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Bevor ich den Speisesaal betrat, atmete ich einmal tief durch und versuchte, mein aufgewühltes Inneres etwas zu beruhigen. Dann erst öffnete ich die Tür und trat ein.

Bei dem Speisesaal handelte es sich um eine hohe Halle mit holzvertäfelten Wänden. Fenster gab es nur im oberen Drittel der Wände und sie waren nicht größer als Schießscharten. Schmale Lichtbalken fielen durch die Fenster schräg in die Halle und warfen eckige Lichtinseln auf die düstere Wandvertäfelung und auf den langen, wuchtigen Eichentisch, der in der Mitte der Halle stand.

Am Ende der riesigen Tafel waren zwei Gedecke aufgetischt. John, der auf einem thronartigen Stuhl saß, sah unwillig von seiner Morgenzeitung auf.

»Warum kommst du erst jetzt, Schatz?«

Seine Stimme hallte kalt und unheimlich in dem Speisesaal wider. John trug einen eleganten Anzug, der maßgeschneidert und bestimmt sehr teuer gewesen war. Mit seinem gepflegten graumelierten Haar und dem hageren Gesicht sah er sehr weltmännisch und aristokratisch aus. Doch seine Gesichtszüge waren auch hart und in seinen grauen Augen blitzte es kalt. Auf mich machte John den Eindruck eines berechnenden, egoistischen Burschen, vor dem man sich in acht nehmen musste.

»Ich... ich musste mich erst ein wenig orientieren«, entschuldigte ich mich. Ich hatte beschlossen, John nichts über den Jungen auf der Burgmauer zu erzählen.

John musterte mich von oben bis unten, während ich an der Tafel vorbei direkt auf ihn zuging. Sofort wurde mir wieder unbehaglich zumute.

Johns Blick war stechend und sezierend zugleich. Ich war froh, den beigefarbenen Hosenanzug gewählt zu haben, der mir ein schlichtes aber auch bestimmendes Aussehen verlieh. Meine weiblichen Reize waren unter dem Hosenanzug weitgehend verborgen. Trotzdem schien John mich mit seinen Blicken förmlich zu verschlingen.

Ich setzte mich und zwang mich zu einem unverbindlichen Lächeln. Dabei fiel mir auf, dass die Stühle, die um die Tafel gruppiert waren, alle sehr alt und wertvoll waren. Auch die Kristallleuchter, die an langen Ketten von der Decke hingen, mussten ein Vermögen gekostet haben.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte John, während er die Zeitung zusammenfaltete und beiseite legte.

»Doch«, erwiderte ich und richtete meine Aufmerksamkeit jetzt auf den Teller vor mir. Ein Toast und ein Spiegelei mit Speck lagen darauf. In der Tasse dampfte heißer Kaffee.

Verwundert schaute ich das Porzellan an. Es war handbemalt und kunstvoll verziert. Ich schätzte, dass das Gedeck über hundert Jahre alt war.

Unwillkürlich nahm ich den Teller auf und hob ih n hoch, bis ich auf die Unterseite sehen konnte, ohne dass das Spiegelei dabei herunterrutschte. Auf der Tellerunterseite war ein Spiegel angebracht.

Tief atmete ich ein und hielt die Luft für einen Moment an. Dem Spiegel nach zu urteilen handelte es sich bei dem Teller um ein höchst seltenes Stück aus einer alten Londoner Porzellanmanufaktur, die damals exklusiv für das Königshaus produziert hatte. Der Teller, den ich in der Hand hielt, stellte einen unschätzbaren Wert dar und hätte eigentlich in ein Museum gehört!

»Stimmt etwas mit deinem Essen nicht?«, erkundigte sich John, der mein Tun verwundert verfolgt hatte.

Vorsichtig stellte ich den Teller wieder hin. »Der Teller«, sagte ich verwirrt. »Er... er muss ein Vermögen gekostet haben!«

John zuckte mit den Schultern. »Ich habe nun einmal eine Vorliebe für Antiquitäten«, meinte er lapidar. Dann sah er mich prüfend an. »Du scheinst deine Erinnerung ja wenigstens teilweise wieder zurückgewonnen zu haben«, stellte er fest. »Sonst hättest du den Wert dieses Tellers nicht erkannt.«

»Ja«, sagte ich gedehnt. »Du hast recht. Mir ist schon aufgefallen, dass sich viele Kunstschätze in diesem Castle befinden. Ich scheine einiges davon zu verstehen.«

John nickte gewichtig. »Das stimmt auch«, sagte er. »Du hast dich schon immer sehr für Archäologie interessiert. In diesem Punkt haben wir beide uns immer hervorragend ergänzt.«

John breitete die Arme aus. »All die Kunstschätze, die ich in Danmoor Castle horte, habe ich auch dir zuliebe angeschafft. Du konntest Stunden damit zubringen, die Herkunft der Artefakte zu bestimmen. Es war erstaunlich, was für ein Wissen du dir auf diesem Gebiet angeeignet hattest.«

»Aber dieses Gedeck sollte nicht im Besitz einer Privatperson sein«, gab ich zu bedenken. »Es ist so wertvoll und selten, dass es eigentlich in ein Museum gehört. Könige haben von diesem Teller gegessen. Sie sind ein Stück englische Geschichte und sollten auch der Bevölkerung zugänglich gemacht werden.«

John machte eine wegwerfende Handbewegung. »Seit wann interessieren dich gewöhnliche Leute? Du hast das Leben auf Danmoor Castl e zwischen all diesen Kunstschätzen immer sehr genossen. Wir beide sind hier sehr glücklich gewesen und das zählt doch viel mehr als die profane Neugierde irgendwelcher gewöhnlicher Leute, die diese Artefakte sowieso nicht richtig zu schätzen wissen.

Wir hingegen leben mit diesen Kunstschätzen. Wir speisen von Tellern, die einst zu dem Haushalt eines Königs gehört haben und fühlen uns dabei fast selbst wie Könige!«

John ergriff plötzlich meine Hand und drückte sie ungestüm. »Du beginnst dich wieder zu erinnern, Brenda«, sagte er glücklich. »Dass du dieses Gedeck erkannt hast, lässt mich hoffen, dass es nicht halb so schlimm um dich steht, wie ich befürchtet hatte.«

Ich zog meine Hand zurück. »Ich fürchte, ich kann deinen Optimismus nicht teilen«, dämpfte ich seine Freude. »Ich habe sämtliche Erinnerung an mein Leben verloren. Was nützt es mir zu wissen, aus welcher Epoche irgendwelche Kunstschätze stammen, wenn ich mich an nichts aus meinem Leben erinnern kann?«

»Es ist doch bloß ein Anfang«, ließ John nicht locker. »Glaube mir, für mich ist es genau so schlimm, dass du dich nicht mehr an unsere gemeinsame Zeit erinnern kannst. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass sich deine Erinnerung wieder einstellen wird. Nachher kommt Dr. Hyes. Ich habe sie bereits verständigt und ihr geschildert, was vorgefallen ist. Ich bin sicher, Dr. Hyes wird dich wieder gesund machen und dir deine Erinnerung zurückgeben.«

Ich bedachte John mit einem flüchtigen Seitenblick. Bisher war mir dieser Mann noch nicht sympathischer geworden. Ganz im Gegenteil. Was er über die Artefakte gesagt hatte, bewies nur, wie eigensüchtig und egoistisch er war. Mir war schleierhaft, wie ich es all die Jahre mit solch einem Mann hatte aushalten können. Ich überlegte ernsthaft, ob ich Dr. Hyes nicht bitten sollte, mir mein Gedächtnis lieber nicht zurück zu geben, denn ich war mir nicht sicher, ob ich an mein Zusammenleben mit John überhaupt erinnert werden wollte.

Doch dann fiel mir plötzlich der mysteriöse Junge wieder ein, den ich auf der Burgzinne gesehen hatte. Irgendetwas stimmte mit mir nicht, wenn ich mir nun sogar schon einbildete, Menschen zu sehen, die sich anschließend in Nebel auflösen.

Dr. Hyes musste mich unbedingt heilen, damit ich wieder normal wurde. Lieber wollte ich die Erinnerung an eine furchtbare Ehe zurück, als in Zukunft ständig irgendwelche Geister zu sehen.

Resigniert machte ich mich über das Frühstück her. Erst jetzt bemerkte ich, wie ausgehungert ich war. Heißhungrig schlang ich das Spiegelei hinunter, dabei peinlich darauf bedacht, dem unersetzlichen Teller keinen Schaden zuzufügen.

Romantic Thriller Trio #9 - Drei Romane

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