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Ulrike tritt auf den Plan
ОглавлениеDer grosse Brand des Ringtheaters in der Dezembernacht des Jahres 1881 erschien vielen Bewohnern Wiens als ein düsteres Menetekel. Es mangelte nicht an Propheten, die das Ereignis als Vorspiel weit unheilvollerer Katastrophen betrachteten, und Wochen hindurch herrschte in der ganzen Stadt und in allen Schichten der Bevölkerung eine traurige, ja schuldbewusste Verzagtheit.
Nur mit Mühe war es Frau Christine Mylius gelungen, für die Erstaufführung von Hoffmanns Erzählungen ein Sperrsitzbillett zu bekommen. Auf alle ihre Erkundigungen hatte es geheissen, der Andrang sei so stürmisch, dass hunderte von Bewerbern abgewiesen werden müssten. Da es sich aber um eine Überraschung und ein Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter Josephe handelte, den ersten Theaterbesuch der nun Fünfzehnjährigen, hatte sie weder Gänge noch Unkosten gescheut und wirklich hatte ihr am Morgen des unglücklichen Tages der beauftragte Zwischenhändler eine Karte gebracht, um sie ihr unter wichtigtuerischen Berichten und wortreichen Klagen über die Schwierigkeit der Beschaffung zu einem frech übertriebenen Preis zu verkaufen.
Christine hatte ihre Anstalten heimlich und allein betreiben müssen, denn nicht bloss Josephe sollten sie verborgen bleiben, da es doch ein Unerwartetes für sie sein sollte, sondern auch der Vater, die beiden älteren Schwestern und der Bruder durften es zunächst nicht erfahren; ersterer, weil er solche verschwenderischen Ausgaben nicht mit günstigen Augen betrachtete; die Geschwister, weil sie der von der Mutter bevorzugten Josephe gegenüber von eifersüchtigen Regungen nie frei waren und durch stumme Unzufriedenheit Christine das Vergnügen des Schenkens leicht hätten trüben können.
Ungewiss war freilich, ob sich Josephe freuen würde. Das in sich gezogene Wesen des Mädchens, seine scheue Abseitigkeit und Menschenflucht liessen befürchten, dass ein festlicher Theaterabend gar nicht im Bereich seines Wünschens lag, ja dass es eher zu meiden als zu erlangen suchte, was andern Genuss und Erholung war. Eben deshalb war aber Christine auf ihren Plan verfallen; sie wollte das Kind, für einige Stunden wenigstens, aus der gewohnten Umgebung entfernen, damit sich sein Gemüt aufhelle und sein Geist beschwingter werde. Nur gegen sie allein war Josephe aufgeschlossen; gegen alle andern verhielt sie sich schweigsam und vorsichtig abwartend.
Doch wurde sie angenehm enttäuscht. Als nach Tisch der Vater fortgegangen war, Esther und Aimée ihr Zimmer aufgesucht hatten, der siebzehnjährige Lothar von seinem Freund und Mitschüler Robert Elmenreich, der im selben Haus wohnte, zum gemeinsamen Weg ins Gymnasium abgeholt worden war, nahm sie Josephe bei der Hand, führte sie zu einer Konsole zwischen den Fenstern, auf der ein eichenes Kästchen stand, und gebot ihr, den Deckel zu öffnen. Das tat Josephe; im Kästchen lag ein Briefumschlag mit der Aufschrift: Zu Josephes Geburtstag, das Kuvert enthielt die Theaterkarte. Josephe lächelte glücklich; sogar die Augen unter den dichten Brauen lächelten; sie küsste die Hand der Mutter.
„Freust du dich?“ fragte Christine.
„Ja, ich freue mich sehr“, war die Antwort.
Christine empfahl ihr Schweigen. Das Geheimnis sollte bis zum Abend gewahrt bleiben; bei Tisch, wenn Josephe im Theater war, wollte sie es den andern mitteilen, da waren keine Einwände mehr zu befürchten. Lothar würde sie um zehn Uhr vom Theater abholen, hingehen könne sie allein. Gegen sechs begann sie sich im Zimmer der Mutter, damit die Schwestern nicht unversehens dazukommen könnten, zu frisieren und umzukleiden. Christine half ihr, zog die Falten und Bänder des neuen weissen Kleides zurecht, das auch ein Geschenk zum heutigen Tag war, und eins, zu dem Christine ihren Mann mit herzlicher Plage überredet hatte, nähte noch an einem Saum, wischte die seidenen Schuhe ab, strich den Sammetmantel glatt, musterte die plötzlich hübsch Gewordene, Errötende abermals, versicherte sich, dass in den Nebenzimmern kein Lauscher und Spion war, und entliess Josephe sodann mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn.
Ein paar Minuten nach halb acht, niemand war zu Hause, sie sass im Wohnzimmer bei der Lampe und stickte auf ein im Rahmen befestigtes Linnentaschentuch die Namensinitialen ihres Mannes, H. O. M., Helmut Otto Mylius, da hörte sie den Schall der Feuertrompete auf der Strasse. Widriger Ton; sie hob den Kopf und runzelte die Stirn. Rasche Pferdehufe knatterten über das Pflaster, Räder rollten eilig; sie stand auf und trat ans Fenster. Spritzenwagen rasten vorbei, um die wehenden Lichterbüschel der Fackeln funkelten die Helme der Feuerwehrleute, Menschen gestikulierten erregt und rannten in die Richtung, in welcher die Wagen fuhren. Auf einmal wurde die Tür aufgerissen, die Magd stürzte herein und rief: „Das Ringtheater brennt.“
Wie sie in den Mantel geschlüpft war, den Schal über den Kopf gezogen hatte, die Treppen heruntergekommen war, wusste Christine nicht; auch nicht, durch was für Gassen sie lief, ob sie im Vorüberhasten Leute fragte und was die antworteten. In der Nähe des Ringes angelangt, drängte sie sich mit den Zeichen des äussersten Entsetzens durch die bereits dicht gestaute Menge, deren erschrocken-bleiche Gesichter von den aus den Fenstern des Gebäudes brechenden Flammen grell bestrahlt wurden. Ihre Züge waren zerrissen, ihre Augen sinnlos, das Haar flatterte um die Stirn, die Kraft, mit der sie sich durch den Menschenblock schob und die ihr den Weg Versperrenden zur Seite stiess, war die einer Irren, verworrenes Gestammel, atemlose Seufzer kamen von ihren Lippen: „Um Gottes willen, ihr Leute, um Gottes-Christi willen, gute Menschen, lasst mich durch, meine Tochter, erbarmt euch, meine Tochter.“ So flehte sie, röchelte sie, schuf sich Bahn, fühlte, dass ihr der Mantel abgestreift wurde, dass das Kleid an den Ärmeln riss, der Rocksaum weggetreten wurde, zwängte sich mit entfesselter Energie zu einer der Nebenpforten des Theaters hin, aus der wurmig und übelriechend schwarzer Rauch quoll, indes links und rechts Leichen getragen wurden, Erstickte, Verkohlte, Ohnmächtige, und sich über die Treppe innen schreiende, jammernde, ineinandergekeilte, aneinandergekrampfte Körper wälzten.
Verstört starrte sie um sich; das Bewusstsein wollte schwinden; die Hitze versengte die Haut; der Qualm vermauerte den Blick; plötzlich stiess sie einen gellenden Schrei aus: Josephe! Wie eine Erscheinung war das Gesicht des Kindes vor ihr aufgetaucht und wieder verschwunden. Aber Josephe hatte den Ruf gehört; sie hob die Arme; sie wurde von einer jungen Person halb getragen, halb geschleppt; ihr Kopf lag mit geschlossenen Augen auf deren Schulter; Christine zerteilte, mit Wut fast, den Menschenstrom, der sich in der Sekunde wieder um sie gebildet hatte, folgte, ungewiss, ob sie weinen oder jubeln sollte, den aufgehobenen Armen, hatte dann das Kind umfasst, das ihr schluchzend an die Brust fiel, umklammerte leidenschaftlich mit den Fingern das geliebte Haupt, und so wurden sie von Vorwärtsstürmenden, panisch Flüchtenden aus dem Kreis gedreht, hatten wieder Raum und Luft, und die junge Person, der, wie sich bald herausstellte, Josephe ihre Rettung zu verdanken hatte, erbot sich, einen Wagen zu besorgen. Der Himmel glühte purpurn, die Atmosphäre war wie ein schwarzes Antlitz von einem beweglichen Funkenschleier verhängt.
Josephes Gewand hing in Fetzen, auch die Unterkleider waren nicht verschont geblieben; ein weiter Riss klaffte vom Hals bis zur Hüfte und liess die weisse Haut des Busens durchschimmern. Den Mantel hatte sie eingebüsst, und um sich gegen die Kälte zu schützen, presste sie die klaffenden Stoffenden an den Körper. Die Retterin hatte sich entfernt und ihnen eingeschärft, an derselben Stelle zu warten, bis sie den Wagen brächte; erschöpft und schaudernd schmiegte sich Josephe an die Mutter. Diese hatte sich gegen die Mauer eines Hauses gelehnt, gleichfalls schaudernd, streichelte ihr die Wangen und flüsterte wirre Zärtlichkeiten. Nach Verlauf einer Viertelstunde hielt ein Fiaker am Trottoir, die junge Person sprang flink heraus, bedeutete den beiden, dass sie einsteigen möchten, liess sich vom Kutscher Decken reichen, umhüllte ihnen die Beine und fragte, ob sie sie nach Hause begleiten dürfe, sie tue es gern und sei durch nichts behindert. Josephe berichtete nun in Hast, wie das Fräulein sie im ärgsten Tumult auf der Treppe, als sie schon keinen Atem mehr gehabt und nahe daran gewesen, niederzusinken und zerstampft zu werden, umschlungen, vor den grässlich drängenden schreienden und brüllenden Männern und Weibern beschützt und mit unbegreiflicher Kraft und Geschicklichkeit zum Ausgang gezerrt habe; ohne ihre Hilfe wäre sie verloren gewesen.
Christine, der Rede nicht mächtig, fasste nach den Händen der Retterin und drückte sie innig. In ihrem Blick lag die stumme Bitte und Aufforderung, dass sie mitkommen möge, und überschwenglicher Dank. Während der Fahrt stammelte sie: „Eine solche Schuld lässt sich ja im Leben nicht begleichen“, und da die Unbekannte, die schlank und ruhig ihr gegenübersass, wunderlicherweise fast ohne jede äussere Beschädigung, ohne merkliche Erregung auch, bescheiden abwehrte, fragte sie sie um den Namen. Sie nannte ihn; sie heisse Ulrike Woytich, sagte sie, sei erst seit kurzer Zeit hier und wohne bei ihrem Onkel, dem pensionierten Hofrat Klemens Woytich. Das alles kam rasch und beiläufig von ihren Lippen, als seien ihre persönlichen Verhältnisse nicht vom mindesten Belang. Um auch gleich davon abzulenken, erkundigte sie sich, ob die gnädige Frau aus dem Reich sei, und als Christine bejahte, nickte sie befriedigt und sagte, man höre es am Dialekt, liess auch den Einwand, dass die Familie bereits zwanzig Jahre in der Stadt ansässig sei, nicht gelten und behauptete, dergleichen Eigentümlichkeit bleibe unter allen Umständen haften, und ihr Ohr sei durch einen Aufenthalt im Ausland dafür geschärft; sie habe zwei Jahre in England und ein Jahr in Belgien zugebracht.
Sie erzählte nun, dass sie vor Beginn des Stückes von der ersten Galeriereihe aus mit dem Opernglas die Leute im Parkett gemustert habe, und da sei ihr unter allen Gesichtern dasjenige Josephes aufgefallen; deshalb sei es ihr wie eine Fügung erschienen, als sie das Fräulein dann auf der engen Treppe unter der gefährlichen Menschenlawine erblickt, und der Entschluss, ihr beizustehen, sei ganz instinktiv gewesen. „Sie haben aber doch einige Minuten, bevor überhaupt jemand im Theater eine Ahnung von dem Unglück hatte, Ihren Platz verlassen?“ wandte sie sich an Josephe, „warum denn?“ Diese musste es bestätigen und wunderte sich, ebenso wie ihre Mutter, über den Zufall, dass Ulrike Woytich von Anfang an ihr Augenmerk so bestimmt auf sie gerichtet hatte. Sie sagte, sie sei jählings von einem unerträglichen Herzklopfen befallen worden, derart wie sie es noch nie verspürt. Das Orchester hatte eben begonnen zu spielen, aber die verführerischen Klänge der Offenbachschen Musik konnten sie durchaus nicht beruhigen, im Gegenteil, sie fürchtete die Besinnung zu verlieren, und so eilte sie, so schnell sie es vermochte, in den Wandelgang hinaus. Während sie dort auf und ab ging, vernahm sie auf einmal ein Geräusch wie wenn ein Kieselsteinregen auf ein Glasdach schmettert. Im Nu brachen aus allen Türen schreiende Menschen, im Nu war sie mitten unter ihnen, aber wäre das Herzklopfen nicht gewesen, so wäre sie im Zuschauerraum zermalmt worden, denn drinnen, unter den Rasenden eingepfercht, hätte es für sie kein Entrinnen gegeben.
„So hast du also einen guten Engel in dir und einen ausser dir gehabt,“ sagte Christine; „es ist wunderbar, Josephe, bei all dem Schrecklichen sonst.“
Josephe lächelte etwas beengt und sah Fräulein Woytich unablässig mit gross aufmerksamen Augen an.
Der Wagen hielt am Hause. In Christine war eine Fülle von Besorgnissen entstanden. Zuvörderst hatte sie kein Geld bei sich, um die Fahrt zu bezahlen; der Kutscher würde gewiss nicht mässig in seiner Forderung sein und wie immer bei solchen Gelegenheiten seine Dienste mit dem öffentlichen Unglück multiplizieren. Sie wusste nicht einmal, ob sie die notwendige Summe oben im Schrank hatte; Helmut Otto war ihr noch das Wochengeld schuldig; er gab immer im letzten Augenblick; sie musste ihn demnach um die fünf oder sechs Gulden bitten, was eine missliche Sache war. Ausserdem war es ungewiss, ob er schon zu Hause war. Sie schaute hinauf; im Wohnzimmer war Licht, aber es brannte wahrscheinlich seit ihrem Fortgehen noch; alle Leute waren zum Feuer geeilt, in den Strassen im Umkreis standen sie Kopf an Kopf; es war anzunehmen, dass auch er hingegangen war. Schlimmer noch, wenn er oben wartete; dann musste sie ihm in der Bedrängnis und Hast gestehen, dass Josephe im Theater gewesen war; Fragen, Erörterungen, Vorwürfe waren zu gewärtigen, wenn sie das Geld für den Wagen verlangte; die ewige, jetzt durch die Sorge um Josephe vermehrte Bemühung, solche Szenen vor den Kindern zu verbergen. In Josephes blassem Gesicht zuckte die innere Erregung unverkennbar, so dass es am besten schien, sie gleich zu Bett zu bringen und jedes Zusammensein mit Vater und Geschwistern zu verhindern.
Indem sie dies alles überdachte und vor dem Wagen stehend beklommen in das beleuchtete Haustor schaute, erriet Ulrike Woytich ihre Verlegenheit und verschaffte sich durch drei, vier geschickte Fragen Aufschluss. Sie zog ihre Börse, kramte mit komisch geschäftigen Fingern darin, und es erwies sich, dass sie gerade soviel Geld bei sich hatte, um den Kutscher entlohnen zu können. Sodann hob sie Josephe von ihrem Sitz, umfasste sie, führte sie ins Haus und bestätigte Christines Angst, indem sie sie bat, voranzugehen und Anstalten zu treffen, dass Josephe ohne Störung und Aufenthalt zur Ruhe gebracht würde; sie habe heisse Hände und scheine zu fiebern.
Christine lief die Stiegen hinauf und Ulrike Woytich folgte mit Josephe langsam nach. Unterwegs schaute sie sich alles interessiert an, das Geländer, den Flur, die Mauern, die Türen und achtete trotzdem sorgfältig auf ihren Schützling. Mylius war zu Hause. Er wusste bereits alles, als Ulrike mit Josephe oben ankam. Christine war nicht die Frau, die eine ihr drohende Unannehmlichkeit hinausschieben konnte, schon gar in der Verfassung nicht, in der sie war. Sie hatte ihren Mann mit wenigen Worten unterrichtet und ihn auch gleich um das Geld ersucht. Er war nicht bei dem brennenden Theater gewesen, sondern hatte sich an den aufgeregten Erzählungen genügen lassen, die er auf der Gasse gehört; jetzt wartete er seit einer Stunde auf das Abendessen und war wegen der Verzögerung in übler Laune. Christines Mitteilung, die Art, wie sie ins Zimmer stürmte, ihr abgerissener und beschmutzter Anzug bestürzten ihn; zugleich konnte er den Ärger über die Heimlichkeit nicht unterdrücken, durch die Josephes Theaterbesuch ermöglicht worden war. Hieran knüpfte sich der Groll über die Geldausgabe; trotzdem das tyrannische Regiment, das er führte, den Seinen keinerlei freie Bewegung erlaubte, quälte ihn nicht selten das Misstrauen, dass man hinter seinem Rücken allerlei Verschwendung treibe, kleine und unschuldige Verschwendung allerdings, aber doch zu fürchtende, da ja alles Böse eine unscheinbare Wurzel hat.
Als nun Christine das von Ulrike Woytich ausgelegte Fahrgeld forderte, denn dieser Verpflichtung wollte sie sich zunächst entledigen, zauderte er, wand sich, zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, wollte den Betrag zu hoch finden, tauchte aber dann doch, bezwungen durch den verzweifelt flehenden Blick seiner Frau, die Hand in die Rockbrust und holte die Brieftasche hervor. Christine, von Ungeduld übermannt, entriss ihm den Schein mit einem Seufzer, in dem tausend seit Jahren zurückgehaltene Klagen vibrierten, eilte mit ungestümen Schritten in Josephes Zimmer (es hatte sich durch des Mädchens Anlage und das Verhältnis zu den Schwestern so gefügt, dass sie einen Raum allein bewohnte, während jene sich in eine grössere Kammer teilten), rief Therese, die alte Magd, befahl ihr, heisses Wasser zu bereiten, Universalmedizin in ihren Augen, zündete die Lampe an, liess die Vorhänge herab, öffnete das Bett, und als Ulrike und Josephe kamen, half sie der Tochter beim Entkleiden, indes Ulrike, die das Notwendige stets auf den ersten Blick erkannte, vor dem Ofen kniete und Feuer schürte.
Sie war noch damit beschäftigt, als die Tür aufging und Esther und Aimée eintraten. Ängstlich wegen der Verspätung, aber zum Bersten voll von geheimer Freude am aufregenden Geschehen, waren sie, wie auch Lothar, eben nach Hause gekommen. Die Freude steigerte sich zwar, als sie die Erlebnisse der Mutter und Josephes erfuhren, doch zugleich rief es ihren Verdruss hervor, dass Josephe hatte ins Theater gehen dürfen, wobei die Tatsache, dass sie dem Tod um Haaresbreite nah gewesen, auch jetzt noch Anlass zur Besorgnis gab, keinen sonderlichen Eindruck auf sie zu machen schien.
Lothar stand in der offenen Tür, ein verwundertes Lächeln in dem hübschen Knabengesicht. „Wie wars, Josephe?“ fragte er die mit geschlossenen Augen Liegende; „erzähl doch; es muss ja furchtbar interessant gewesen sein.“ Josephe antwortete nicht, Ulrike tat es an ihrer Stelle. „Machen Sie sich lieber nützlich, junger Mann,“ sagte sie kurz angebunden, aber nicht unfreundlich, indem sie sich von den Knien erhob und ihm den leeren Kohleneimer reichte; „gehen Sie in die Küche und füllen Sie mir den Eimer, wir müssen warm bekommen.“ Lothar schaute sie verdutzt an, schüttelte unmutig den Wald kastanienbrauner Locken, der sein Gesicht kokett umrahmte, nahm jedoch unter ihrem funkelnden Blick die Hände aus den Hosentaschen und gehorchte.
Auch Esther und Aimée sahen verwundert diese Fremde an, die so unbefangen und nachdrücklich in Gegenwart der Mutter hantierte und dem Bruder Befehle erteilte. Christine klärte sie mit einigen hastigen Worten auf, die gedrängt von leidenschaftlicher Dankbarkeit waren. Die jungen Mädchen staunten noch mehr. Sie hatten sich beide in die Fensternische geschmiegt, Unzertrennliche aus Gewohnheit und dumpfer Seelenstimmung. Das blasse sommersprossige Gesicht mit den messinggelben Zöpfen der zweiundzwanzigjährigen Esther dicht an dem dunkleren, obwohl ziemlich blutlosen, mit dem geflochtenen, kupfrig schimmernden Kranz um die Stirn der neunzehnjährigen Aimée gab einen Zusammenklang, der Ulrikes Aufmerksamkeit nicht entging und sie neugierig machte. Das gedrückte Wesen, der furchtsame Blick, die frierende Haltung, das eigentümlich Horchende in den Mienen, das alles gab ihr zu denken und zwang ihren raschen Geist zu Kombinationen. Dass sie auf der richtigen Spur war, erwies sich ihr beim Eintritt des Vaters. Beider Gesicht bekam sofort etwas Starres und Untertäniges, das den Ausdruck puppenhaft machte; auch Lothar, der den gefüllten Eimer hereinschleppte und unter überflüssigem Lärm beim Ofen verstaute, zuckte zusammen, als er den Vater im Zimmer gewahrte, und sah auf einmal aus, als könne er nicht bis drei zählen. Gute Zucht jedenfalls, sagte Ulrike zu sich selbst.
Mylius war eine Weile im Korridor auf und ab gegangen. Er wusste nicht recht, wie er sich benehmen sollte; ob das Befinden Josephes ihm erlaubte, wegen des noch immer nicht aufgetragenen Abendessens zu schmälen, oder ob es rätlicher war, sich zu gedulden, bis sich das fremde Fräulein verabschiedet haben würde. Besser dünkte es ihn zu schweigen und so zu tun, als habe er die Mahlzeit bereits hinter sich, da konnte sie keine Erwartung hegen, eingeladen zu werden. Nichts war ihm so verhasst wie Tischgäste. Er trat also ein, zeigte eine teilnehmende Miene, die seinem fahlen glattrasierten und auffallend kleinen Gesicht etwas Sauersüsses verlieh, verbeugte sich gegen Ulrike und reichte ihr mit unverständlichem Murmeln die Hand. Dann ging er zum Bett, blickte stirnrunzelnd auf Josephe nieder und sah fragend seine Frau an.
Christine fand, der Andrang in der engen Kammer sei zu gross; sie trieb alle hinaus und bedeutete ihnen, sie sollten sich einstweilen zu Tisch setzen, sie käme mit Fräulein Woytich später. Mylius räusperte sich; das Gefürchtete war also nicht mehr abzuwenden. Esther und Aimée kannten den Ton und erschraken; sie bewunderten die Kühnheit der Mutter. Als es endlich still war, beugte sich Christine zu Josephe und fragte, ob sie allein sein wolle. Josephe bejahte es, indem sie die Hand der Mutter an die Lippen zog. Da gingen auch Ulrike und Christine hinaus.
Ein Bild wollte nicht aus Josephes Sinnen weichen. Während sie im Wandelgang des Theaters gestanden und die erste Panik der aus dem Zuschauerraum Flüchtenden gegen sie angeprallt war, hatte sie etwas erlebt, das tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte als die wüstesten Szenen nachher und ihre eigene Lebensgefahr dazu. Unter den Vordersten, die auf sie losstürmten, weil sie in der Nähe der Ausgangstüre war, befand sich ein Mann, der die Fäuste in die Luft gestreckt hielt, mit weitoffenem, doch nicht schreiendem Mund und vor Angst und Wut verglasten Augen nur danach trachtete, den andern zuvorzukommen; ein Mann mit weissem Bart und weissen Haaren, gut gekleidet, offenbar ein Angehöriger der oberen Stände. Er trug eine goldene Kette auf der schneeweissen Weste und eine Brillantnadel im Schlips. Man sah genau, dass das Gesicht sonst den Ausdruck der Ehrwürdigkeit hatte, dass die Augen gütig und wohlwollend zu blicken pflegten und dass ihm eine ruhige, imponierende Haltung eigen war. Davon war keine Spur mehr vorhanden. Statt dessen die raubtierartige Gier, allen zuvorzukommen, ein offener, verzerrter, von gelben Zahnstümpfen besetzter Mund, die aufgerissenen Augen eines Tollen, die gebogenen Entsetzensrunen auf der Stirn. Und diese Wut, diese unbegreifliche Wut, als hätte er die, die mit ihm im Laufe wetteiferten, mit den Fäusten niederschmettern mögen. Alles das vermochte Josephe noch mitzufühlen, bedauernd zwar und wie von einer Ferne; aber nun geschah es, dass er den Weg zur Treppe durch die sich stauenden Körper gänzlich verrammelt fand, dass er in seiner rasenden Angst die Brieftasche herausriss, einen Pack Geldnoten mit zitternden Fingern ergriff und im hochemporgereckten Arm nach allen Seiten hin mit schmeichelnden, winselnden Würgetönen anbot. Das war das Grässliche; Geld in diesem Augenblick! Es dünkte Josephe furchtbarer als alles andere, ein Äusserstes von Makel und Verworfenheit, neben dem die physische Not, die sie selbst bedrohte, kaum mehr in Betracht kam. Die siebzig Jahre, die der Greis vielleicht zählte, wurden zur Lüge in Josephes Augen; weisses Haar und die Würde, die es gab, Lüge; Freundlichkeit und Lächeln Lüge. Geld, wo eine Menschheit in Qual verging! Dass einer denken konnte, sich vom allgemeinen Jammer mit seinem Gelde loszukaufen! Es war die Hölle. Sie erinnerte sich, dass sie sich unter der Wucht dieses Bildes gegen den Gedanken an Rettung aufgelehnt und sich, mitten im Grauen kalt und schmerzlich besonnen, gesagt hatte: wozu soll mir noch das Leben dienen, wenn ein alter Mann im weissen Bart zum leibhaftigen Satan wird, nur um es zu behalten?
Die Trauer darüber verging nicht. Ihr war, als habe sie zu tief in den Abgrund des Lebens geschaut und könne nun nicht mehr ganz froh werden. Ein Zug von Gestalten wandelte in der Luft und alle schleppten sich leidvoll mit schweren Packen Geldes; Fahnen hingen starr, die aus riesigen Geldscheinen bestanden; die Blätter an den Bäumen klapperten wie Münzen; die Tapeten an der Wand sahen aus wie schmutzige Zehnguldennoten. Indem sie sich aus diesen Vorstellungen zu lösen und in der Finsternis der Seele ein Gebet zu formen suchte, öffnete sich lautlos die Tür und das heitere, jugendliche, wohlgebildete Gesicht ihrer Retterin zeigte sich. Ulrike wollte sich vergewissern, ob sie schlief oder einen Wunsch habe; sie steckte nur den Kopf herein und die glänzenden schwarzen Augen spähten gegen Josephes Lager.
Zuerst erschrak Josephe, und ihr Herz begann noch stärker zu pochen als unter dem Einfluss der peinigenden Fieberbilder; dann aber atmete sie befreit auf und nickte Ulrike Woytich dankbar lächelnd zu. Ulrike näherte sich ihr und hauchte einen schwesterlichen Kuss auf ihre Stirn.