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»Dr. Heyes ist soeben eingetroffen«, meldete Mechthild, die den Speisesaal durch einen Seiteneingang betreten hatte. »Sie wartet im Blauen Salon.«

»Hervorragend!«, sagte John und erhob sich abrupt von seinem thronartigen Stuhl. Auffordernd streckte er mir die Hand hin. »Komm, meine Geliebte«, sagte er vergnügt. »Dr. Hyes wird dich schnell wieder heilen. Du wirst sehen, sie ist eine ausgezeichnete Ärztin. Du hast ihr immer sehr vertraut.«

Johns Worte ließen mich aufhorchen. War diese Dr. Hyes eine Vertraute von mir gewesen? Wenn ja, konnte ich ihr auch von dem Vorfall mit dem mysteriösen Jungen erzählen?

Ich ignorierte Johns ausgestreckte Hand und stand auf. Mechthild machte sich unverzüglich daran, die Teller fortzuräumen.

»Vorsicht!«, gemahnte ich die junge Bedienstete, die für meinen Geschmack etwas zu sorglos mit dem antiken Geschirr umging. »Wenn Sie etwas kaputt machen, wird Sie das Ihren Job kosten. Dieses Geschirr ist mehr wert, als Sie in Ihrem Leben je verdienen können!«

Mechthild starrte mich böse an. »Jawohl, Madame«, sagte sie dann bemüht höflich. »Ich hantiere mit diesem Porzellan schließlich nicht das erste Mal.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, da mir meine harten Worte plötzlich leid taten. »Ich kann mich nur an den Gedanken nicht gewöhnen, von Tellern zu essen, die eigentlich in die Vitrine eines Museums gehören.«

»Du brauchst dich bei Mechthild nicht zu entschuldigen«, sagte John streng. »Sie ist schließlich nur ein Dienstmädchen. Komm jetzt, Brenda. Wir wollen Dr. Hyes nicht unnötig warten lassen.«

John umfasste meinen Arm und zog mich von der Tafel fort. In der Eingangshalle angekom men lenkte er seine Schritte zu einem Korridor am anderen Ende der Halle. Johns Griff war fest und unerbittlich. Wie eine Gefangene zog er mich hinter sich her.

»Du tust mir weh!«, beschwerte ich mich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.

»Ich will nur dein Bestes«, erwiderte John kalt. »Mit dem Theater muss endlich Schluss sein. Du musst endlich wieder gesund werden. Du benimmst dich nämlich ziemlich kindisch. Ich erkenne dich gar nicht wieder, Brenda!«

»Wie bin ich denn gewesen?«, fragte ich verzagt und bemühte mich, mit John Schritt zu halten. Der Korridor, den wir jetzt durchschritten, war genauso pompös und kostspielig eingerichtet wie alle Flure und Räume des Castles. In den Nischen standen wertvolle Marmorfiguren und an den holzvertäfelten Wänden hingen Ölgemälde von bekannten klassischen Künstlern.

»Du warst eine liebevolle und ehrgeizige Frau«, berichtete John ungehalten. »Du hast mich geehrt und meine Autorität stets geachtet. Die Kunstschätze in unserem Castle haben dir immer sehr viel bedeutet. Du konntest gar nicht genug von diesem Zeug bekommen und warst immer ganz aufgeregt, wenn ich wieder neue Stücke mitbrachte.«

»Du musst Millionär sein«, meinte ich, während mein Blick immer wieder an den Gemälden und Statuen haften blieb, an denen wir vorbeikamen.

»Das bin ich auch«, erwiderte John lapidar. »Ich entstamme einer wohlhabenden Familie. Die Liebe zu Kunstschätzen wurde von Generation zu Generation an die Söhne weitervererbt. Was du hier siehst, sind die Früchte der Sammlerleidenschaft mehrerer Generationen.«

Plötzlich blieb John vor einer Tür stehen. Ohne anzuklopfen stieß er sie auf und zog mich in den dahinterliegenden Raum.

Die Wände des Zimmers waren mit mattblauen Seidentapeten beklebt. Auch die Sessel und die Sofas, dem Stil nach zu urteilen ebenfalls aus de m Rokoko stammend, waren mit blauem Stoff bezogen. Die Intarsien der Schränke und Vitrinen waren blau abgesetzt. Alles war farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Nur die Frau, die beim Fenster mit den himmelblauen Vorhängen stand,

wollte sich nicht in das harmonische Bild fügen. Sie hatte langes feuerrotes Haar und trug ein raffiniertes rotes Kleid, das ihre weiblichen Rundungen vorteilhaft betonte.

»Guten Tag, Brenda!«, rief die Frau und eilte mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »John hat mir erzählt, dass dein gestriger Sturz vom Pferd anscheinend doch negative Auswirkungen zeigt.«

»So ist es leider«, bestätigte ich und reichte der Frau zögernd die Hand.

Dr. Hyes blieb mit ausgestreckten Armen verdattert vor mir stehen und starrte meine Hand an. Offenbar irritierte sie diese förmliche Geste.

Unschlüssig ließ sie die Arme sinken und warf John einen hilfesuchenden Blick zu.

John zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir doch gesagt, dass Brenda sich an nichts mehr erinnert.«

Prüfend sah Dr. Hyes mich an. »Du weißt nicht, wer ich bin?«

Ich betrachtete die Frau eingehend. Sie hatte grüne Augen wie ich. Ihr Make-up war für meinen Geschmack ein wenig zu dick aufgetragen. So waren ihre Lippen zum Beispiel mit lilafarbenem Lippenstift bemalt, was die Ärztin in meinen Augen irgendwie verwegen und lüstern erscheinen ließ.

Dr. Hyes und John schienen eng befreundet zu sein. Auch ich sollte Dr. Hyes gut kennen, wie ihre herzliche Begrüßung vermuten ließ. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dieser Frau heute das erste Mal gegenüber zu stehen.

»Tut mir leid«, sagte ich bedauernd. »Ich habe das Gefühl, Sie heute das erste Mal zu sehen.«

»Ich bin’s, Gwendolyn«, sagte die Frau mit Nachdruck. »Dr. Gwendolyn Hyes! Wir beide sind dicke Freunde. Wir haben all unsere Geheimnisse geteilt und hatten immer sehr viel Spaß miteinander. Das kannst du doch unmöglich alles vergessen haben!«

Ich machte eine hilflose Geste. »Es... es tut mir leid«, wiederholte ich mit schwankender Stimme. »In mir herrscht absolute Leere. Es ist richtig unheimlich, wenn ich versuche, mich an irgendetwas zu erinnern. Alles, was ich dann vor meinem geistigen Auge sehe, ist nachtschwarze Dunkelheit!«

»Kopf hoch, Brenda«, meinte Gwendolyn. »Es besteht kein Grund, deswegen in Panik auszubrechen. Ich bin mir sicher, wir kriegen das wieder hin. Du kannst mir vertrauen. Schließlich bin ich Ärztin und noch immer deine allerbeste Freundin.«

»Muss ich in ein Krankenhaus?«, fragte ich. Der Gedanke hatte durchaus etwas Tröstliches an sich. Ich würde endlich aus diesem düsteren, einsamen Castle herauskommen und müsste Johns aufdringliche Gegenwart nicht mehr länger ertragen. Wenn ich in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, könnte ich endlich in Ruhe über alles nachdenken, auch darüber, wie ich mich John, meinem Ehemann, in Zukunft gegenüber verhalten sollte...

»Das wird nicht nötig sein«, zerstörte Gwendolyn meine stille Hoffnung. »Im Gegenteil. Für dein Erinnerungsvermögen könnte ein Ortswechsel sogar verheerende Folgen haben. Dein Bewusstsein würde jeden Anhaltspunkt verlieren, der dir helfen könnte, dich zu erinnern. Ein dauerhafter Gedächtnisverlust könnte dir dadurch entstehen.«

Enttäuscht kniff ich die Lippen zusammen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, von Gwendolyn nicht für voll genommen zu werden. Zwar war sie Ärztin und wusste, was gut für mich war. Aber auf der anderen Seite war sie doch auch meine Freundin und hätte mich fragen können, was meine Wünsche waren. Stattdessen bestimmte sie einfach über mich, ohne zu berücksichtigen, wie ich mich fühlte und wie es zwischen mir und John stand.

»Gibt es denn wirklich nichts, an das du dich erinnern kannst?«, drang Gwendolyn erneut mit einer Frage auf mich ein.

Bevor ich etwas erwidern konnte, beantwortete John die Frage: »Ihr Wissen über Antiquitäten scheint Brenda behalten zu haben. Sie wusste genau, woher das Frühstücksgeschirr stammte und wie viel es wert war.«

»Das ist doch zumindest schon ein Anfang«, freute sich Gwendolyn. »An dieser Stelle sollten wir anknüpfen. Ich schlage vor, du zeigst Brenda ein paar von den Artefakten, die sie besonders gerne gemocht hatte. Vielleicht können wir ihrer Erinnerung auf diese Weise auf die Sprünge helfen!«

Besitzergreifend legte John einen Arm um meine Schulter und zog mich an sich. »Das hört sich doch gut an«, sagte er aufmunternd. »Am besten fangen wir sofort an. Ich habe auch schon eine Idee, was ich dir als erstes zeigen werde!«

Ich schüttelte Johns Arm ab. »Wenn du meinst«, sagte ich freudlos. »Ich wäre dir allerdings dankbar, wenn du dich mit deinen Zutraulichkeiten etwas zurückhalten würdest. Ich bin sehr verwirrt und muss mir über meine Gefühle erst im klaren sein.«

John machte ein gekränktes Gesicht. »Ich werde deinen Wunsch respektieren«, sagte er zerknirscht. »Aber dafür verlange ich, dass du Gwendolyns Anweisungen befolgst. Ich möchte, dass du dich so schnell wie möglich wieder an alles erinnerst, auch daran, wie sehr du mich geliebt hast!«

John sah mich eindringlich an. Ich drehte mich demonstrativ zur Seite und erstarrte.

An der Wand vor mir hing ein altes, stark gedunkeltes Gemälde, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Nun sah ich es um so deutlicher, zumal gerade ein verirrter Sonnenstrahl durch das Fenster drang und direkt auf das Bild fiel.

Auf dem Gemälde war ein blasser Junge dargestellt. Er trug einen altertümlichen Mantel mit einer Doppelreihe schimmernder Messingknöpfe. Sei n lockiges, schulterlanges Haar sah sehr gepflegt aus und glänzte vor Pomade.

Es bestand kein Zweifel. Der Junge auf dem Gemälde war mit dem gespenstischen Kind identisch, das ich heute morgen auf der Burgzinne gesehen hatte!

Romantic Thriller Trio #9 - Drei Romane

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