Читать книгу Ulrike Woytich - Jakob Wassermann - Страница 8

Zunder im trockenen Holz

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Sie sagte sich, dass es unklug wäre, wenn sie gleich anfangs ihre neuen Freunde in zu rascher Folge besuchte. Sie liess sich jedesmal bitten, schob den Termin hinaus, beteuerte, sie wolle nicht aufdringlich sein, war bestürzt, als sich Christine darüber verstimmt zeigte, kam am versprochenen Tag doch nicht, liess sich wieder bitten, behauptete, Josephe vertrüge noch keine Gesellschaft, Esther und Aimée gingen ihr aus dem Weg, musste eines bessern belehrt werden und wurde endlich zur Zwanglosigkeit überredet. Es war vortrefflich abgestuft; sie warb keinen Augenblick, sie war die Umworbene, und da sie sich so spröd erwies, stieg sie natürlich im Wert.

Sich um Josephe zu bemühen, erkannte sie als das Wichtigste. Den Liebling Christines musste sie vor allem für sich einnehmen. Aber gerade bei ihr achtete sie sorgfältig darauf, sich keine Blösse zu geben, wartete ziemlich lange, ehe sie einen vertraulicheren Ton anschlug, und vermied beinahe zartsinnig, was das empfindliche Kind an eine Dankesschuld gemahnen konnte. Die seelische und körperliche Erschütterung, die Josephe bei dem Brand erlitten hatte, war nachhaltiger als man geglaubt; sie war noch scheuer geworden, noch in sich gekehrter, noch unzugänglicher. Ihrer Retterin mit Herzlichkeit zu begegnen, war ihr aufrichtiges Bestreben, aber Worte standen ihr nicht zu Gebot, wenigstens nicht in dieser Zeit, und dass ihre Stummheit missdeutet werden könne, verursachte ihr Pein.

Ulrike erriet den Zustand und besänftigte ihn. Sie hatte eine Art, dem Partner im Gespräch das Stich- und Gegenwort zu erlassen und es ihm anzudichten, die diesem die Illusion gab, er trage das beste Teil zur Unterhaltung bei, und damit verpflichtete und schmeichelte sie aufs feinste. Sie brachte Josephe Blumen mit. Sie verstand es, in der Küche in fünf Minuten exquisite kleine Leckerbissen zu bereiten, mit nichts, einem Löffel Mehl, einem Eidotter, einer Hühnerleber und ein paar Gewürzen, und servierte das Erzeugnis mit dem listigen Stolz eines italienischen Garkochs. Es war herzbezwingend. Solche Wohlgerüche hatten die Myliusschen Gemächer noch nie durchflutet. Therese schüttelte den Kopf, Lothar schnupperte und sog gierig den nahrhaften Dampf in die Nase; aber dann musste Luftzug veranstaltet werden, um die Spuren der kulinarischen Ausschweifung zu verwischen, bevor Mylius nach Hause kam.

Auch zu regelmässigen kleinen Spaziergängen suchte sie Josephe zu bewegen, doch vermochte sie sie nur ein- oder zweimal dazu, denn Spazierengehen war nach den Myliusschen Anschauungen ein Luxus, den sich nur Aristokraten und Komödianten gestatten durften, und Josephe wünschte sich an das Gesetz zu halten, welches das innere Leben der Familie bestimmte. Lieber wollte sie auf die angenehme Zerstreuung verzichten, die ihr Ulrikes munteres Geplauder bot. Oft horchte sie staunend; denn durch diese oder jene Bemerkung, ein hingeworfenes Wort bloss, gewann sie Einblick in Dinge, in Verhältnisse, die ihr völlig unbekannt waren und ihre Phantasie lebhaft beunruhigten.

„Sie verwöhnen mir das Kind, liebe Ulrike“, sagte Christine, und man sah ihr an, dass sie glücklich darüber war.

Ulrike antwortete, solch ein Geschöpf könne gar nicht genug verwöhnt werden; Josephe brauche Liebe, Wärme und Sorgfalt wie eine Blume im Winter; gern würde sie mit Josephe ein paar Tage ins Gebirge reisen, wenn sichs machen liesse; es wäre für ihre Gesundheit wie für ihren Gemütszustand gleich heilsam und besonders kostspielig wäre das Unternehmen ja nicht. Christine ergriff den Gedanken mit zaghafter Freude, aber sie konnte sich nicht entschliessen, mit Mylius darüber zu sprechen; es war leicht vorauszusehen, dass ein so verwegenes und die Ordnung durchbrechendes Projekt seinen heftigsten Unwillen herausfordern musste. Ulrike konnte sich nicht enthalten, ihr Vorwürfe über diese Schwäche und Feigheit zu machen, aber Christine erwiderte ernst, darin bestünde nun einmal ihr Leben; ihre Aufgabe sei es, Reibungen zu verhindern, Unfrieden zu ersticken und zu sorgen, dass sich nirgends Zündstoff bilde. „Es ist eine schwere Aufgabe, und ich spüre sie in allen Gliedern“, fügte sie hinzu.

„Ganz gewiss; die personifizierte Schutzvorrichtung; ob aber auch eine dankbare, wird die Zukunft lehren“, sagte Ulrike trocken.

„Kinder müssen an ihren Vater glauben wie Untertanen an ihren Fürsten und wie die Frommen an ihren Gott,“ fuhr Christine fort, „gerät der Glaube einmal ins Wanken, dann geht alles drunter und drüber.“

„Das wollen wir nicht hoffen,“ erwiderte Ulrike scheinbar erschrocken, „malen Sie nur nicht gleich den Teufel an die Wand. Also wird es nichts mit der kleinen Reise ins Gebirge?“

„Es kann leider nicht sein,“ sagte Christine, „vorläufig nicht. Übrigens hab ich mit Josephe selbst schon davon gesprochen und sie will absolut nichts davon hören. Sie weiss, dass es Schwierigkeiten und Kämpfe gäbe, und es wäre ihr unerträglich, sich als die Veranlassung dazu zu wissen.“

Von dem letzten Teil dieses Gespräches, das in Christines Zimmer stattfand, wurde Esther zufällig Zeugin und lauschte stumm, mit grossen Augen. Ulrike begab sich zu Josephe, der sie etwas vorzulesen versprochen hatte, und Josephe erwartete sie bereits. Sie sass mit einer Stickerei am Fenster und lächelte ihr freundlich entgegen. Es war zwölf Uhr vorüber, als sie begann, und mit Kraft und Verständnis las sie Stellen aus Amaranth, aus Stifters Hochwald, aus Hamerlings König von Sion; dann legte sie die Bücher beiseite und rezitierte auswendig, in englischer Sprache, zwei lange Gedichte von Tennyson und die Abschiedsstanzen aus Byrons Childe Harold.

Nach den letzten Versen erscholl beifälliges Händeklatschen, und sie fuhr bestürzt herum, wie wenn sie den Eintretenden nicht gehört hätte; sie hatte ihn aber wohl gehört: es war Mylius, der nun bedächtig den Kopf wiegte und mit bewundernd emporgezogenen Brauen sagte, ein solches Talent sei alles Lobes würdig; ob sie ausser der englischen noch eine andere Sprache beherrsche? Zu dienen, erwiderte sie leichthin, Französisch und Italienisch fliessend, Polnisch und Spanisch zur Not. Wann sie denn Zeit und Gelegenheit gehabt, das alles zu lernen? Da müsse sie doch unendlichen Fleiss drangesetzt haben? O nein, sagte sie; in den sechs Jahren, seit sie aus dem Elternhaus fort sei, habe sie mit so vielen Leuten aus aller Herren Länder zu tun gehabt, dass sie sich die Sprachen spielend angeeignet habe. Wenn man mit betrügerischen Agenten oder einer hochmütigen und schlechtgelaunten Lady oder Vicomtesse beständig um den letzten Schilling raufen müsse, flögen einem die Vokabeln schnell auf die Zunge und Syntax und Grammatik gäben sich von selber. Natürlich habe sie auch gelernt, aber der beste Lehrmeister sei das Schicksal.

„Also eine Perle“, meinte Mylius schmunzelnd.

„Eine Perle? möglich,“ versetzte sie lachend, „doch leider ohne Fassung und noch nicht mal aus der Muschel.“

„Immerhin, mein Kompliment,“ sagte Mylius; „eine junge Person wie Sie scheint mir berufen, in der Welt ihr Glück zu machen.“

Da Ulrike scharmant zu erröten wusste, schmeichelte die Anerkennung dem, der sie spendete, und erhielt ihn zugleich tributpflichtig. „Was sagen Sie zu Ihrem Vater?“ wandte sich Ulrike an Josephe, als Mylius das Zimmer verlassen hatte; „er ist ja gar nicht der Wauwau, für den man ihn ausgibt. Ein vollendeter Kavalier.“

„Wauwau? davon weiss ich nichts,“ erwiderte Josephe stirnrunzelnd; „dass er sich zu benehmen versteht, ist mir nichts Neues.“

Ulrike biss sich auf die Lippen.

Als sie am andern Nachmittag kam, war Christine mit Josephe ausgegangen. Esther und Aimée sassen am Tisch im Wohnzimmer und hatten einen abgegriffenen Schmöker aus der Leihbibliothek vor sich liegen, in den sie gemeinsam versunken waren. Wer früher mit der Seite fertig war, musste auf die andre warten. Sie erwiderten mürrisch, ohne emporzublicken, Ulrikes heiteren Gruss, und Lothar, der mit lächerlich grossen Schritten, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer marschierte, schielte von Zeit zu Zeit grimmig nach ihr hin. Ulrike streifte die Handschuhe ab, musterte von ihrer schlanken Höhe herab alle drei erstaunt und fragte mit emporgezogenen Brauen: „Was ist los mit euch?“

„Nichts Besonderes“, fauchte der Knabe mit zänkischer, doch unsicher stotternder Stimme und pflanzte sich vor ihr auf, „wir wollens uns bloss nicht mehr gefallen lassen, dass Josephe alles haben soll und wir gar nichts. Sie ist ohnehin schon Mutters Schosskind, und jetzt wollen Sie auch noch eine Erholungsreise mit ihr machen. Wozu denn? Was mischen Sie sich denn in unsere Familienangelegenheiten? Wir erlauben das einfach nicht, verstehen Sie?“

Weiter kam er nicht; es gab einen Klatsch, und er hatte eine schallende Ohrfeige sitzen. Ulrike sagte gleichmütig: „Wenn sich die andre Backe beschwert, dass sie nichts gekriegt hat, kann sie auch was haben.“

Die Verblüffung des jungen Menschen war masslos. Er rieb die geschlagene Wange mit den Fingerspitzen und starrte Ulrike zornig und entsetzt an. Aber unter ihrem kühnen, spöttischen Blick wurde er von Sekunde zu Sekunde befangener, endlich schlug er die Augen nieder, schob die Hände in die Taschen und zuckte verlegen die Achseln.

Jetzt begann Ulrikes Kunststück. Ihn unterm Arm nehmend, fragte sie lachend, obs weh getan habe. Er nickte. „Das ist gescheit“, lachte sie. Errötend suchte er sich ihr zu entwinden, aber sie hielt ihn fest und neckte ihn mit seinem männlich-entschlossenen Auftreten, das ihr nur deshalb nicht imponiert habe, weil sie selber ein halbes Mannsbild sei und sich allerwegen habe ihrer Haut wehren müssen. Und sie erzählte im kollegialsten Ton ein paar lustige Episoden aus ihrem bewegten Wanderleben. Da wurde Lothar zahm. Er lauschte vergnügt und mit bewundernder Miene. Sie gingen dabei im Zimmer auf und ab, und Esther und Aimée, die ihren Augen nicht trauen wollten, vergassen weiterzulesen und blickten entgeistert drein, mit den Köpfen automatenhaft ihrem Auf- und Abschreiten folgend. Aus ihrem düsteren Staunen über die rasche Abtrünnigkeit des Bruders schloss Ulrike heimlich belustigt auf den Umfang der Verschwörung.

Als sie einmal so weit war, bedurfte es keiner grossen Anstrengungen mehr, Lothar völlig auf ihre Seite zu ziehen. Sie fand neben allem andern Wirken, das sich von Tag zu Tag breiter entwickelte, immer noch Zeit und Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen. Sie holte ihn schlau über seine Wünsche und Neigungen aus und unterstützte sie, ohne zu deutlich zu werden. Bloss indem sie sich wunderte, wusste sie den Geist der Widersetzlichkeit in ihm zu wecken. Wenn er plötzlich kühn in seinen Äusserungen wurde, warnte sie ihn, aber in solcher Art, dass ein Gelüst erst recht wachgerufen wurde. Sie liess durchblicken, wie leicht die eisernen Gebote, die ihn umschränkten, zu umgehen waren, dabei schien es, als bestärke sie ihn in seiner Furcht vor Übertretungen, so dass sie sich im gegebenen Fall immer rechtfertigen konnte. Sie lieh ihm kleine Geldbeträge. Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen, als er ihr verriet, dass er zwanzig Kreuzer Taschengeld in der Woche bekam. Damit liessen sich keine grossen Sprünge machen, sagte sie mitleidig und erzählte von jungen Lords und jungen Grafen, die mit Goldstücken um sich würfen wie gewöhnliche Menschen mit Zwetschenkernen. Sie verstand es, sittliche Entrüstung über eine solche Charakterbeschaffenheit zu äussern und zugleich einen verklärenden Schein um sie zu malen, in den Tadel einen Seufzer nach den verbotenen Früchten zu mischen, und hatte jedesmal das Vergnügen, zu beobachten, wie der Schlummer des Verlangens in wissenden Wunsch überging. Dann aber beschwor sie ihn, das Verderben zu meiden und ein gehorsamer Sohn und anständiger Mensch zu bleiben.

Er gelobte es treuherzig.

Da er ihr Schuldner geworden war, die Beträge liefen freilich nicht über zwei oder drei Gulden, geriet er auch in Abhängigkeit. Und da sie als Weib Eindruck auf ihn machte, war seine Unterwerfung freiwillig und enthusiastisch. In seinem Gemüt begann es zu brodeln und zu sieden; jeder Blick, jedes Wort Ulrikes nährte Unzufriedenheit mit dem Bisherigen; die Fesseln, die er kaum gespürt, weil sie gleichsam in die Existenz hineingewachsen waren, fingen an, zu drücken; die Regel und Gebundenheit der Tage erregte eine böse Ungeduld; er wollte über sich hinaus, über die Jahre hinaus, über die Vorschrift hinaus, das Blut war erhitzt, formlose Entschlüsse ballten sich.

Diesen gefährlichen Prozess vor den wachsamen Augen Christines zu verbergen, war für Ulrike nicht leicht. Aber sie hatte darin die Taktik der Taschenspieler, die durch unablässige Beweglichkeit und witziges Mundwerk die Aufmerksamkeit von ihrem Tun abzulenken wissen. Und es gelang ihr, Christine nicht bloss zu täuschen, sondern ihr auch die Meinung beizubringen, dass sich Lothar, seit sie ihm ihre kameradschaftliche Teilnahme zugewendet, sehr zu seinem Vorteil verändert habe, dass er umgänglicher, freier und zielbewusster geworden sei. Ursache genug, Ulrikes pädagogisches Talent zu preisen. Nicht selten musste Christine lächeln, wenn Lothar in den überschwenglichsten Ausdrücken von seiner neuen Freundin sprach; auch Josephe lächelte dann, zustimmend und erfreut wie ihre Mutter; nur Esther und Aimée waren nicht im selben Mass von Ulrikes Vollkommenheit durchdrungen; mit ihnen hatte auch Ulrike viel mehr Mühe als mit den andern; sie stiess da auf ein unbesiegliches Misstrauen, ein eingeborenes und allgemeines, nicht gerade auf die Person gerichtetes. Fast schien es Trägheit, tiefer geistiger Schlaf. Alle Versuche, die beiden aus ihrer dumpfen Ruhe zu scheuchen, waren gescheitert. Ulrike überlegte allerlei und griff endlich zum Nächstliegenden. Der Erfolg war unerwartet.

Eines Tages, kurz nach Tisch, kam sie und fand beide Schwestern wieder über einem Roman sitzend. Die Erlaubnis, sich dieser Leidenschaft hinzugeben, war ihnen täglich für eine Stunde erteilt, und mit dem Glockenschlag pflegten sie, auch in der spannendsten Stelle, aufzuhören. Lothar misshandelte im Zimmer nebenan das Klavier, er hatte einen freien Nachmittag; als er Ulrikes Stimme vernahm, erschien er sogleich. Ulrike fragte, wo die Mutter sei; Aimée gab keine Antwort; Esther entschloss sich erst nach einer Weile dazu; sie sagte, die Mutter sei mit dem Vater fortgegangen; sie seien beide zum Schuster, der eine bereits bezahlte Rechnung zum zweitenmal geschickt habe; darüber habe sich der Vater bei Tisch sehr aufgeregt.

Hinter die Schwestern tretend und sich zwischen ihnen herabbeugend, griff Ulrike nach dem Buch. Sie klappte es zu und las den Titel: Europäisches Sklavenleben von Hackländer. Da lachte sie in sich hinein, legte den Arm um beider Schultern und flüsterte, sie habe sich etwas Prächtiges ausgedacht, es müsse aber vorläufig Geheimnis bleiben und sie erwarte von ihnen Verschwiegenheit. Die neugierig Gewordenen sahen sie fragend an, und sie sagte so leise, dass Lothar, der eifersüchtig am Ofen lehnte, sie nicht verstehen konnte, sie wolle am nächsten Dienstag mit ihnen den Akademieball besuchen; sie habe sich alles schon zurechtgedacht, und wenn sie klug sein und ihr folgen würden, sei das Gelingen sicher.

In einem Nu waren die zwei Mädchen umgewandelt. Die Augen strahlten, in den Mienen war Leben und Hoffnung. Maskenredoute; sie hatten dergleichen nie gesehen; dass es möglich sein konnte, dabei zu sein, hatten sie nie zu denken gewagt. Sie mussten sich mit den Abenteuern in den Leihbibliotheksbüchern begnügen. Bedauerten sie auch, dass es nur eine törichte Tapete war, deren erlogene Farben sie narrten, so wurde ihre Phantasie doch heiss dabei; abends lagen sie seufzend in ihren Betten, warteten in den Schlaf hinein und sahen zu, wie die ausschweifenden Träume an der nüchternen Wirklichkeit zerschellten.

Doch ist Beziehung und daher Geschick auch im Unerfüllbaren; auch da zeigt sich das Wesen und gräbt im Finstern seinen Weg. Während Esthers Verlangen auf ausserordentliche Begebenheiten gerichtet war, die verworrenen Qualen und Freuden der grossen Leidenschaften, in denen sie sich als hingerissen Liebende und Opfernde erblickte oder als hoheitsvolle Gebieterin ungerührt an Anbetenden vorüberschritt, hingen die Gedanken Aimées an Bildern von verschwenderischer Pracht und exotischem Luxus, und sie war im Sinnen und Wünschen mit Festen, Aufzügen und grossartigen Entfaltungen so vertraut, dass sie bloss die Augen zu schliessen brauchte, um innerlich davon zu glühen.

Die erste Frage war natürlich: woher das Geld nehmen? „Lasst mich dafür sorgen,“ beruhigte sie die Verlockerin; „ich hab es schon genau erwogen, wir ziehen die Mutter ins Komplott, im schlimmsten Fall behelfen wir uns mit einer Anleihe.“ Es solle dies auch keineswegs die einzige Gelegenheit bleiben, verhiess sie bedeutungsvoll; sie wisse eine Geldquelle, die nur darauf warte, von einer berufenen Hand zum Fliessen gebracht zu werden. Esthers und Aimées Gesichter bedeckten sich mit dem zarten Rot der Erregung. Wie aber war das Ausbleiben am Abend und in der Nacht vor dem Vater zu verbergen? Nichts leichter als das. Ulrike lädt sie zu sich in ihre Behausung. Schliesslich: was solle man anziehen? Geliehene Kostüme? Gott bewahre; aus alten Fetzen liessen sich zu solchem Zweck die köstlichsten Gewänder schneidern.

Also gleich ans Werk, gleich ans Suchen. Lothar schaute pfiffig drein; aus aufgeschnappten Brocken hatte er erraten, was vorging. Dennoch erkundigte er sich, um von Ulrike in aller Form eingeweiht zu werden. Ulrike fuhr ihm mit der Hand durch die Lockenwildnis und antwortete, wenn er hübsch artig sein und Feuer schüren wolle, denn es sei wieder einmal barbarisch kalt bei Myliussens, werde man ihn ins Vertrauen ziehen. Er flammte auf unter ihrer Berührung, doch die Weisung, Feuer zu machen, flösste ihm Bedenken ein; Vater habe verboten, am Nachmittag zu heizen, sagte er; man müsse sich in acht nehmen, da es ihm bisweilen einfalle, den Bestand in der Kohlenkiste zu kontrollieren. Ulrike versetzte unwillig, es passe ihr aber nicht zu frieren; sie nehme die Verantwortung auf sich, und wenn Herr Mylius etwas dawider habe, werde sie ihm ein paar Zentner Kohlen schenken. Die aufrührerische Rede rief Bestürzung bei den Geschwistern hervor, aber nach einigem Zaudern gehorchte Lothar mit triumphierender Miene, denn seine Vorstellung von Ulrikes Macht war unbegrenzt. Ulrike fasste jedes der Mädchen an einem Arm; sie fegten durch alle Räume, kramten in allen Schränken, und lachend und jubelnd wurde da ein Stück Stoff oder Seide, dort ein Schleier, ein Spitzenrest, ein altes Band hervorgezogen.

Es dämmerte schon, da kam Josephe aus der Handarbeitsschule, gleich danach auch Christine. Man war betroffen, wollte aber nichts erklären; Ulrike kniete mit aufgehobenen Händen vor Christine, bat um blinde Bewilligung alles Vorhabens und um Generalpardon für die begangenen Missetaten. Christine liess sich erweichen; man versprach volles Geständnis beim Kaffee. Doch wollte Ulrike zur Feier des Tages selbst den Kaffee kochen, mit doppelter Bohnenration. Sie wagte sogar den Vorschlag, dass man das schöne Altnymphenburger Porzellan benutzen solle, Schaugepränge des Salons, und lachte ausgelassen über das dadurch hervorgerufene Entsetzen. Unter ihren ergötzlichen Sticheleien und paradoxen Argumenten fiel der Widerstand gegen das verbrecherische Beginnen, und die still verwunderte Josephe wurde beauftragt, das Porzellan herbeizutragen und den Tisch zu decken, indes die andern, auch Lothar, in die Küche stoben, um unter Plaudern und Scherzen den Kaffee zu bereiten. Selbst die mürrische Therese taute auf und steuerte, nicht immer freiwillig, zur Erlustigung bei. Lothar versicherte, dass er sich keines so herrlichen Tages entsinnen könne, es sei ihm so wohl wie noch nie.

„Aber bedenkt, dass wir reif für den Kerker sind,“ sagte Ulrike, von Dampf umwallt, die Pelzkappe, die sie im Übermut aufgestülpt, schief auf dem Kopf; „wenn ein Judas unter uns ist, sind wir verloren. Verdientermassen; wir prassen und schwelgen und missachten das Gebot des Herrn. Feuer im Ofen, wirklicher Kaffee im Topf, echtes Geschirr auf der Tafel: es schreit zum Himmel, der Jüngste Tag ist nah.“

Es schlug eben fünf Uhr, und mit dem letzten Schlag, wie wenn die gottlos-vermessene Rede sogleich bestraft werden solle, drehte sich in der Flurtür der Schlüssel im Schloss. Bleiche Angst: der Vater. Lothar spähte hinaus; sein stummes Zurückhuschen gab die Bestätigung. Therese bekreuzigte sich, Esther und Aimée versteckten sich hinterm Schrank. Lothar suchte einen Fluchtweg. Christine erschien mit verstörtem Gesicht.

Seine Heimkunft zu dieser Stunde war durchaus ungewöhnlich. Sein Wandel, sein Kommen, sein Gehen war von uhrenhafter Regelmässigkeit. Wie sich später erwies, hatte er in einem Vorort geschäftlich zu tun gehabt; da er aus Sparsamkeit auch weite Entfernungen zu Fuss zurückzulegen pflegte, war er müde geworden; der Rückweg führte ihn am Haus vorbei und er wollte eine halbe Stunde ausruhen.

Schon hörte man ihn dumpf grollen. Er hatte das Porzellan und den festlich gedeckten Tisch entdeckt. Josephe war es, die ihm Rede stehen musste. Auf einmal begann er mit ihr zu schreien; die Stimme überschlug sich; der Zorn machte sie schrill wie die eines Papageis. Josephe kam heraus und bewegte die Hände bittend gegen die Mutter.

Aller Augen hingen an Ulrike: jetzt, Anstifterin, steh uns bei. Und mit Erstaunen sahen sie Ulrike völlig gelassen. „Setzt euch um mich herum,“ sprach sie; „erst wollen wir uns einmal einschenken, umsonst wollen wir nicht gekocht haben. Nehmt nur die Tassen vom Anricht dort, wir brauchen sein feines Geschirr nicht, der Kaffee wird uns auch so schmecken, denn ich kann euch sagen, er ist ausgezeichnet. Setzt euch nur; jeder hat Platz, auch Sie, Frau Christine; setzen Sie sich zum Herd, da ists am wärmsten. Ich will euch nämlich was erzählen. Ich will euch die Anfänge von Ulrike Woytichs irdischer Laufbahn erzählen. Herr Mylius mag einstweilen drinnen wüten, das geniert uns nicht weiter, und wenn er uns sucht und zu uns kommt, mag er sich zu uns setzen; stören lassen wir uns nicht.“

Die Worte hatten eine solche Sicherheit, dass auf einmal niemand mehr Angst verspürte und sie nur in erregter Spannung warteten, was nun geschehen würde. Christine begab sich gehorsam auf die Bank beim Herd. Josephe liess sich an ihrer Seite nieder. Esther und Aimée setzten sich auf die zwei Stühle und lehnten die Köpfe aneinander. Lothar hüpfte auf die Kohlenkiste und baumelte befriedigt mit den Beinen. Therese stand stumm verwundert beim Fenster. Ulrike kauerte in der Mitte des Kreises auf dem Küchenschemel, eigentümlichen Spott in den Mienen, und strich bisweilen widerspenstige Haarsträhne von den Wangen, die die Herdfeuerhitze mit feuchter Purpurröte bedeckt hatte.

Jedes hielt die Kaffeetasse in der Hand, und immer, wenn sie einen Schluck getan hatten, lauschten sie gegen das Zimmer, aus welchem das Unheil brechen musste.

Ulrike Woytich

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