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Augen und Ohren, die guten Diener
ОглавлениеAls Ulrike wieder ins Esszimmer kam, hatte Herr Mylius eben zu allem übrigen noch erfahren, dass sowohl Christines als auch Josephes Mantel bei dem Unglück in Verlust geraten seien. Da konnte er nicht mehr an sich halten und brach ungeachtet der Anwesenheit des fremden Gastes in lebhafte Verwünschungen des Leichtsinns aus, dessen sich Christine schuldig gemacht. Er erhob sich, warf die Serviette auf den Stuhl und seine kleinen farblosen Augen blitzten erbost.
Mit schriller Stimme stellte er die Frage, ob man glaube, dass er Millionär sei? Stumm ergebene Blicke; niemand war so verwegen, es zu glauben. Ob man der Meinung sei, dass er sein Geld auf dem Strassenpflaster finde oder in der Lotterie gewinne? Niemand war dieser Meinung. Ermahne er nicht zur Sparsamkeit Tag für Tag; drehe er nicht, wenn sichs um seine Person handle, jeden Kreuzer zehnmal um und bedenke, ob es wirklich unerlässlich sei, ihn auszugeben? Es konnte nicht geleugnet werden, das allgemeine Schweigen bestätigte es. Sei das Leben etwa so leicht zu verdienen? erarbeite sich so mir nichts dir nichts, was sechs Menschen und leider auch noch ein dienstbarer Geist an Kost, Wohnung und Kleidung beanspruchten? Gewiss nicht, man sah es sündenbeladen ein. Drei erwachsene Töchter! Wohin mit ihnen? Wer werde sie ausstatten? Welcher verrückte Idealist werde sich herbeilassen, sie ohne Mitgift zu heiraten? Denn er könne ihnen keine geben, er nicht, soweit habe ers noch nicht gebracht und werde es voraussichtlich kaum bringen. Esther und Aimée senkten traurig die Köpfe; sie begriffen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Ein Sohn, der den Ernst des Lebens durchaus noch nicht erfasst habe und dem die Lehrer das schlechteste Prognostikon stellten: wieviel geschlagene Jahre werde er dem Vater noch zur Last fallen? Lothar blickte ratlos in die trübe Zukunft und schwor sich Besserung.
Da das harte Strafgericht ohne ein Zeichen des Widerspruchs oder der Auflehnung hingenommen wurde, legte sich Mylius’ Entrüstung allmählich. Er sei für alle und für alles verantwortlich, fügte er resümierend hinzu, er müsse es schaffen und sich plagen und müsse daher auf die geringe Erkenntlichkeit rechnen, dass man der Verschwendungslust nicht die Zügel schiessen lasse. Hierbei traf ein strenger Blick Christine. Das heutige Ereignis sei ein Fingerzeig des Schicksals. Gott habe sie warnen wollen, den schlimmen Gelüsten nicht nachzugeben; man möge sichs für künftige Fälle merken.
So predigend stapfte er mit seinen kurzen Beinen um den Tisch herum. Christine bat ihn sanft, sich zu beruhigen und zu setzen, das Fleisch auf seinem Teller werde kalt. (Er allein hatte Fleisch, für die übrigen war nur Gemüse gekocht.) Das Geschehene sei als eine Ausnahme zu betrachten, und sie verspreche, dass es nicht mehr vorkommen solle. Sie war bleich geworden und ihre Finger glitten nervös an der Kette des Schlüsselbundes entlang. Dass sie mit ihren mehr als fünfzig Jahren, als Mutter von vier Kindern und angesichts der Kinder, angesichts auch einer Fremden, die ein höchst begründetes Recht auf Rücksicht hatte, sich musste abkanzeln lassen wie ein Schulmädchen, war bitter. Sie empfand es zum erstenmal mit solcher Bitterkeit; vielleicht der Fremden wegen. Aber es musste ertragen werden; Abwehr hätte den unerquicklichen Hader nur verlängert. Niemals hatte sie sich verteidigt, niemals hatte sie aufgemuckt, niemals in den Kindern, durch Blick, Miene oder Stirnrunzeln nur, die bedingungslose Ehrfurcht, den schweigenden Gehorsam gegen den Vater zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen versucht.
Indessen schien es, als erinnere sich Mylius der Gegenwart Ulrike Woytichs mit einiger Betretenheit. Er hielt in seinem Rundgang neben ihrem Stuhl inne und sagte mit dem sauersüssen Schmunzeln, das sein Gesicht in Momenten annahm, wo er liebenswürdig sein wollte: „Ich bitte um Vergebung, mein sehr geschätztes Fräulein; Sie werden es einem geplagten Familienvater gewiss nicht verübeln, dass er sich in Hitze redet, wo es sich ums Wohl und Wehe der Seinen handelt. Und um Ordnung, um Genauigkeit, um Disziplin und darum, dass nicht gedankenlos verschleudert wird, was er in siebenundzwanzig Fronjahren durch seiner Hände Arbeit erworben hat. Ich bin heute zweiundsechzig, mein verehrtes Kind; mit fünfunddreissig war ich noch ein armer Schlucker in einem hessischen Provinznest, der nie wusste, womit er am nächsten Tag seinen Hunger stillen sollte. Vor Hunger brauchen wir uns heute nicht mehr zu fürchten, aber um die Existenz gehts trotzdem in jeder Stunde, denn es ist eine tückische Zeit, und eh man sich besinnt, hat einen das Verhängnis in der Klaue, die Armut, die Not. So stehen die Dinge.“
„Ich gebe Ihnen ganz recht, Herr Mylius,“ antwortete Ulrike Woytich mit offen zu ihm erhobenem Blick, „wenn ich auch nicht gerade glaube, dass der liebe Gott das Ringtheater nur deswegen hat abbrennen lassen, um Ihre Familie vor Fehltritten zu bewahren. Aber sonst pflicht ich Ihnen von Herzen bei. Mein Onkel, der Hofrat, hat mir schon als Kind eingeschärft, dass nichts am Menschen so verdammlich ist, als wenn er achtlos mit Geld umspringt. Ausgeben, das kann jeder, erwerben, das ist schwer. Und etwas besitzen ist schliesslich doch das beste. Wer nichts besitzt, der mag sich lieber gleich begraben lassen; ein Hund wird mehr ästimiert als er.“
Mylius nickte anerkennend. „So ist es,“ sagte er; „Sie sind nicht auf den Kopf gefallen, mein schönes Fräulein. Etwas besitzen ist das beste. Man kann es nicht bündiger ausdrücken; es klingt wie die Legende auf einem alten Wappen.“ Er kicherte und zündete in erwachender guter Laune eine seiner übelduftenden Zigarren an.
„Die Verschwender wissen sich meistens nicht zu lassen vor Geringschätzung gegen die Sparer,“ fuhr Ulrike eifrig fort, „aber wenns ihnen dann schlecht geht, wenn ihnen das Wasser an den Hals steigt, vor wem kriechen sie, vor wem winseln sie, wem singen sie ihre Elogen, wem versprechen sie das Blaue vom Himmel? Dem verachteten Sparer. Der ist nun der Herr, und sie müssen sich noch für den Fusstritt bedanken, den er ihnen verabreicht.“
„So ist es, so ist es“, sagte Mylius entzückt, und Ulrike lachte.
Esther, Aimée und Lothar hatten sie ängstlich betrachtet, während sie redete. Des Vaters schweres Joch waren sie zu tragen gewohnt; dawider zu murren wäre ihnen vermessen erschienen; es abzuwerfen gab es keine Möglichkeit für sie; auch lag der Gedanke fern; zu befestigt war die Autorität, zu unnahbar die Person, zu mächtig der Wille, der sie seit ihrer Geburt regierte. Dass aber eine Fremde kam, um hinterrücks, ohne Fug und Grund noch an den Riemen zu ziehen, die ihnen die Brust umschnürten, erregte ihr Missfallen und ihre Besorgnis.
Plötzlich aber wurden sie auf etwas Seltsames aufmerksam, und zwar alle drei zugleich, von dem gleichen Instinkt geleitet. Da war ein Klang von freier Überlegenheit, ein Unterton von Spott und Schalkhaftigkeit, der sie veranlasste, genauer hinzuhorchen, genauer in das kluge muntere Gesicht zu schauen. Und sie empfingen einen Antwortblick, der sie erschreckte, weil er Ungeheures zu verheissen schien, einen Blick, der deutlich sagte: ich gehöre zu euch, ich schliesse ein Bündnis mit euch, lasst mich nur machen, ich verstehe diese Sache gründlich und kann euch gründlich helfen.
Ungläubig starrten sie und suchten zu begreifen und schlugen wie geblendet die Augen nieder.
Christine blieb davon unberührt. Sie hatte den schmerzlichen Eindruck, Ulrike sei durch Mylius gegen sie gestimmt worden, und als sie einige Minuten später, von Ulrike mit stummem Wink aufgefordert, mit ihr das Zimmer verliess, um zu Josephe zu gehen, legte sie, kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ihre Hand auf den Arm des jungen Mädchens und sagte hastig: „Sie werden doch nicht glauben, dass ich leichtfertig bin? Für so eine schlechte Mutter und Hausfrau werden Sie mich doch nicht halten, wie er mich im Zorn hingestellt hat? Es ist ja auch nicht seine wirkliche Meinung, kann ich Sie versichern. Er ist gerecht und über Unbotmässigkeit kann er sich nicht beklagen.“
Ulrike erwiderte leise: „Gnädige Frau, über Sie zu urteilen, steht mir nicht im geringsten zu. Aber vielleicht darf ich Ihnen sagen, dass Sie mir vom ersten Augenblick an eine Sympathie eingeflösst haben wie noch kein weibliches Wesen; ich habe nämlich im allgemeinen für Frauen nicht viel übrig, und dass ich Sie verehre. Ich wünsche mir nichts Lieberes als dass Sie mir erlauben, Sie möglichst oft zu besuchen.“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Christine; „das war ein gutes Wort. Gute Worte hör ich selten. Kommen Sie nur. Kommen Sie jeden Tag, so oft Sie können. Ich freue mich darauf.“
Sie gingen ein Stück über den Flur, an dessen Wänden Etageren mit Zinnfiguren angebracht waren. „Etwas müssen Sie gleich erfahren“, begann Christine wieder mit vorsichtig gedämpfter Stimme, „sonst könnten Sie am Ende doch der Ansicht sein, dass Mylius das Opfer seiner Familie ist: so sind die Verhältnisse nicht, wie er sie in seinem Pessimismus schildert, das kann Ihnen jeder Mensch in der Stadt bekräftigen. Sein Antiquitätengeschäft ist in ganz Europa bekannt, H. O. Mylius, erkundigen Sie sich, bei wem Sie wollen. Ich weiss natürlich nicht, ob Vermögen da ist und wieviel; darüber spricht mein Mann nicht mit mir, das geht gegen seine Grundsätze, die ich zu respektieren habe. Ich weiss nicht, ob er grosse Gewinne hat oder nicht, ich frage ihn nicht. Nur soviel weiss ich, dass er mich und die Kinder über das Gebührliche knapp hält. Solche Auftritte wie heute kommen ja selten vor, aber ganz zu vermeiden sind sie nicht. Er kann nicht anders, der arme Mann, es ist stärker als er, und ich sage es Ihnen nur, weil es leider nicht zu verhehlen ist und weil Sie noch manches davon erleben werden, wenn Sie nun trotzdem noch Lust haben sollten, zu uns zu kommen.“
„Das wär noch schöner, wollt ich mich durch so was abschrecken lassen,“ sagte Ulrike mit ihrer tiefen, Zutrauen erweckenden Stimme; „im Gegenteil, mir scheint, ich kann Ihnen da in vieler Beziehung nützlich sein. Erstens bin ich selber nicht auf Eiderdaunen gebettet; zweitens bin ich der geborene Blitzableiter; drittens bin ich entschlossen, für Sie durchs Feuer zu gehen, wenn Sie mich ein bisschen liebhaben wollen.“
Christine griff gerührt nach ihrer Hand, und sie betraten auf Zehen das Zimmer der schlafenden Josephe.
Es hätte der schüchternen Aufklärung Christines nicht bedurft. Ulrike hatte ihre Zeit nicht verloren. Ihre Beobachtungen hatten ihr die Gewissheit verschafft, dass sie sich nicht bei armen Leuten, nicht in einem wirtschaftlich sinkenden Wesen befand. Des Herrn Mylius Standrede konnte sie nicht irreführen; in dem Punkt besass sie untrügliche Witterung.
Zuerst allerdings hatte ihr die Wohnung den Eindruck der Kleinbürgerlichkeit gemacht. Wäre es dabei verblieben, so hätte sie die Flucht ergriffen; Kleinbürgertum war eben das, was sie zu meiden gesonnen war. Da stand und lag alles so eng und so dicht und so gezählt; die Räume dumpf und niedrig; es fehlte Bequemlichkeit, Freiheit, generöse Absicht. Zier und Behänge waren da, weil sie da sein mussten, nicht weil man sie schätzte oder hütete. Etwas Liebloses lastete über den Dingen.
Aber Ulrike sah, dass die Möbel, ohne gerade prunkvoll zu sein, solid und stattlich waren; keine Dutzendstücke, keine Vorstadterzeugnisse; die Teppiche: echtes Material; das Linnen: feinste Qualität; das Tischbesteck: massives Silber; die goldgerahmten Gemälde an den Wänden: Originale von Künstlern und alt. Sie sah da und dort Gegenstände von unbezweifelbarer Kostbarkeit: eine Nippesfigur, eine Bronze, einen Leuchter, eine Kristallschale, eine chinesische Vase. Freilich konnte sie der Alte aus seinem Laden hergeschleppt haben, um sie allenfalls hier feilzubieten und so auf billige Manier zu einer Ausschmückung zu gelangen, die dann wieder wandern musste. Doch den Gedanken verwarf Ulrike; er dünkte ihr nicht vereinbar mit dem Charakter des Mannes; der lieh nicht, auch sich selber nicht; der mogelte nicht; bei dem war alles unverfälscht und an der richtigen Stelle.
Täuschung war kaum möglich: hier war Wohlhabenheit, jene Gediegenheit des Besitzes, die man bei bescheidener äusserer Gebarung nur selten antrifft.
Nichts entging ihrem spähenden Auge, dessen Ausdruck sie jedoch so zu beherrschen wusste, dass niemand seine unermüdliche Wachsamkeit auch nur ahnen konnte. Sie verglich die Dinge mit den Menschen; sie riet den Dingen die Gewohnheiten der Menschen ab, Eigenschaften und Art. Sie betrachtete die beiden stillen jungen Mädchen, denen sie nur wenige Jahre im Alter voraus war; betrachtete sie in ihren unscheinbaren, fast ärmlichen Gewändern und wie geduckt sie waren, wie man spürte, dass sie um ihre gewürgte Jugend trauerten und sich ergeben durch die Tage schleppten ohne die leiseste Regung von Rebellion; den Sohn mit dem Gesicht eines reizenden Galgenstricks, voll Begehrlichkeit und heimlicher Gelüste, während ihn die Furcht vor dem Vater in Bann hielt und auf den vorgeschriebenen Weg zwang; die jüngste mit den glühend-fragenden Augen einer Schwärmerin; die Mutter, zarte, schüchterne Gestalt, beschwichtigend, versöhnend, verschleiernd, vermittelnd zwischen Mann und Kindern, dabei selbst geknechtet, mit einem Schein von Ratlosigkeit in den schönen Augen; zuletzt den Alten mit seinem pfiffigen Schmunzeln, das er sich wahrscheinlich im Beruf angewöhnt hatte, wenn er Käufer und Verkäufer beschwatzte, seinen vogelhaften Kopfbewegungen, seinem Tyrannengebaren und beständigen Gerüstetsein gegen Lebensdrang und Lebenslust und der verräterischen Angst, die dahinter flimmerte.
Mit dem Alten ist etwas los, sagte sich Ulrike kampflustig, der Alte hat ein Geheimnis; von welcher Beschaffenheit es ist, darauf zu kommen wird vielleicht nicht schwer sein, aber es ihm zu entreissen und Nutzen daraus zu ziehen, bedarf der Schlauheit und Geduld. Möglich dass sich die Mühe lohnt, überlegte sie weiter; es wäre ein Ziel für mich, endlich einmal was, das einem Spass machen könnte. Wer weiss, wohin es führt und welche Überraschungen einem da bevorstehen. Offenbar betrügt er die ganze Familie und spielt den armen Teufel nur, um sie nicht merken zu lassen, was für Reichtümer er in alter Stille zusammengescharrt hat; dergleichen wäre ihm wohl zuzutrauen; sie müssen darben und vor ihm zittern, indes er auf der gefüllten Geldtruhe hockt und sich ins Fäustchen lacht. Verhält es sich so, mein Guter, dann werd ich dir heimleuchten, dann hat dein Stündlein geschlagen.
Sie lächelte vor sich hin, in einen Plan verliebt, der sich, ungreifbar noch aber verlockend, in ihr formte.
In den nächsten Tagen horchte sie viel herum. Das Myliussche Geschäft war in der Himmelpfortgasse; bei gelegentlichen kleinen Einkäufen brachte sie geschickt einige Ladeninhaber in der Nähe über das, was sie von Mylius wissen konnten, zum Reden. Hierbei kamen ihr ihre guten Manieren zustatten, ihre gewinnende Herzlichkeit und Unbefangenheit, vor allem die humorige Art, womit sie insbesondere Leute aus dem Volk zu fassen verstand.
Eine andere Nachrichtenquelle war ein mit der Familie Mylius seit zwanzig Jahren im selben Haus wohnendes altes Fräulein, von dem sie zufällig erfahren hatte, dass es vorzeiten mit ihrem Onkel, dem Hofrat, bekannt gewesen war; der Bruder dieses Fräuleins von Elmenreich nämlich und der Hofrat waren in den fünfziger Jahren einmal in der gleichen Hofkanzlei gesessen; jetzt lebte der Sohn des verstorbenen Bruders bei ihr, Schulkamerad und Intimus von Lothar Mylius. Ulrike machte Fräulein von Elmenreich einen Besuch, nachdem sie sie am Tag vorher auf der Treppe so freudig begrüsst hatte, als wäre sie seit langem von der Sehnsucht verzehrt gewesen, ihr zu begegnen. Die Anknüpfung war leicht, der Hinweis auf den Hofrat entzückte die einsame Alte, die sofort ihre Erinnerungen auskramte, und da sie sich auch sonst äusserst mitteilsam zeigte, verhehlte sie ihrem jungen Gast nichts, was zu ihrer Kenntnis gelangt war.
Das erste Ergebnis von Ulrikes Kundschaftertätigkeit war ungefähr dies. Mylius wie auch seine Frau stammten aus dem Rheinhessischen. Er war der Sohn eines protestantischen Pastors, hatte Theologie studiert und dann Kunstgeschichte. Es war ihm nämlich eine kleine Erbschaft zugefallen, die ihm neben der Möglichkeit umzusatteln auch die bot, nach Italien zu reisen und einige Zeit in Rom zu leben. Dort hatte er dann abermals den Beruf gewechselt und war Kunsthändler geworden. In die Heimat zurückgekehrt, liess er sich in Frankfurt nieder und heiratete alsbald. Christine war aus einer alten, obschon verarmten Patrizierfamilie, eine geborene Vollprecht; ihr Vater war vor der Märzrevolution grossherzoglicher Staatsminister gewesen, ein Mann von Bildung und Geist. Als er starb, reichte die Hinterlassenschaft nicht einmal hin, um die Schulden zu tilgen, und Christine durfte sich nicht lang besinnen, als Mylius um ihre Hand anhielt. Doch mit der jungen Wirtschaft wollte es nicht vorwärts gehen, Mylius entschloss sich, die Gegend zu verlassen, und verlegte seinen Wohnsitz nach Wien. Er verzichtete auf den ausschliesslichen Handel mit Bildern und warf sich auf das Antiquitätengeschäft. Das war zu Anfang der sechziger Jahre. Zuerst schien es ihm auch in dem neuen Domizil nicht recht zu glücken, aber eines Tages hatte er den spekulativen Einfall, den ganzen beweglichen Besitz eines unlängst verstorbenen Grafen Zierotin, der der Letzte seines Geschlechtes war, zu erwerben; es gelang ihm unter günstigen Bedingungen, und seitdem hatte er sich langsam und stetig emporgearbeitet. Bei den vornehmen Herrschaften stand er allgemein in hoher Gunst; man schätzte seinen Geschmack, hielt sein Urteil in Zweifelsfällen für massgebend, wandte sich bei diskreten Verkäufen vor allem an ihn und rühmte seine geschäftliche Sauberkeit. Mit Hilfe dieser auserlesenen Klientel hatte er sich auch Absatzgebiete zu erschliessen vermocht, die nur wenig andern zugänglich waren; sein Name hatte bei der Aristokratie Englands und Frankreichs wie auch bei den reichen amerikanischen Sammlern einen guten Klang, und mit ziemlicher Regelmässigkeit schickte er grosse Sendungen von oft unermesslichem Wert ins Ausland.
Die Frage, ob er als vermöglicher Mann gelten dürfe, wurde von verschiedenen verschieden beantwortet. Die einen bejahten sie unbedingt. Sie sagten, er werde so seine Viertelmillion in Sicherheit gebracht haben. Gulden? eine Viertelmillion Gulden? Natürlich, warum denn nicht? Eine Viertelmillion Gulden. Andere bestritten dies und nannten eine weit geringere Summe, siebzig- oder achtzigtausend. Wieder andere, zum Beispiel der Handschuhfabrikant Schlitteis, der sein Gewölbe gegenüber dem Myliusschen hatte, verstieg sich zu schlechthin phantastischen Zahlen und behauptete, er müsse, niedrig veranschlagt, vier- bis fünfmalhunderttausend Gulden besitzen. Doch diesem lachte Ulrike ins Gesicht und sagte, er sei vielleicht ein begabter Märchenerzähler, an seinen geschäftlichen Blick hingegen glaube sie nicht; ein Mann von derartigem Reichtum werde was Besseres anzufangen wissen, als Tag für Tag in einem düstern Loch zu lauern und Bric-à-bracs zu verschachern; solche Verdrehtheit traue sie einem sonst leidlich vernünftigen Menschen nicht zu.
Fräulein von Elmenreich war der Ansicht, dass er nach bürgerlichen Begriffen allerdings wohlhabend zu nennen sei, dass aber bei der Besonderheit des Handels, den er treibe, sein Barvermögen kaum zu bestimmen wäre. Der Wert der Dinge sei schwankend; er müsse sie bisweilen unter dem Preis losschlagen; Berechnungen gingen oft fehl, Erwartungen würden getäuscht. Freilich käme es vor, dass gewisse Objekte ganz ausserordentlich im Preise stiegen; so habe sie selbst anno dreiundsiebzig, im Jahr des grossen Krachs, einen Gobelin um zweihundert Gulden verkauft, der heute unter Brüdern das Sechsfache wert sei. So oft sie daran denke, sei ihr das Weinen nah.
„Die Wahrheit zu gestehen, geh ich nie ohne Bangigkeit an Mylius vorüber,“ sagte das alte Fräulein; „hie und da treff’ ich ihn, etwa in der Dämmerung im Hausflur. Er grüsst, ich danke, das ist alles. Aber solche finstern Geldnaturen strömen einen bösen Zauber aus. Sie lieben den Fetisch in ihren Kassen, wie ein Mensch von Herz das Lebendige liebt, mit derselben Hingebung, derselben Leidenschaft. Von dieser gottlosen Liebe wird ihr Blut dick und schwarz und man spürt förmlich, wie sich die Seele in Ängsten windet. Da geht er dann hin, geht die Stiege hinauf, still wie ein Gespenst. Was er hat, macht ihn zittern, was er nicht hat, macht ihn zittern.“
„Ganz richtig,“ entgegnete Ulrike Woytich, „aber vor Gespenstern fürcht ich mich nicht. Gespenster nehm ich nicht an. Werden sie zudringlich, so rückt man ihnen an den dürren Leib und ruft: ‚Gelobt sei Jesus Christus.‘ Das halten sie nicht aus und verduften. Gruseln kenn ich nicht, das muss ich erst lernen wie der im Märchen, der extra dazu auszog.“
Wie sich Ulrike bald überzeugen konnte, genoss Mylius allenthalben den Ruf eines Mannes von Verlass und streng rechtlichen Grundsätzen. Anfangs hatte er es nicht eben leicht gehabt in der Stadt der Leichtherzigkeit, als protestantischer Zuzügling. Man war den Leuten seines Schlages und seiner Herkunft nicht grün. Verspottete man nicht ihre Genauigkeit, so beargwöhnte man ihren Fleiss; erregten sie nicht Anstoss durch die schroffe Absage an das mittuerische Wesen, so ärgerte man sich über die korrekte Führung. Doch mit der ihm eigenen Zähigkeit hatte er sich festgesetzt und Boden gewonnen.
Eigentliche Freunde hatte er nicht, vertrauten Umgang keinen. Das Familienleben galt als musterhaft und man rühmte die Artigkeit und Wohlerzogenheit der Kinder, die bescheidene Führung und das gefällige Wesen der Frau. Viele bedauerten freilich die Töchter. Sie durften auf keinen Ball gehen, keine Einladungen annehmen, Ausflüge nur machen, wenn sie nichts kosteten. Selbst die kleinste Eisenbahnfahrt musste erfeilscht und erbettelt werden. Josephe war die einzige, für die es keine Entbehrung war. In frühen Jahren schon wurde über ihre Frömmigkeit gesprochen und man wunderte sich darüber. Manche wollten nicht begreifen, wie eine Protestantin es überhaupt anstelle, fromm zu sein; Protestantismus, erklärten sie, sei doch gar kein Glauben, sondern Ketzerei und Leugnung, da seien die Juden noch besser dran. Aus den ersten Gesprächen mit Christine erfuhr Ulrike, dass das junge Kind auch die Mutter zu seinen Anschauungen bekehrt hatte; eine Zeitlang hatte Christine sie bei jedem Kirchgang begleitet, und sie gestand, dass es ihr selbst merkwürdig genug gewesen sei, da sie in aufklärerischen Tendenzen erzogen worden war und eine ganz andere Jugend gelebt hatte. Ihr Grossvater hatte Merck noch gekannt, den Freund Goethes; die Mutter hatte als junges Mädchen im Brentanoschen Kreise verkehrt und war mit Arnim, Görres und Friedrich Schlegel in einem Briefwechsel gestanden, der zu den gehüteten Schätzen des Familienarchivs gehörte; eines Besuches von Wilhelm von Humboldt bei ihren Eltern entsann sie sich mit Stolz.
Ihre geistige Verfassung, sie suchte es mit ihren Worten zu umschreiben, war Produkt und Nachklang jener innerlich bewegten Romantik, die dann plötzlich wie von einem Eissturm von der deutschen Erde fortgeweht war und einst ein anderes Deutschland hatte ahnen lassen als das unter Kanonendonner vor den Mauern von Paris erstandene. Aber diese Grundfarbe war längst verblasst in ihr; das ehemals lebendig Gewesene war keine Wirklichkeit mehr, nur Phantasiespiel, aus dem sie bei seltenen Anlässen den Mut schöpfte, sich zur Fürsprecherin ihrer Kinder zu machen, wenn es galt, ihnen eine Freude zu bereiten und dem Mann die Erfüllung eines Wunsches abzuschmeicheln. In allem übrigen herrschte eine grosse Stille in ihrem Dasein, eine schläfrige und unfrohe Stille; und so war es auch mit den Kindern, Josephe vielleicht ausgenommen, die ihr eigenes, verschlossenes und oft schwer erratbares Leben hatte; schläfrige und unfrohe Stille lagerte über ihnen. Wenn man am Morgen die Fenster in der Wohnung öffnete, wunderte man sich immer, dass unten auf der Gasse Menschen gingen, dass da draussen eine Welt war. Nach und nach nahm diese Welt den Charakter gefährlicher und feindseliger Fremdheit an. Mylius unterliess es auch bei keiner schicklichen Gelegenheit, vor ihr zu warnen, vor ihren Verführungen, ihrer Verderbtheit, ihrer Hohlheit und ihrer Mitleidlosigkeit. Es klang glaubhaft genug, und so war noch mehr Grund, sich ganz, ganz stille zu verhalten.
Alles das nahm Ulrike begierig zur Kenntnis. Ausbeute und Hinweis in Fülle. Das Feld lag offen da. Zunächst war, um die Hauptschwierigkeit aus dem Weg zu räumen, eine Auseinandersetzung mit Onkel Klemens nötig, dem Hofrat, der ihrer als Logiergast überdrüssig war, obgleich sie von den in England gemachten Ersparnissen lebte und in seinem Haus nur eine greuliche Mansarde bewohnte, in der die Mäuse rumorten und durch deren Fensterfugen der Sturmwind pfiff. Er hatte ihr Empfehlungen für Paris verschafft, sie sollte ehestens fort, nach seinem Willen möglichst weit fort, und nun musste sie ihn vertrösten und etwas ersinnen, um ihn nicht als Dränger hinter sich zu haben, bis ihr Plan eine taugliche Form gewonnen hatte.
Dabei ist die Frage noch nicht beantwortet: worin bestand eigentlich ihr Plan? was lockte sie? was trieb sie, ihre Kräfte zu sammeln, um in der einen vorgesetzten Richtung zu wirken? Wollte sie sich einnisten in dem friedlichen Bürgerquartier und mit Halbgefangenen eine magere Kost teilen? So gross war ihr Hunger nicht und so klein ihr Ehrgeiz nicht. Folgte sie einer Neigung, einer Herzenslaune, einer mitfühlenden Regung, einer neugierigen bloss? Es war ganz und gar nicht ihre Art, denn sie gab sich nicht für Geringes her, und es fiel ihr nicht im Traum ein, sentimentalen Anwandlungen zuliebe ihre Zeit und ihre Aussichten zu opfern.
Also hatte ihr unvergleichlicher Spürsinn in dieser bresthaft engen Welt Möglichkeiten des Gelingens und Emporkommens entdeckt, die den Augen minder scharfblickender Leute, wie du, Leser, und ich, Berichterstatter, es sind, sich entziehen? Ohne Zweifel war es so, denn darauf dürfen wir uns verlassen, dass Ulrike Woytich immer dort zu finden ist, wo es um die Hauptsache geht.