartikulierte Laute aus und brachte endlich die Worte hervor: „Entweder lügt sie wie der Satan, oder das ist die tollste Geschichte, die man je vernommen hat, seit die Welt erschaffen ist.“

„Dass Sie mich wieder verdächtigen, tut mir nicht weh und ich trags Ihnen nicht nach,“ sagte Ulrike; „toll ist die Geschichte ohne allen Zweifel. Fazit: die Frau wird von mir erfahren, wie es steht. Sie wird sich keinen Augenblick besinnen, ihr Leben den Verhältnissen entsprechend einzurichten, schon wegen der Kinder. Der Alte findet sich vor einer vollzogenen Tatsache, und ich stell ihm eine Falle, eine richtige Fuchsfalle, aus der es kein Entkommen gibt. Er wird sich entschliessen müssen, seine Schatzkammer aufzusperren, aber bis dahin brauchen wir Geld, viel Geld.“

Der Hofrat starrte stumm. Von solchen Vermögen war ihm kaum eine sagenhafte Kunde geworden. Es war das Unwahrscheinliche und das Unbegreifliche. Er wusste von Rothschild; aber Rothschild war eben Sage, etwas sehr Fernes, teuflisch Grossartiges und letzten Endes Unglaubhaftes. Die reichsten Leute, die er kennen gelernt, verfügten höchstens über eine Viertelmillion. Zu seiner Zeit war man mit einer Viertelmillion ein bestaunter Krösus gewesen. Die Zahl, die Ulrike genannt hatte, verursachte ihm Schwindel. Er schaute das junge Mädchen immerfort an, mit einem strengen und bösen Blick, und erwartete, dass sie unversehens in ihr herausforderndes Gelächter ausbrechen würde. Es wäre ihm beinahe lieb gewesen. Als es nicht geschah, fing er an, leise und seltsam zu stöhnen. Er habe kein Geld, sagte er; wie sie auf den frevlerisch unnatürlichen Gedanken gerate, dass er soviel Geld habe, er mit seinen dreitausend Gulden Pension und den Zulagen, die nicht der Rede wert seien. Schändlich, dass sie ihm mit solchem Ansinnen komme, schändlich, seinen Frieden mit so frivolen Hirngeburten zu stören.

Ulrike stand auf, wie um zu gehen, und antwortete schnöde, er möge sein Geld ihretwegen in den Rauchfang hängen. Da fuchtelte er mit den Armen, schritt um den Tisch herum und verlangte mit drohender Stimme, dass sie schwöre. Sie solle schwören, es sei die reine Wahrheit, die sie berichtet, schwören, sie habe das Testament und die genannte Zahl mit eigenen Augen gesehen. Ulrike erhob die Hand zum Schwur. „Halt!“ rief er, „halt! schwöre bei der Seele deiner Mutter, schwöre Silbe für Silbe, was ich dir vorsage.“ Er sagte ihr den Schwur vor und sie sprach ihn nach, indem sie auf die Zimmerdecke schaute, als betrachte sie eine Fliege. Trotz dieses Schwurs verfiel der Hofrat wieder in sein seltsames Stöhnen: er habe das Geld nicht; wo solle er dreissigtausend Gulden hernehmen? wo um Christi willen, das möge sie ihm sagen.

Aber Ulrike schien weiteren Erörterungen abgeneigt; sie wünschte dem Greis mit einem kleinen Knix gute Nacht und verliess schnell die Stube. Ihr genügte sein verzweifeltes Schnappen nach der Angel; sie wusste, dass sie den aufgeregt zappelnden Fisch fangen würde. Geld; Hexenwort; es brauchte nur ausgesprochen zu werden, und die armen Menschlein wurden rabiat, die Unerbittlichsten, die Prinzipienfestesten. Kein Charakter war so umpanzert, dass er gegen die giftig-süsse Trunkenheit gefeit war. Verächtliche Welt; leicht durchschaubare.

Kaum hatte sie sich in der kalten und zugigen Dachkammer entkleidet, als sie vorsichtiges Pantoffelschlurfen auf der steinernen Stiege vernahm. Sie lauschte, lachte in sich hinein, schlüpfte eidechsenflink ins Bett und zog die Wolldecke bis ans Kinn. Der Hofrat schlich an ihre Tür. Er hüstelte, krabbelte ein wenig mit den Fingern, dann wisperte er ihren Namen. „Wer da?“ fragte sie grob. Er näherte den Mund der Türfuge und sagte, dreissigtausend könne er nicht aufbringen, beim besten Willen nicht; wenn er alles zusammenscharre, was er besitze, kämen zwölftausend heraus; zwölftausend könne er gegen einwandfreie Sicherstellung geben, das genüge ja für den Anfang, später werde man sehen. Ulrike antwortete, es sei zu wenig, und blies die Kerze aus. Sie solle sichs noch einmal überlegen, krächzte er. Da entgegnete sie höhnisch, sie wisse ein einfaches Mittel für ihn, sich Geld zu verschaffen; er möge die Guarnerigeige verpfänden; eins zum andern, das reiche dann. Er stiess einen leisen Fluch aus, und die Schritte schlurften wieder treppabwärts.

Ulrike hatte ihre guten Gründe, den Hofrat als Darlehensgeber zu gewinnen. Vor allem erwog sie dabei sein hohes Alter; starb er, fiel das Geld an sie und ihre Geschwister. Ferner mangelte es ihr an Beziehungen zu den Kreisen, die sich mit derlei Geschäften befassten; fand sie auch den Weg zu ihnen, so war zu befürchten, dass unangebrachter Eifer und beflissene Recherchen ihre Absichten durchkreuzten.

Als sie am andern Morgen hinunterkam, eröffnete ihr die Smirczinska anklagend, der Hofrat sei krank und liege im Bett. „Was fehlt Ihnen, Onkel?“ erkundigte sie sich, an das altmodische Bett tretend, das in einem tiefen Alkoven stand, mit einem Himmel aus verschossener blassgelber Seide.

Er schwieg böse. In der Nacht gegen vier Uhr war er aufgewacht, und sogleich hatte es begonnen, das Grauenhafte. Von Zeit zu Zeit überfiel ihn die Angst vor dem Tod wie purpurner, klebriger Wahnsinn. So schlimm wie heute war es nie gewesen. Der Tod war in seiner widerlichsten Gestalt erschienen, laut brüllend. Je mehr die Dämmerung heranrückte, je deutlicher sah er ihn: einen nackten, haarigen, fettglänzenden, zähnefletschenden Unhold.

Was willst du von mir? keuchte der Hofrat; da sind andere; da ist der Mylius mit seinen neun Millionen, ein nahrhafter Bissen; was bin dagegen ich? Der Unhold turnte auf den unteren Bettrand und feixte. Seine proletarischen Manieren regten dem Hofrat die Galle auf. Warum darf das sein? haderte der Hofrat, warum ist das gestattet? neun Millionen! Ihn lässt du ungeschoren im Genuss seiner Millionen und mich molestierst du, mich, der keinen Tag von seinem Leben entbehren kann? Der Unhold schüttelte sich vor Schadenfreude. Von Wut und störrischer Bangigkeit erfüllt, begann der Hofrat zu betteln: wenn du mich noch ein paar Jährchen in Ruhe lässt, verschaff ich dir den Mylius; ich und die Ulrike, wir bringen ihn zur Strecke, es soll dein Schade nicht sein, ich bezahle dich mit gemünztem Gold dafür; auch musst du mir gehorchen; ich bin die Obrigkeit, bin kaiserlicher Beamter; so lang ich in Amt und Würden sass, war ich stets dein heimlicher Parteigänger; wirst dich noch erinnern, dass ich dir zu mancher unerwarteten Zubusse verhelfen habe. Dies schien dem Burschen einzuleuchten; er glotzte eine Weile und verflüchtigte sich in den bleigrauen Februarmorgen.

Da sah der Hofrat, dass er stärker war als der Tod, aber der überstandene Schrecken fesselte ihn noch ans Bett. Er heftete den wasserfahlen Blick auf Ulrike, und er bewunderte, beneidete dieses Stück saftstrotzender, rücksichtsloser Jugend; er fürchtete sich vor ihr und beneidete sie um den frischen Atem, das klare Auge, die junge Stimme; mit fröstelndem Verlangen tastete er in sein abgewelktes Leben hinaus. Er habe alles noch einmal bedacht, fing er an; er traue der Sache doch nicht; es sei doch zu riskant; ob sie sich an den Namen des Notars erinnere, der das Testament beglaubigt. Ulrike bejahte; sie habe sich den Namen sofort eingeprägt; der Notar Helmbauer am Tiefen Graben sei es; bei dem sich zu erkundigen, sei aber nicht nur zwecklos, da er das Amtsgeheimnis zu wahren habe, sondern auch schädlich, da er Argwohn schöpfen und gegen Mylius plaudern könne; überdies habe sie ja geschworen, ob das für nichts gelte? Larifari, polterte der Hofrat, es hätten schon grössere Herrschaften falsch geschworen. Helmbauer, fuhr er fort und legte den Finger an die Nase, den Mann müsse er kennen, freilich kenne er ihn, den Notar Helmbauer am Tiefen Graben, seit vierzig Jahren kenne er den; er werde ganz einfach hingehen und den Mann kollegial interpellieren; so und so; einer von seinen Freunden sei im Begriff, sich mit einem sicheren Mylius, Antiquitätenhändler in der Himmelpfortgasse, auf eine weitläufige Transaktion einzulassen, und er möchte Auskunft haben, ob besagter Mylius für hunderttausend Gulden gut sei.

Hiermit war Ulrike einverstanden. Auf einmal war der Alte wieder gesund. Er machte in Eile Toilette und trat in seinem bis an die Schienbeine reichenden Gehrock, der ihm das Aussehen einer von der Witterung geschwärzten Telegraphenstange verlieh, den Gang zum Notar an.

Ulrike ging ruhlos durch die drei Zimmer, unablässig spähend. Nur ein einziges Mal, vor sechs Jahren, als sie aus der Heimat gekommen, war es ihr gelungen, allein in der Wohnung zu bleiben. Auch damals hatte sie gespäht, gesucht, in alle Winkel geschaut, die Tapeten beklopft, die Schubladen geöffnet; umsonst. So war auch heute ihr Suchen umsonst.

Sehr befriedigt kehrte der Hofrat zurück. Die Kriegslist hatte Erfolg gehabt. Der Notar hatte ihn erkannt und respektvoll bekomplimentiert. Auf seine Frage hatte er gelacht und ihm, den Mund an seinem Ohr, zugeflüstert: „Gut für das Vielfache, Herr Hofrat; bitte mich nicht blosszustellen, es geschieht aus alter Freundschaft, dass ich Ihnen Auskunft gebe und unter strengster Diskretion; gut für das Vielfache, unter uns gesagt.“

Noch immer blieben Bedenken. Jedes Für und Wider wurde bis in die letzten Verästelungen pedantisch zerpflückt. Gewinnsucht und Verlustangst hielten einander die Wage. Am längsten dauerte der Streit über die Höhe der Summe. Mit weniger als zwanzigtausend Gulden wollte sich Ulrike nicht begnügen. Am dritten Abend gab der Hoftat endlich nach, ächzend und Verwünschungen ausstossend, als sei er bereits um das Geld betrogen. Seine Bedingungen waren, dass zuvor eine Zusammenkunft mit Frau Christine Mylius in deren Wohnung stattfinden und sie den Schuldschein in seiner Gegenwart unterschreiben müsse; ferner, dass die Zinsen bei Auszahlung des Kapitals abzuziehen seien.

Als man soweit war, erschien laut aufheulend die Smirczinska. Aus Vermutungen und erlauschten Brocken hatte sie sich eine ziemlich richtige Vorstellung von dem, was im Werke war, gebildet. Sie stürzte dem Hofrat zu Füssen und beschwor ihn winselnd, von dem verderblichen Vorhaben abzulassen. Angewidert von dem Melodram, bedeutete ihr Ulrike, wenn sie nicht augenblicks verschwinde, werde sie ihr erhitztes Geblüt mit einem Eimer Wasser abkühlen.

Der Hofrat schien gerührt. Er sagte jesuitisch salbungsvoll: „Lass das gute Kind. Sie hat ihre Ahnungen. Sie hat mir immer ganz zutreffend prophezeit, wenn mir ein Unglück bevorstand. Als ich im Jahre fünfundsechzig mit dem Statthaltereirat Gayling von Altheim, Gott hab ihn selig, nach Perchtoldsdorf fahren wollte, hat sie mich im letzten Moment zurückgehalten. Und was geschah? Der Statthaltereirat wurde im Wagen am hellichten Tag vom Schlage getroffen. Wie leicht hätte es sein können, dass er mich erwischt hätte, der Schlag, wie leicht! Du siehst also, liebe Nichte, die Person ist wegen ihrer Apprehensionen zu schätzen.“

„Das seh ich freilich,“ antwortete Ulrike mit trockenem Ärger; „den Statthaltereirat Gayling von Altheim wird derselbe Teufel geholt haben, der hoffentlich Ihre Smirczinska samt den Apprehensionen auch bald holen wird. Und mich vielleicht dazu“, schloss sie lachend, als sie die fromm entrüstete und entsetzte Miene der Smirczinska gewahrte.

Ein schütteres Grinsen zuckte über das Gesicht des Hofrats. Er gönnte der Smirczinska den Hieb. Sie war ihm lästig, wie ihm seit jeher alle Menschen lästig waren, die er gezwungen war, täglich zu sehen. Er hatte sie im Verdacht der Erbschleicherei und hasste sie insgeheim. Er sagte grämlich: „Hackt euch einander die Augen aus, wenns euch freut, aber ich will nichts wissen davon. Nur Leute, die weder Glauben noch Religion besitzen, tragen fortwährend ihre Händel vor die Ohren anderer Menschen.“

Die Smirczinska ging händeringend hinaus. Wenn er mit der Religion anfing, verlor sie die Fassung. Der Hofrat schaute Ulrike streng an, streckte die rechte Hand flach über den Tisch und sagte: „Es sei also. Es ist entschieden. Die Sache wird gemacht.“

„Gut,“ erwiderte Ulrike, „Sie müssen nur warten, bis ich Ihnen Nachricht gebe, dass alles soweit ist. Es kann noch ein paar Tage dauern.“

Der Hofrat nahm ein Stück Papier und einen Bleistift, murmelte vor sich hin, schrieb Zahlen auf, rechnete und vertiefte sich so in diese Beschäftigung, dass er Ulrikes Gegenwart völlig vergass. Nach einer Weile erhob er sich, zog unter der geblümten Weste ein an einer Nickelkette befestigtes Schlüsselchen hervor und begab sich in das dritte Zimmer, in dem sich in zwei Glasschränken die Sammlung seiner Stöcke und Uhren befand. Aber es musste noch etwas anderes darin sein; wahrscheinlich der Geldaufbewahrungsort, nach seinem sonderbaren Wesen zu schliessen; da er weder einer Bank noch einer Sparkasse traute, hatte er sicher den grössten Teil seines Barbesitzes im Hause. Und vielleicht war dort auch das langgesuchte Versteck; Ulrike lief es heiss über den Rücken. Er schien ungewöhnlich zerstreut; er liess die Tür offen und Ulrike, die sich schattenstill machte, sah, dass er in die Ecke schritt und den goldgerahmten Wandspiegel von seinem Platz rückte. Der Spiegel bewegte sich wie eine Schranktür in Scharnieren. Da jauchzte es in Ulrike, aber als der Hofrat erschrocken innehielt, sich ihrer entsann, zurückkehrte und die Tür schloss, nicht ohne einen misstrauischen Blick auf sie zu werfen, schaute sie unschuldig gegen das Fenster.

Ehe sie schlafen ging, steckte sie den Schlüssel zur Flurtür zu sich. Und in der Nacht, es war ungefähr zwei Uhr, kam sie in blossen Strümpfen herunter, sperrte leise auf, schritt auf Zehen über den Gang, öffnete leise die Stubentür und horchte lange. Das den Fenstern gegenüberliegende Dach war von friedlich schimmerndem Mondlicht übergossen. Sie liess sich lautlos auf dem Sofa nieder und wartete, bis sie die Atemzüge des Greises durch die halboffene Tür seines Schlafzimmers als die eines Schlummernden unterscheiden konnte. Dann erhob sie sich und ging hinein. Auf dem Nachttisch im Alkoven brannte ein Öllämpchen, dessen Schein ihr half, die Kleider des Alten, die über die Stuhllehne gebreitet waren, nach dem Schlüsselchen abzusuchen. Als sie es fand und samt der Kette loslöste, zitterten ihr die Hände bei der Bemühung, ein Klirren zu vermeiden, und sie blickte scheu auf den Schläfer. Er lag auf dem Rücken; das Gesicht war zitronengelb, die Unterlippe hing in welthassender Schlaffheit herab.

Nun schlich sie unhörbar zurück, doch um ins dritte Zimmer zu gelangen, musste sie die Tür aufklinken, und dies erforderte grösste Vorsicht. Sie wusste, dass der Schlaf des Alten wie ein dünnes Membran war, das beim geringsten Geräusch zerriss. Endlich stand sie vor dem Spiegel. Der Widerschein des Mondlichts vom Dach drüben gab genügend Helligkeit, auch hatte sie Augen, die im Dunkeln an Sehschärfe zunahmen. Sie gewahrte sogar ihr Gesicht im Spiegel, und es erschien ihr so unbekannt, dass sie beinahe zurückgebebt wäre.

Der Spiegel wurde beweglich, wenn man einen Metallhebel unten verschob. Dies entdeckte sie schnell. Die Tapete dahinter zeigte ein längliches Viereck, etwa fünfzig Zentimeter hoch und dreissig breit. Sie sperrte auf. In der Tiefe des eingemauerten Schrankes, den sie mit dem ganzen Arm durchsuchte, lag in einem Lederfutteral die Geige. Sie zog sie heraus, streifte die Hülle ab und hielt das Instrument in Händen.

Sie hielt und betrachtete es lange. Es fühlte sich eigentümlich warm an, eigentümlich zart und glatt wie ein winziger Menschenleib. Es war als vibriere das Holz unter ihren Fingern und als seien die beiden symmetrischen Öffnungen neben dem Steg zwei erloschene Augen. Da fühlte sie eine fremde, unendlich düstere und schwere Bewegung in ihrer Brust. Sie, die von keinem Menschenleid und Schicksalshauch wahrhaft angerührt wurde, die mit Kälte und Gebundenheit zielentschlossen durch die Welt der Kreaturen schritt und sich gewöhnt hatte, deren Not und Qual nur rechnend in sich aufzunehmen, bedurfte der grössten Selbstbeherrschung, um beim Anblick der Geige nicht in Tränen auszubrechen und zu weinen wie ein Kind. Es war eine fremdartige und wohl auch unerforschliche Gewalt, die da wirkte; sie empfand es wie Abschied; Abschied von Erinnerungen, von einem Land der Seele, an dem auch sie einst teilgehabt, und das nun versank für immer. Jeder Mensch steht einmal vor seinem inneren Kreuzweg, an dem er sich unwiderruflich entscheiden muss.

Sie verharrte mit tiefgesenktem Haupt. Eine Versuchung kam über sie und verstärkte sich zu leidenschaftlichem Wunsch: sie wollte den Ton der Geige hören, einen einzigen Ton bloss. Und so zupfte sie an der G-Saite. Ein feiner klagender, ungemein melodischer und rasch verhallender Klang antwortete. Sie lächelte und lauschte entzückt.

Im selben Augenblick legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter, und ein unheimlich glucksendes Geräusch war hinter ihr. Sie drehte sich um. In seinem grünen Schlafrock stand der Hofrat da. Er sprach kein Wort. Er schaute sie an. Seine Augen schienen bodenlos.

„Sie werden sich erkälten, Onkel Klemens“, sagte Ulrike.

Wieder das Glucksen wie aus einem Flaschenhals, halb Gelächter, halb böses Erstaunen. Er nahm ihr die Geige sanft aus den Händen; er stülpte das Futteral umständlich über das Instrument; er legte es wieder in den Mauerschrank, schloss die Türattrappe, drehte den Schlüssel um und sagte hastig, mit hohler Stimme, über die Achsel: „Kannst nicht warten? Bist ungeduldig? Dauerts dir zu lang, bis deine Zeit da ist? Geh fort. Es soll nichts gewesen sein. Ich wills vergessen. Ich will nichts gesehen haben. Es soll eine Nachtwandlerei gewesen sein. Wir wollens geträumt haben.“

Ulrike warf den Kopf zurück, deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brust und erwiderte hart: „Machen Sie sich nichts vor, Onkel Klemens, hier wird nicht geträumt.“ Dann ging sie.

Der Hofrat stelzte hager in seinen Alkoven zurück und, indem er unter die Bettdecke kroch, ächzte er: „Aufpassen muss man, immerfort aufpassen muss man ...“

Ulrike Woytich

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