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ОглавлениеKAPITEL 2
Die Wiederverwertung unseres Erbes
Eine Einführung in die Pflanzenheilkunde und verwandte Themenbereiche
Pflanzen
In jedem Gesundheitssystem, ganz gleich ob im Westen, im Osten, im Altertum oder in moderner Zeit, dienen Pflanzen als Grundlage für Pillen, Salben oder Heiltränke. Die therapeutische Kraft der etablierten Medizin des Westens beruht auf Heilmitteln, die hergestellt werden nach dem Muster organischer Moleküle, die auf geniale Weise von der Pflanzenwelt erschaffen werden und uns mehr als reichlich zur Verfügung stehen. Aus diesen Molekülmodellen wurde ein ganzes Arsenal an chemisch-pharmazeutischen Arzneimitteln, beispielsweise Aspirin und Amphetamine, entwickelt.
Der Planet Erde bietet uns eine ungeheuer vielfältige Pflanzenapotheke, die uns nährt und für unser Wohlbefinden sorgen kann. Allerdings können uns Pflanzen noch viel mehr schenken als nur ihre heilkräftige Chemie. Sie bieten uns an, in Gemeinschaft mit ihnen zu leben und still zu staunen. Sie fühlen die gleichen Dinge, die auch wir fühlen; sie bringen Nachkommen zur Welt, sie verbreiten sich, sie leben in Familien und sie sterben. Kein Begleiter bringt mehr Schönheit hervor, schenkt uns bereitwilliger Nahrung oder lebt und stirbt anmutiger als eine Pflanze.
»Das Schweigen ist die Sprache der Blätter
und die der großen Lehrer …
Stilles, sinnliches Wunder,
die Blume spricht, die Biene hört.«
T. Elder Sachs
Pflanzenheilkunde
Menschen, die sich intuitiv am Füllhorn pflanzlicher Nahrungsmittel und Arzneipflanzen bedienen, haben über Jahrhunderte hinweg die unterschiedlichsten Gesundheitssysteme und Heilmethoden ersonnen. Traditionelle Systeme einer auf der Nutzung von Heilpflanzen basierenden Gesundheitsfürsorge, von denen einige auch in den Ländern der westlichen Welt ihren Ursprung haben, sind selbst außerhalb der etablierten Hauptrichtung des relativ geschlossenen und engen Systems der Medizin weiterhin gültig.
Pflanzenmedizin ist Volksmedizin. Es ist der älteste Zweig einer den ganzen Planeten umspannenden Medizin, die nicht zuletzt auch Tiere instinktiv nutzen. Die Pflanzenheilkunde ist das Eigentum und das Erbe aller Kulturen und aller Spezies auf diesem Planeten. Sie umfasst weit mehr als nur das Sammeln oder Ernten von Pflanzen und die Einnahme von Tees oder in Kapseln abgefüllten Heilpflanzenpräparaten, um Krankheitssymptomen entgegenzuwirken. In der Tat versorgt uns die Pflanzenwelt mit einer unbegrenzten Vielfalt an natürlich vorkommenden Heilmitteln. Genauso versorgt sie uns aber auch mit nahrhaften Lebensmitteln, mit ätherischen Ölen, die unsere Sinne ansprechen und darüber hinaus medizinisch wirksam sind, mit Schönheitsmitteln, mit köstlichen (und auch nicht so köstlichen) Kräutertees, mit Aphrodisiaka und mit einer naturbelassenen, wilden, friedvollen Umgebung, die zutiefst belebend wirkt.
Die moderne Pflanzenheilkunde fordert, dass wir uns der ökologischen Zusammenhänge, die durch unsere moderne Zivilisation oft missachtet werden, wieder bewusst werden und uns wieder in die Gemeinschaft unseres Planeten, der Erde, einfügen. Sie fordert von uns, dass wir uns voller Mitgefühl wieder mit allen Spezies, die uns auf dieser Erde begleiten, verbinden. Sie will, dass wir Verantwortung übernehmen – Verantwortung für unsere Lebensweise, für unsere Beziehungen und unsere Umgebung. Sie fordert uns auf, Pflanzen nicht nur als bloße materielle Lebens- und Heilmittel, sondern auch als Verbündete, als planetarische Verbindung, als lebenswichtige Teile der Gesamtheit unseres Lebens wahrzunehmen. Dann verspricht die Pflanzenheilkunde im Gegenzug anhaltende Gesundheit und schenkt uns Schönheit und nicht versiegende Fülle.
Der Heilpflanzenkundige
Heilpflanzenkundige waren wahrscheinlich die ersten Mediziner der Menschheit. Die innovative Arbeit der heutzutage mit Pflanzen arbeitenden Fachleute ist die kreative Spitze einer Bewegung, die bis zu den Anfängen unserer Spezies zurückreicht. Die Heilpflanzenkundigen von heute treten auf intime Art und Weise mit den Pflanzen in Kontakt und sind begeisterte Hüter der Pflanzenwelt. Erfahrene Heilpflanzenkundige wissen sich in andere Menschen einzufühlen, verabreichen ihnen Pflanzenheilmittel und bringen ihnen bei, welche heilsamen Wirkungen Pflanzen haben, wie man sie auf ökologisch verträgliche Weise und mit der angemessenen Ehrfurcht sammelt und wie man daraus pflanzliche Heilmittel und Tonika zubereitet. Heilpflanzenkundige lassen sich in jedem Heilberuf finden. Das Wichtigste ist jedoch, dass sie in vielen Familien anzutreffen sind und solche Familien immer zahlreicher werden.
Die Sichtweise einer Sprache: Die Sprache der Pflanzenheilkunde
»Sprache ist Kultur… ein unerlässliches Medium für menschliches Wissen.« Das hält Mario Pei in seinem Buch The Story of Language fest, in dem er darlegt, welche Macht unsere Sprache auf die Ereignisse in unserem Leben ausübt. Pei zeigt, wie viele unserer ganz alltäglichen Aktivitäten auf die gleiche Weise weitergeführt werden, wie das schon seit Jahrhunderten der Fall ist, und zwar mithilfe der gesprochenen, geschriebenen, durch Gesten vermittelten und symbolischen Sprache. »Sprache ist für die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Unternehmungen des Menschen ein alles durchdringender Vermittler, Interpret und Former«, fügt er hinzu. »Sprache geht in jede Form menschlicher Aktivität ein, beeinflusst diese und wird wiederum von jeder Form menschlicher Aktivität beeinflusst. Der faszinierendste und geheimnisvollste Bereich der Sprache ist ihre Verknüpfung mit den geistigen Prozessen sowohl der Einzelperson als auch der gesellschaftlichen Gruppe. Offensichtlich beeinflusst und verändert alles, was wir tun, denken und erschaffen, unsere Sprache. Nicht so offensichtlich ist vielleicht die Tatsache, dass Sprache im Gegenzug stark auf all unsere Handlungen und Gedanken einwirkt.«1 Meiner Meinung nach bringt Sprache sogar unsere Intuition hervor. Die Sprache, die jeder Einzelne verwendet, spiegelt die von ihm gewählten Methoden zur Erkundung seiner Umgebung und zur Ansammlung seines Wissens. Die Sprache eines Menschen definiert seine Konzepte vom Leben, von der Gesundheit und vom Universum und auch seine Vorstellungen von der Ursache und Heilung einer Krankheit. Ebenso verwendet die Sprache jeder Wissenschaft ihre ganz eigenen und besonderen Worte, um ihr spezifisches »Glaubenssystem«, ihre Entdeckungen, ihre Techniken und die von ihr angewandten Untersuchungsmethoden zu bezeichnen, sie zu veranschaulichen und zu vermitteln.
Welche wissenschaftliche Sprache eine bestimmte Person annimmt und verwendet, zeigt die Art von Beziehung, die diese Person zwischen sich und dem Universum akzeptiert hat. Daraus ergibt sich, dass die von diesem Individuum benutzte wissenschaftliche Sprache eine beträchtliche Kontrolle über dessen Selbstbild ausübt, seine alltäglichen Lebensvorgänge und seine Einsichten kontrolliert. Die Sprache kann einen starken Einfluss auf die Methoden haben, mit denen die Person zukünftig weiteres Wissen ansammelt, und letztlich auch auf die Qualität dieses angesammelten Wissens einwirken. Es ist also wichtig, dass wir bei der Auswahl der wissenschaftlichen Ausrichtung als Grundlage für eine spezielle Gesundheitsfürsorge oder Krankheitspflege aufmerksam sind, denn wir entscheiden uns damit auch für die Sprache und die gedanklichen Konzepte, die wir dann weiterverfolgen. Diese Entscheidung wird unsere Sicht auf Gesundheit und Krankheit und unser Verständnis davon auf einer tiefen Ebene beeinflussen.
Worte sind Auslöser bestimmter Vorstellungen. Sobald das Wort ausgesprochen – und der Auslöser somit betätigt wird –, leiten unsere Sinne das abstrakte Wortsymbol zu unserem Gehirn weiter, wo es in unserem Geist eine Vorstellung lebendig werden lässt. Diese Vorstellung wurde teils durch unsere direkten Erfahrungen, teils durch unsere kulturelle Prägung und unsere Konditionierung mit Bedeutungen belegt. Einige Worte betätigen mehrere Auslöser auf einmal und lassen dadurch nicht nur eine bestimmte Vorstellung, eine Idee, entstehen, sondern rufen auch noch emotionale und sogar körperliche Reaktionen hervor: Zum Beispiel die Worte »Finanzamt«, »Donald Trump«, »Schokolade«. Merken Sie, was ich meine?
Die Verwendung der Worte aus der Sprache der jeweiligen Gesundheitssysteme funktioniert auf die gleiche Weise, um Ideen und Vorstellungsbilder zu transportieren: »Chi«, »Sternguckerei«, »Vata«, »Konstitutionsmittel«. All diese Worte werden von weltweit verbreiteten Wissenschaften und Systemen der Gesundheitsfürsorge benutzt. Einige bedeuten dem westlichen Leser vielleicht etwas, andere nicht, doch diese Worte vermitteln grundlegende Konzepte, die in den Sprachen verschiedener Gesundheitswissenschaften von wichtiger Bedeutung sind. Andere Beispiele wären: »Krankheit«, »Keim«, »Antibiotika«, »Arzt«, »Medikament«. Sie entstammen unserer westlichen Sprache der Gesundheitsfürsorge und Krankheitspflege, sie werden sofort verstanden und lösen auch gleich eine Reaktion aus. Durch die in jüngerer Zeit herrschende Dominanz der etablierten Schulmedizin in unserer Kultur wurde ihnen eine besondere Bedeutung verliehen. Häufig fällt es uns schwer, uns von diesem aus Gesundheit, Krankheit und therapeutischen Maßnahmen bestehenden Prozess außerhalb dieser im Westen für die Gesundheitsfürsorge verwendeten Begriffe eine Vorstellung zu machen.
Die Worte »ganzheitlich« oder »holistisch« (die auf die gesamte Person verweisen, zu der Körper, Geist, Gefühle und Seele gehören) stehen für ein Konzept, das in unserer modernen Gesellschaft langsam mehr Bedeutung erlangt. Die Sprache von alternativen und das gegenwärtige Gesundheitssystem ergänzenden Systemen der Gesundheitsfürsorge dringt so in unser kulturelles Bewusstsein vor. Damit jemand eine alternative Gesundheitswissenschaft auf überzeugende Weise vermitteln und anwenden kann, ist es erforderlich, deren einzigartige Ideen unvoreingenommen zu untersuchen, den neuen Worten und Konzepten dieser anderen Sprache eine neue Bedeutung zu geben und oftmals vorübergehend vorgefasste Konzepte und Glaubensvorstellungen loszulassen – also sozusagen seine Tasse zu leeren, damit frischer Tee eingegossen werden kann.
Die Sprache der Pflanzenheilkunde vermittelt wie die vieler anderer Systeme der Gesundheitsfürsorge eine Wissenschaft des Lebens, des Übergangs und der dynamischen Unterstützung der dem Körper innewohnenden, zur Selbstheilung fähigen Lebenskraft. Wer es mit dem Erlernen der Verwendung von Arzneipflanzen für eine ganzheitliche Pflege der Gesundheit ernst meint, muss sich auf ein Glaubenssystem einlassen, das sich deutlich von dem unterscheidet, das der etablierten, allopathischen, medizinisch-pharmazeutischen Wissenschaft zugrunde liegt. Die Pflanzenheilkunde vermittelt eine alternative Sichtweise auf die zwischen uns selbst und unserer Umgebung bestehende Beziehung und legt uns einen anderen Umgang mit unseren inneren Ungleichgewichten nahe.
Aus der Perspektive einer ganzheitlichen Wissenschaft der Pflanzenheilkunde heraus betrachten wir das Ganze wie durch ein Weitwinkelobjektiv. Wir sehen dann das ungeheure Panorama eines individuellen Lebens; wir erkennen, dass es normalerweise bei einer Person mehr Richtiges (Gesundes) als Falsches gibt, und geben ihr einen Vertrauensvorschuss und die Verantwortung für ihre gegenwärtige Erfahrung. Wenn die aktuelle Erfahrung eines spezifischen Leidens für diese Person unangenehm oder selbstzerstörerisch ist, muss sie erst einmal das Richtige bei sich erkennen und fördern und danach Veränderungen in ihrem Lebensstil vornehmen, die das verändern, was nicht richtig ist. Zur Ergänzung dieser Veränderungen liefert die Pflanzenheilkunde Wirkungen von Pflanzenzubereitungen an, die in den Organsystemen des menschlichen Körpers wirkende Lebenskraft unterstützen und fördern. Auf diese Weise hilft sie dabei, die Ökologie im Inneren des Körpers wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Mechanismen der Selbstregulierung wiederherzustellen.
Mit dem Erlernen der therapeutischen Sprache und dem Erwerb der Fertigkeiten der Pflanzenheilkunde wird deutlich werden, wie wir diese an uns selbst anwenden oder für die Mitglieder unserer Familie nutzen können. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass eine ganzheitliche Pflanzenheilkunde Pflanzen nicht nur als Heilmittel im Sinne der organischen Chemie gebraucht, sondern auch als Verbündete, die uns aufbauen und uns dabei unterstützen, unsere Leiden zu transformieren und uns wieder mit unserer inneren und äußeren Umgebung zu verbinden. In diesem Buch werden wir unseren Blick auf die Verbesserung unserer Gesundheit und den Heilungsprozess richten und das mit den Augen und der Sichtweise einer Sprache tun, die sich von der für uns gewohnten Sprache der Wissenschaft einer allopathischen Medizin deutlich unterscheidet.
Die Sprache der Pflanzenheilkunde ist vor allem eine Sprache des Tuns, weniger eine Sprache, die erklärt, wie Heilmittel »funktionieren«. Die Pflanzenheilkunde spricht von den Wirkungen ganzer Pflanzen auf die verschiedenen Organsysteme des menschlichen Körpers. In diesen Wirkungen zeigen sich beispielsweise entzündungshemmende, harntreibende, zusammenziehende, bittere, windtreibende, schleimlösende, adaptogene und stärkende Eigenschaften. Die Sprache der Pflanzenheilkunde macht uns unabhängig und bietet uns einfache Werkzeuge und Techniken, die das eigene Leben und die Gesundheit verbessern. Die Sprache der Pflanzenheilkunde kennt auch das Nichtstun, wenn einfach Ruhehalten der notwendige Faktor ist, der es dem Körper erlaubt, sich um sich selbst zu kümmern. Ruhe und ein von Mitgefühl getragenes kontemplatives Nachsinnen über sich selbst, verbunden mit der Aufnahme von genügend Wasser und ohne weitere Interventionen von außen, kann im normalen menschlichen Körper zu neunzig Prozent der Fälle eine Selbstheilung bewirken. Andernfalls gebietet es die Pflanzenheilkunde, aktiv zu werden, die entsprechenden Heilpflanzen zu sammeln und die benötigten Heilmittel herzustellen. Dazu werden Aufgüsse, Tinkturen, medizinisch heilkräftige Weine, Einreibemittel und Wickel angefertigt, und es wird zugleich ein Anstoß zum Erleben des eigenen Prozesses der Gesundung gegeben.
Häufig weist uns die ganzheitliche Pflanzenheilkunde auch auf eine andere passende, der Gesundheit förderliche Spielart einer Heilkunst hin, durch die sich Einsichten gewinnen lassen können und deren Wissensschatz, deren Sprache und Fertigkeiten uns unterstützen können. Es gibt eine ausgesprochen vielfältige Gemeinschaft an Heilkundigen, die uns zur ganzheitlichen Unterstützung eine Vielzahl an Ansätzen, Verfahren, Fähigkeiten und Einblicken auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge anbietet. Dazu gehören zum Beispiel Homöopathie, Schamanismus, Naturheilkunde, Ernährungsberatung, Yoga, Massage, psychosoziale Beratung, Chiropraktik, Meditation oder Handauflegen. Es kommt relativ selten vor, dass ein Körper tatsächlich einen dramatischen Eingriff von außen braucht. Ist das aber erforderlich, dann setzen wir auch auf die Wissenschaft und Technik der allopathischen Medizin. Alles wirkt zusammen, wenn es genau auf die einmaligen und veränderlichen Bedürfnisse der Einzelperson zugeschnitten wird.
Wenn eine Pflanze nicht länger eine Pflanze ist
Die Pharmakologie ist der Wissenschaftszweig der Arzneimittellehre. Sie beinhaltet die Lehre von Bestandteilen und Inhaltsstoffen von Arzneimitteln, ihre Verwendungsweisen, ihre Wirkungen und die mit ihnen zu behandelnden Krankheiten. Die Sprache der heute überwiegend reduktionistischen Pharmakologie und die Sprache der Pflanzenheilkunde artikulieren zwei völlig verschiedene Herangehensweisen. Diese beiden Wissenschaften bringen unterschiedliche Perspektiven und scheinbar unvereinbare Vorstellungen vom menschlichen Körper, von der Chemie der Pflanzen und der therapeutischen Beziehung zwischen beiden zum Ausdruck. Die eine Wissenschaft klammert die natürliche Organisation der kombinierten Bestandteile der Pflanze aus und studiert eine isolierte Einheit (vor allem den sogenannten Wirkstoff) der gesamten Pflanze, um deren pharmakologische Wirkungen auf den menschlichen Körper zu bestimmen. Die andere Wissenschaft tendiert dazu, die Beschaffenheit und die Energetik einer Pflanze als Ganzes wahrzunehmen und zu erforschen, wie sich ihre einzigartigen Wirkungen therapeutisch nutzen lassen.
Ich wähle an dieser Stelle als Beispiel die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum), um an ihr modellhaft aufzuzeigen, welche Überlegungen hinter den oft weit auseinanderklaffenden Schlussfolgerungen stehen, zu denen die beiden genannten Wissenschaften kommen. Dadurch soll der grundsätzliche Unterschied zwischen der Art und Weise verdeutlicht werden, wie Pharmakologie und Heilpflanzenkunde die therapeutischen Wirkungen von Pflanzen verstehen und anwenden.
Während man die grüne Außenschale der Kastanie bekanntermaßen nicht essen sollte, da dies zu Benommenheit und Magenbeschwerden führen kann, ist die Frucht der Rosskastanie, die Kastanie selbst, eine sichere und sanft wirkende Heilpflanze, die schon seit jeher als Mittel zur Linderung von Entzündungen und zur Verbesserung des Gewebetonus der Blutgefäße und zu deren Stärkung angewendet wurde, insbesondere für die Venen. Das liegt daran, dass die Rosskastanie eine Pflanze ist, die eine sehr spezifische und einmalige Kombination aus biochemischen Inhaltsstoffen aufweist, die durch die spezielle Art und Weise ihrer Organisation eine starke Affinität zum menschlichen Kreislaufsystem hat. Hauptsächlich hat die Rosskastanie eine zusammenziehende, stärkende und nährende Wirkung auf das Kreislaufsystem. Folglich ist die Rosskastanie auch der wichtigste Bestandteil in Rezepturen zur Behandlung von Krampfadern, Hämorrhoiden und Ähnlichem. Sie wird traditionell innerlich als Aufguss oder Tinktur angewendet; bei der äußerlichen Anwendung wird sie häufig mit Beinwell und einem Destillat der Zaubernuss kombiniert und dann als Kompresse oder Lotion verwendet. (Die innere Rinde des Baumes findet Verwendung als Tonikum und zur Senkung von Fieber.)
Aus der Perspektive und mit der Sprache einer reduktionistischen Wissenschaft nehmen Pharmakologen diese Pflanze ganz anders wahr. Sie neigen zu der Auffassung (wenn sie der ganzen Pflanze überhaupt irgendeine Heilwirkung zuschreiben), dass die pharmakologische Wirkung der Rosskastanie einfach von deren Gehalt an Tannin, Flavon und Saponin herrührt. Die Pharmakologie des Westens nimmt diese Inhaltsstoffe als »Wirkstoffe« wahr. Pharmakologen glauben, dass sich diese »wirksamen« Inhaltsstoffe aus dem Konglomerat der ganzen Pflanze isolieren lassen, die anderen Bestandteile der Pflanze werden als überflüssig und wirkungslos definiert. Pharmakologen nehmen an, dass sich die »wirksamen« Pflanzenbestandteile als molekulare Vorlage verwenden lassen und im Labor synthetisiert, also künstlich hergestellt werden können. Die daraus resultierenden isolierten synthetischen molekularen Formen gelten bei ihnen sogar als noch zuverlässigere Substanzen, die sich mit größerer Präzision verabreichen lassen und deren Nebenwirkungen ausgeschaltet werden können. (Um diese Behauptung zu bewerten, möge man die Rote Liste für Arzneimittel durchblättern und die endlose Auflistung der Nebenwirkungen praktisch aller pharmazeutischen Heilmittel auf sich wirken lassen.)
Pharmakologen beziehen sich einzig und allein auf diese abgesonderten »wirksamen« Bestandteile und warnen dann – vor allem auf der Grundlage von Laborstudien an Tieren zu den Wirkungen dieser isolierten Inhaltsstoffe – vor der Verwendung der Kastanie. Sie weisen darauf hin, dass sich bei Laborforschungen zu Saponinen (einem der in der Kastanie identifizierten Inhaltsstoffe) Hinweise darauf ergaben, dass diese eine Hämolyse hervorrufen können. (Wenn Saponin direkt in die Blutbahn gegeben wird, wirkt es wie Seife. Es verringert die Oberflächenspannung, und dadurch können die roten Blutkörperchen im Blutplasma platzen, wobei ihr Hämoglobin freigesetzt wird. Bestimmte Schlangengifte enthalten Saponine, dieses Zerplatzen der Blutzellen macht die tödliche Wirkung von manchen dieser Gifte aus.)
Die Saponine (Aescin und Aesculin) als Bestandteile des organischen Ganzen der Kastanie sind obendrein recht schwache Saponine. Bei empirischen Untersuchungen im wissenschaftlichen Rahmen der Pflanzenheilkunde und auf der Grundlage umfangreicher empirischer Erfahrungen kam man immer wieder zu dem Ergebnis, dass Saponine bei oraler Einnahme völlig sicher sind. Im wirklichen Leben verursachen Saponine nur dann eine Hämolyse, wenn sie mit einer entsprechenden Vorrichtung direkt in die Blutbahn injiziert werden, wie es durch Kanülen oder Giftzähne von Schlangen erfolgen kann. Der Mensch wandelt beim Verdauungsprozess diese Saponine recht effektiv in Rohmaterialien um, die der Körper als Bausteine für Reparaturen und zum Ausbalancieren von Strukturen erfolgreich einsetzen kann.
Den Pharmakologen zufolge enthalten auch Arzneipflanzen, die häufig als natürliche Geschmacksstoffe Verwendung finden, beispielsweise Süßholz und Sarsaparille, Saponine, ebenso Ginseng und Wilde Yamswurzel. Die chemische Struktur von Saponinen, die als Hormonvorstufen gelten (also als Rohmaterial, das der Körper zur Bildung von Hormonen benutzen kann) und in der Wilden Yamswurzel vorkommen, sind die pflanzliche Vorlage, die die pharmazeutische Industrie ursprünglich verwendete, um die Antibabypille zu kreieren. (Wegen des übermäßigen, kommerziellen Sammelns der Wilden Yamswurzel hat man später stattdessen Sojabohnen, Agaven und andere Pflanzen verwendet.) Vitamin A, das in Karotten und anderen Nahrungsmitteln vorkommt, ist giftig für die Leber, wenn es isoliert und dann gegessen wird. Bestimmte Inhaltsstoffe von Kartoffeln und Tomaten sind ebenfalls giftig, wenn man sie aus den Knollen und Früchten isoliert. Wie die meisten von uns aber empirisch, also durch eigene Erfahrung herausgefunden haben, schaden sie uns nicht, wenn wir sie als komplette Nahrungsmittel in ihrer ursprünglichen, »organisierten« Form essen.
Heilpflanzenkundige glauben, dass die meisten in einer synergistischen Matrix der ganzen Pflanze organisierten Pflanzenbestandteile sicher und wirksam sind und auch wegen der ihnen von Natur aus eigenen biochemischen Verträglichkeit weniger unvorhersehbare Nebenwirkungen aufweisen. Die scheinbar »wirkungslosen« Inhaltsstoffe von Heilpflanzen und Gemüse sind wesentliche Ballaststoffe und Substanzen mit ausgleichender oder dämpfender Wirkung und für den gesamten Körper bedeutsam. Heilpflanzenkundige glauben auch und haben es selbst immer wieder miterlebt, dass ein ganz neuer Schauplatz von grundsätzlich unvorhersehbaren Nebenwirkungen eröffnet wird, wenn wirksame chemische Substanzen in konzentrierter, isolierter Form verabreicht werden.
Wenn wir die voneinander getrennten und isolierten Pflanzenbestandteile einsetzen und die natürliche Organisation der Pflanzen stören, bekommen wir häufig Probleme. Heilpflanzenkundige auf der ganzen Welt wissen, was aus ganzen Pflanzen hergestellte Heilmittel bewirken können und wie sie am besten benutzt werden; sie verfügen über langjährige Erfahrungen, auch wenn sie nicht immer genau sagen können, wie Pflanzen »funktionieren«. Die Methode, einzelne Inhaltsstoffe von Pflanzen zu isolieren, ihnen Namen zu geben und sie zu kategorisieren, gibt einem Heilpflanzenkundigen zusätzliche Informationen an die Hand, die seinen Wissensschatz und seine Erfahrungen mit therapeutischen Vorgehensweisen erweitern.
Rosskastanie (Aesculus hippocastanum), Blatt und Blütenknospe
Eine reduktionistische Wissenschaft arbeitet unermüdlich daran, die therapeutischen Wirkungen von Pflanzen zu erklären und mit synthetischen Stoffen zu reproduzieren. Sicherlich wird unser größeres Wissen über die Art und Weise der Wirkungen von Pflanzen und deren Ursachen auch die Fähigkeiten, die Intuition und die Effektivität der Klinikärzte verbessern. Allerdings hat in der Welt der Heilkünste auch das Mysterium einen Wert an sich. Das Mysterium macht weiter einen Großteil menschlicher Erfahrung aus. So wie der Flug der Hummel und der Libelle Luftfahrtexperten immer wieder verblüfft, so bringen häufig auch die synergistischen, therapeutischen Wirkungen der ganzen, naturbelassenen Pflanzen die rationalen Prinzipien der Pharmakologie und der allopathischen Pharmazie ganz schön durcheinander.
Die Pflanzenheilkunde und die etablierte Medizin
Ich habe tiefen Respekt vor den allopathischen, pharmazeutischen Medikamenten und bin aufrichtig dankbar, wenn sie auf die richtige Weise und mit der entsprechenden Vorsicht angewendet werden. Es sind sehr stark wirkende Heilmittel. Die moderne medizinische Chemie hat zu wundervollen Ergebnissen geführt, die besonders bei Kriseninterventionen, Katastrophen und notwendigen Operationen in hervorragender Weise zum Tragen kommen. Zweifellos hat die Wirkung pharmazeutischer Medikamente bei schweren Infektionen, massiven Verletzungen und lebensbedrohlichen Zuständen wie einem Herzversagen oder einer Lungenentzündung Menschenleben gerettet. Die allopathische Medizin kann sogar bestimmte chronische Leiden lindern.
Meiner Meinung nach werden die pharmazeutischen Arzneimittel allerdings häufig in unangemessener Weise verwendet. Ihre Wirkung ist viel zu spezifisch und viel zu stark für die meisten geringfügigen Beschwerden wie Erkältungen, grippale Infekte oder häufige Kinderkrankheiten. Das Gleiche gilt für chronische Leiden wie permanente Verdauungsstörungen, Verschleimungen und Verstopfungen im Bereich der Lunge, Kreislaufschwäche, Arthritis, häufige Nervenleiden oder Probleme mit dem Urogenitalsystem. Da chemischen Medikamenten jegliche Nährstoffe fehlen, eignen sie sich auch nicht für eine längere, vorbeugende gesundheitliche Einnahme. Die aggressiven Wirkungen der allopathischen Arzneimittel umgehen die normalerweise voll ausreichenden Abwehrmechanismen des Körpers, und die starken Nebenwirkungen können die dem Körper innewohnende Fähigkeit, sich selbst auf die richtige Art und Weise zu heilen, einschränken. Das hat zur Folge, dass der gesamte Zyklus an Aktivitäten, mit denen der Körper spontan seine natürliche Abwehrstrategie entfaltet, unterbrochen und gestört wird. Die normalen körperlichen Abwehrmechanismen werden bei häufiger Einnahme der Medikamente dauerhaft unterbunden und bleiben oft in einem Zustand der Trägheit zurück. Was ursprünglich eine akut auftretende Krankheit war, kann so erneut auftreten und zu einem chronischen Leiden werden. Ein effizienteres oder als Ergänzung gedachtes Heilmittel würde die Organsysteme des Körpers mit seinen Nährstoffen unterstützen und dem Körper die passenden organischen Stoffe zur Verfügung stellen, mit denen dieser seinen normalen Prozess einer Selbstheilung vollziehen kann.
Pflanzen und der menschliche Körper
Der menschliche Körper ist seit Langem biologisch mit Nahrungsmitteln und Heilmitteln vertraut, die aus der ganzen Pflanze bestehen, und auch von seinem Stoffwechsel her auf diese eingestellt. Der Körper verwendet solche Pflanzenbestandteile entweder als Nährstoffe und Baumaterial oder scheidet sie aktiv wieder aus. Dieser vorhersehbare und von verschiedenen Organen des Körpers vollzogene Vorgang der Ausscheidung ermöglicht es dem Menschen auch, die Wirkungen einzelner Pflanzen medizinisch zu nutzen. Harntreibende Pflanzen enthalten Stoffe, die dafür bekannt sind, von den Nieren schnell ausgeschieden zu werden; sie regen die Produktion von Harn an. Schweißtreibende Inhaltsstoffe werden durch die Haut ausgeschieden und regen den Schweißfluss und die Talgbildung an. Einige leberstärkende Pflanzen werden über die Leber ausgeschieden, haben eine stimulierende Wirkung auf die Leberfunktionen und verstärken auch den Gallefluss (siehe auch die Hinweise auf die Wirkungen einzelner Heilpflanzen in den Folgekapiteln).
Pflanzen sind aber keine Munitionsarsenale für Wundermittel. Die wie mit einem Tunnelblick erfolgende Verwendung von isolierten »Wirkstoffen« einer Pflanze einschließlich der Einnahme von isolierten Vitaminen, Mineralstoffen und Aminosäuren bewirkt einfach nicht das Gleiche wie die Nutzung der Komplexität der ganzen Pflanze. Albert Szent-Györgyi, Professor der Medizin und Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin, sagt dazu Folgendes: »Organisation bedeutet, dass, wenn die Natur zwei Dinge auf sinnvolle Weise zusammenfügt, etwas Neues hervorgebracht wird, das nicht mehr mit den Begriffen der Eigenschaften seiner Bestandteile beschrieben werden kann. Das trifft für das gesamte Spektrum von Komplexität zu, das von den Atomkernen und Elektronen bis zu den Makromolekülen eines komplexen Individuums reicht. Die Natur addiert nicht. Wenn das so ist, dann ist aber auch das Gegenteil wahr. Wenn ich zwei Dinge voneinander trenne, werfe ich dabei das weg, was die Essenz, das Wesentliche dieses Systems, dieses Grades an Organisation, ausgemacht hat.« Die reduktionistische Wissenschaft der Medizin und die Therapie mit chemischen Arzneimitteln basieren darauf, dass bisher nur einzelne und aus ihrem Organisationszusammenhang entfernte Stücke von Pflanzen studiert und experimentell untersucht wurden. Es existiert jedoch ein riesiger Schatz an Erfahrungswissen darüber, wie diese Teile auf den menschlichen Körper einwirken, wenn sie sich in ihrer natürlichen Organisationsform innerhalb einer ganzen Pflanze befinden.
Ungiftige und naturbelassene Heilpflanzen, wie sie traditionell von Heilpflanzenkundigen verwendet werden, bestehen aus einer komplexen und ausgeklügelten Biochemie organisierter Substanzen, zu denen der menschliche Körper eine seit Langem bestehende biochemische Vertrautheit entwickelt hat. So benötigt der Körper des Menschen kontinuierlich von außen zugeführte Mineralstoffe. Diese müssen aus lebenden oder zumindest vorher lebendigen Zellen bezogen werden, also entweder aus Pflanzenzellen oder aus den Zellen eines Tieres, das kurz zuvor die Pflanze gefressen hat. Pflanzen besitzen die einzigartige Fähigkeit, mineralische Substanzen aus dem Boden aufzunehmen und sie auf eine Weise umzuwandeln, dass die Zellen und Organsysteme des menschlichen Körpers sie bei der Verdauung verwerten können. Die Evolution der Pflanzen erfolgte gemeinsam mit jener der Menschen, und Pflanzen enthalten diese nährenden Substanzen teilweise in derselben Zusammensetzung, wie die im Körper des Menschen vorhandenen sie aufweisen. Diese Verträglichkeit erlaubt die direkte Assimilierung oder Ausscheidung dieser pflanzlichen Substanzen im Verdauungsprozess.
Keine anderen mir bekannten chemischen Prozesse können die bemerkenswert hoch entwickelten Prozesse der organischen Chemie ersetzen, die in einer lebenden Pflanze und in lebendigen Tierzellen ablaufen. Die Wirkung der Chemie der ganzen Pflanze in den Organsystemen des menschlichen Körpers ist im Allgemeinen recht gut vorhersagbar, da sie seit Jahrtausenden von Menschen genutzt und beobachtet wird. Die alten Mediziner haben die Anwendungsgebiete und die Kontraindikationen von aus ganzen Pflanzen bestehenden Nahrungsmitteln und Pflanzenheilmitteln gut dokumentiert und wiederholt nachgewiesen. Vorausgesetzt, dass die verwendeten Heilpflanzen von guter Qualität sind, auf die richtige Weise gesammelt oder geerntet werden, gut zubereitet und zusammengestellt sind und mit Wissen und Einfühlung dem Zustand einer Person angemessen verschrieben werden, sind die Wirkungen einer Heilpflanze zu neunzig Prozent vorhersehbar. Erfahrene Heilpflanzenkundige wissen, was die einzeln oder in einer Rezeptur eingesetzten ganzen Pflanzen bewirken können und was sie nicht leisten. Dies ist unser Erbe und die Kunst und die Wissenschaft, die wir lehren. (Die zehn Prozent Abweichung kommen vor allem durch Faktoren in der Lebensweise der betreffenden Person zustande, die den Wirkungen der Heilpflanze entgegenstehen. So kann man nicht erwarten, dass eine lungenstärkende Heilpflanze bei regelmäßigem Tabakkonsum die gleiche kräftigende Wirkung auf die Lunge entfaltet wie bei einer nicht mit Teer belasteten Lunge.)
Ganzheitlichkeit und die Verwendung von Heilpflanzen
Heilpflanzen können bei ganz banalen Beschwerden lindernd wirken, beispielsweise wenn wir sie als pflanzliches Abführmittel bei Verstopfung einsetzen, als Beruhigungsmittel für die Nerven bei Nervosität oder wegen ihrer windtreibenden Eigenschaften gegen Blähungen. Die Verwendung von Heilpflanzen zur Abschwächung von Symptomen greift nicht in den normalen Heilungsprozess des Körpers ein und hinterlässt auch keine Giftstoffe, die dann im Körper verbleiben. Gleichzeitig können wir mit einer aus Heilpflanzen zusammengestellten Rezeptur daran arbeiten, die zugrundeliegende(n) Ursache(n) von immer wieder auftretenden Symptomen zu beseitigen, um uns auf Dauer von diesen Symptomen zu befreien. Solch eine Rezeptur lässt sich leicht zusammenstellen.
Wir sollten dabei jedoch im Hinterkopf haben, dass nicht alles auf jeden Körper auf die gleiche Weise wirkt, denn jeder Mensch wird von vielen Einzelfaktoren geprägt. Die Lebensweise, die Umgebung, die Ernährung, der Sex, Gewohnheiten, das Alter und Ähnliches wirken auf das Gesamtbild ein, in dem die Einnahme einer Heilpflanze nur ein Einzelfaktor ist, der in der Gesamtkombination therapeutisch wirksam ist. Weißdornbeeren beispielsweise, die für Heilpflanzenkundige das wirksamste Tonikum für die Herzkranzgefäße und allgemein für das Herz und die Blutgefäße sind, können niemals regelmäßige und im angemessenen Maß betriebene Bewegung ersetzen; auch wird ein pflanzliches Stärkungsmittel für die Nebennieren nie das für das endokrine Drüsensystem tun, was beispielsweise jener kreative Schwung bewerkstelligen kann, der durch eine endlich erfolgte Kündigung eines Depressionen hervorrufenden eintönigen Jobs hervorgerufen wird.
Ganzheitlich ausgerichtete Heilpflanzenkundige nehmen Menschen als komplexe, körperliche, geistige, emotionale und spirituelle Wesen wahr, die in einem Wechselgeflecht an ökologischen Beziehungen mit allem Leben verwoben sind und die angeborene Kraft besitzen, Krankheiten zu verhindern und Leiden zu heilen. Diese Art von Pflanzenheilkunde entwickelt ihre therapeutischen Maßnahmen auf der Grundlage der Arbeit mit der einzelnen Person, die im Kontext dieser Ganzheit steht. Der ganzheitliche Ansatz geht systematisch, sozial, gesellschaftlich und ökologisch an die individuelle Person heran und zielt nicht bloß darauf ab, zur Linderung von Beschwerden ein bestimmtes Symptom zu entfernen. Dafür Pflanzenheilmittel einzusetzen, ist ein bedeutsamer Teil dieser ganzheitlichen Therapie, doch keinesfalls alles.
Abbild der Leber, von den Sehern der Etrusker zur Organschau verwendet.
Um bei einem bestimmten Menschen die Erfahrung seiner eigenen Gesundheit wieder lebendig werden zu lassen, wird die Rezeptur für seine Behandlung zweifellos einmalig sein. In diesem Buch ist es leider nicht möglich, auf die spezifischen Bedürfnisse einzelner Personen einzugehen. Allerdings werden die Konzepte erläutert, die hinter den ganzheitlichen therapeutischen Maßnahmen stehen, was grundsätzliche Hinweise gibt, und es werden Vorschläge für Pflanzenrezepturen gemacht, mit denen man bei bestimmten Symptomen für Erleichterung sorgen und der von Natur aus gegebenen Gesundheit wieder Schwung verleihen kann. Wenn man die Informationen nutzt, die die Wirkungen einzelner Heilpflanzen erklären, wird man in die Lage versetzt, eine eigene Rezeptur zusammenzustellen oder auf der Grundlage der eigenen Erkenntnisse einer bestehenden Rezeptur noch Heilpflanzen hinzuzufügen. Das wird die entstehende Mischung so verändern, dass sie den Bedürfnissen der betreffenden Person noch besser entspricht.
An dieser Stelle möchte ich warnend darauf hinweisen, dass bei dem Studium der Pflanzenheilkunde die Wissenschaft von den ganzheitlichen heilpflanzlichen vorbeugenden und therapeutischen Maßnahmen etwas ganz anderes ist als das, was die Sprache der heutigen massenhaften Vermarktung pflanzlicher Produkte uns glauben macht. Bevor jemand kommerziell vertriebene aus Heilpflanzen bestehende Produkte kauft, sollte er lernen, wie man Heilpflanzen ganzheitlich verwendet und wie man Heilpflanzen von guter Qualität erkennen kann (siehe dazu die Ausführungen des sechsten Kapitels über die Qualität von Heilpflanzen). Dann wird man auch nicht enttäuscht. Man sollte nicht alles glauben, was auf den verführerischen Verpackungen von kommerziellen Unternehmen in höchsten Tönen angepriesen wird. Dies gilt besonders dann, wenn schnelle Heilung und geheimnisvolle Allheilmittel angepriesen werden. Heilpflanzen, die auf der Basis eigener Erkenntnisse und eigenen Wissens Verwendung finden, unterstützen, fördern, inspirieren, stärken, nähren und beruhigen. Doch die Person selbst ist es, die die komplette Heilung vollbringt. Das geeignete Maß an Zeit dafür aufzuwenden, ist dabei ein wichtiger, ganzheitlicher und hilfreicher Faktor.
Auf zwei ganz einfache »Heilmittel« sei hier vorab noch hingewiesen: genügend klares Wasser und die Bedeutung des Humors. Wir sollten viel mehr Wasser trinken (es sollte Zimmertemperatur haben oder etwas wärmer sein), als wir das gewöhnlich tun. Wenn neunzig Prozent der unserem Körper zugeführten Flüssigkeit aus Wasser besteht, kann jede Körperfunktion auf bestmögliche und effektive Weise ablaufen. Und wie wir alle wissen, ist Lachen unsere beste Medizin. Lachen lindert Schmerzen, Wut und Trauer, feiert die Gesundheit und lässt Heilung beginnen.
Unsere Begleiter, die Tiere, und aktuelle Forschungen zu Heilpflanzen
Die Diskussion innerhalb der Gemeinschaft von Heilpflanzenkundigen über unsere Beziehung zu Pflanzen und Tieren und unsere Haltung zu Tierversuchen im Rahmen der Erforschung von Heilpflanzen ist schon seit Jahren ein Thema. Einige Heilpflanzenkundige sehen im Bestreben, Heilpflanzen als Heilmittel zu legitimieren, Tierversuche als Beweise dafür als wertvoll an. (Wohlgemerkt wollen sie damit die Glaubwürdigkeit der Pflanzenheilkunde für die etablierte Wissenschaft einer Auffassung von Medizin erhöhen, die sich um Krankheiten kümmert.) Wahrscheinlich ist es richtig, wenn wir versuchen wollen, die etablierte medizinische Wissenschaft von der Gültigkeit einer Pflanzenheilkunde zu überzeugen, dass wir dann auch die Sprache dieser medizinischen Wissenschaft verwenden. Jene medizinisch-pharmazeutische Wissenschaft hat sich darauf festgelegt, das aus Tierversuchen stammende Datenmaterial als die Hauptreferenz für Glaubwürdigkeit und Legitimität anzusehen.
Die empirisch bestätigende und die allgemeine Praxis der traditionellen Wissenschaft der Pflanzenheilkunde lässt sich aber nicht unbedingt auf Daten zurückführen, die durch Tierversuche und Vivisektion gewonnen wurden. Das wurde auch gar nicht erst versucht. Viele Heilpflanzenkundige haben auch nicht das Gefühl, sie müssten der etablierten Medizin die Gültigkeit ihrer Wissenschaft erklären – besonders dann nicht, wenn es dafür notwendig ist, Tieren Schaden zuzufügen. Es ist vielmehr ihr aufrichtiger Wunsch, in einer symbiotischen Beziehung zur etablierten Medizin und neben ihr tätig zu sein, und dies in einer verantwortlich handelnden und Mitgefühl zeigenden Gemeinschaft, die sich um Gesundheitsfürsorge kümmert. Irgendeine Art von Legitimität nach den Regeln anderer nachzuweisen, soll nicht durch den Verlust unserer Autonomie und zum Schaden unserer Ethik erkauft werden!
Mit genauso großer Sorge erfüllen mich die äußerst fragwürdigen Schlussfolgerungen, die die wissenschaftliche Forschung auf der Grundlage vager und aus Tierversuchen erhobener Daten zieht. Die einzigen verlässlichen Informationen, die uns Tierversuche immer wieder übereinstimmend liefern, besagen, dass sich Tiere nur als unzulänglicher Ersatz für eine Forschung am Menschen erwiesen haben. Die Testwerte variieren je nach der jeweiligen Tierart stark und tun dies sogar innerhalb der gleichen Spezies bei unterschiedlichen Belastungen sowie bei verschiedenen Geschlechtern, Altersgruppen und Temperamenten. Verlassen wir uns auf Daten, die aus Tierversuchen stammen, gehen wir ein nicht hinnehmbar hohes Risiko für die menschliche Gesundheit ein. Zu oft führen solche Daten in die Irre oder geben falsche Versprechungen, die dann Menschen beträchtlichen Schaden zufügen.
Nach allen Tierversuchen sind es letztlich immer Menschen, die als Versuchskaninchen herhalten müssen. Nur nachdem eine Substanz jahrelang an lebenden Menschen (in vivo) getestet und klinisch beobachtet worden ist, kann jemand wirklich ihren tatsächlichen Wert (und ihre Nebenwirkungen) für eine Verwendung zur Aufrechterhaltung der Gesundheit beim Menschen bestimmen. (Die traditionelle Pflanzenheilkunde hat das bereits getan.) Die Techniken für zuverlässige Alternativen zu Tierversuchen stehen uns zur Verfügung. Die Finanzierung entsprechender Organisationen und Präzedenzfälle – durch öffentlichen Druck eingefordert und unterstützt – müssen bei diesem Thema zu einer Neuausrichtung führen. Forscher muss man dafür begeistern, ihre Gewohnheiten zu ändern.
Die Vivisektion ist eine sehr junge und radikale Experimentiertechnik, die durch die Arbeit von Louis Pasteur eingeführt und als »wissenschaftliches« Verfahren populär wurde. Ich bin der Auffassung, dass Tierversuche eine arrogante und irreführende Vorgehensweise darstellen, die hoffentlich endlich bald ein Ende haben wird. Inhaltsstoffe von Pflanzen oder irgendeine andere Substanz an nichtmenschlichem Tiergewebe zu testen, kann einem Forscher bestenfalls Andeutungen dafür liefern, in welche Richtung und in welchem Ausmaß die pharmakologische Wirkung einen Einfluss auf das menschliche Gewebe ausübt. Heutzutage gibt es zuverlässigere Alternativen zu Tierversuchen, die sich sofort anwenden lassen und ebenfalls die gewünschten Informationen liefern und zugleich die Erfordernisse der Ethik im Bereich der Forschung erfüllen.
Grizzlybären waren die ersten Tiere, denen meine Liebe galt. Und der drohende Verlust ihrer Anwesenheit auf diesem Planeten besorgt mich zutiefst. Die Angst und das Leiden, das mir durch die flehenden Augen der Opfer von Tierversuchen entgegenschreit, schmerzt mein Herz allerdings noch tiefer. Eine größere Freundlichkeit uns selbst und allen Spezies gegenüber und eine intelligente Fürsorge für unsere Umwelt sowie ihre intelligente Nutzung wird sich als die beste Medizin für den Menschen erweisen. Ich bin nicht der einzige, der so empfindet. Mahatma Gandhi brachte einmal ganz ähnliche Gefühle zum Ausdruck, als er sagte: »Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt.« Achten wir gut auf unsere Begleiter, die Tiere; selbst das ist schon Medizin.
1 Mario Pei: The Story of Language, New York: Plume 1984, S. 201