Читать книгу Eine Heimat des Krieges - Jan-Henrik Martens - Страница 10
Kronenwald
ОглавлениеRoren und die anderen Flüchtlinge hatten Rygmoor hinter sich gelassen, marschierten nun durch das Fürstentum Aureld. Die dichten Wälder des Südens wichen hohem Gras und Gänseblümchen. Sattgrüne Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont, gelegentlich durchbrochen vom Gold abgeernteter Getreidefelder. Die Morgenluft war frisch und die Sonne warm.
Ariane sprach kaum, seitdem sie auf ihren toten Bruder gestoßen war. Sie blickte in die Ferne, machte einen Schritt nach dem anderen, ohne zu lächeln, ohne zu weinen. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, was auch geschah. Als bestünde ihre Miene aus Stein. Roren hoffte, es wäre nur vorübergehend. Tiefe Trauer, die mit jedem Tag ein wenig abklingen würde. Doch die Tage zogen dahin; und als aus Tagen Wochen wurden, setzte die Gewissheit ein, dass sich nichts verändern würde.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte Roren seine Frau.
„Ja.“
Hilla saß auf einem Karren. Während der Esel sie weiterzog, beobachtete Hilla die Grashalme neben dem Feldweg. In letzter Zeit aß sie kaum noch, war blass und abgemagert. Wenn Roren mit ihr sprach, äußerte sie jedes Mal den Wunsch, nach Seros zurückzukehren. Ein Zuhause, das es nicht mehr gab. Roren wollte sie nicht so traurig sehen, voller Heimweh und Kummer, das konnte er nicht ertragen. Also log er sie an, erzählte ihr, dass sie bald heimkehren und nicht lang im Norden bleiben würden. Er fühlte sich unwohl dabei. Als wäre er ein schlechter Vater. Bald sprach Roren nur das Nötigste und versuchte, ihr durch bloße Anwesenheit Trost zu spenden.
„Hilla, hast du Hunger?“, fragte er. Diese Frage stellte er täglich, obwohl er die Antwort kannte.
„Nein.“
„Liebster, wie geht es deinem Arm?“, fragte Ariane. „Immer noch Schmerzen?“
„Nein, juckt nur ein bisschen“, sagte Roren. In Wahrheit schmerzte die Hand so sehr, dass er kaum schlafen konnte. Zuweilen glaubte er, seine Finger zu spüren. Dann wackelte er mit ihnen, ballte sie zur Faust. Wenn er dann auf den Stumpf blickte, war ihm nach Weinen zumute. Da waren keine Finger, nur eine rötliche Wunde, die pochte und juckte und brannte. Roren kratzte häufig am Stumpf, hoffte, dass das Jucken verschwände. Doch es blieb und Roren kratzte, bis die Wunde wieder aufging. Die Schmerzen in der fehlenden Hand waren mit der Zeit stärker geworden. Wie konnte etwas, das fort war, so sehr schmerzen? Es gab Tage, an denen Blut aus dem Stumpf tropfte.
„Verstehe“, sagte Ariane. „Schön, dass es dir besser geht.“
Die Gespräche mit seiner Familie bestanden aus immer gleichen Fragen - Hunger, Schlaf, Schmerzen -, gefolgt von einsilbigen Antworten. Und worüber hätten sie auch reden sollen? Das Sommerwetter, das sich genauso wenig veränderte wie die Landschaft mit ihrem Wäldern und Wiesen und Getreidefeldern? Nein, es gab nichts zu reden. Es blieb ihnen nur, geradeaus zu gehen und zu hoffen, dass dieser Tag nicht ihr letzter sein würde. Meist schwiegen sie. Dann gab es nur das Zirpen der Grillen und das Knarzen hölzerner Karrenräder.
Feronins Stimme erklang. „Roren, Lagebesprechung!“ Sein Rufen kam von der Spitze der Kolonne.
„Bin gleich da“, rief Roren.
Die tägliche Lagebesprechung mit Ogwen und Feronin war die einzige Möglichkeit, sich von der Schweigsamkeit der Wanderung zu lösen. Roren würde diese Besprechungen genießen, sich über die Abwechslung freuen, wären da nicht die Blicke der anderen Flüchtlinge. Diese verdammten Blicke.
„Wir müssen Austadt bereits hinter uns gelassen haben“, sagte Ogwen. Er breitete eine alte Landkarte auf einem Karren aus, zeigte mit dem Finger auf ein Waldgebiet und sagte: „Das ist der Kronenwald, den erreichen wir bald, wahrscheinlich schon morgen … Ja, sieht ganz danach aus. Wir befinden uns einen Tagesmarsch nördlich von Austadt. Verflucht, ich hatte gehofft, wir könnten dort eine Zeit lang rasten. Aber sei’s drum. Wir haben genug Proviant, um Etovernem ohne die Hilfe Fürst Tiogans zu erreichen. Den Toten aus Seros sei Dank.“ Er sah Roren nicht an, faltete die Karte. „Mögen sie im Abyssus Frieden finden.“
„Wie weit ist es noch?“, fragte Feronin.
„Nach Etovernem? Drei Wochen, vielleicht vier. Wir sind langsam. Zu viele Karren, zu viele Alte und Schwache.“ Endlich sah er Roren an. Es war ein Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass Ogwen ihn zu den Schwachen zählte.
Roren verabscheute diese Blicke. Er wusste, dass er nicht jagen könnte, dass er unfähig war, die Gruppe vor Gefahren zu schützen. Alle wussten das, er sah es in ihren Augen. Roren fühlte sich schwach und unnütz. Wie eine Last.
„Wer hält heute Nacht Wache?“, fragte Ogwen.
„Das kann ich machen“, sagte Roren.
„Du warst schon gestern dran“, sagte Feronin. „Lass andere heute die Wache übernehmen. Ich melde mich freiwillig.“ Er zückte sein Beil, ein altes, verrostetes Teil, das er aus Gerwind mitgenommen hatte. Roren bezweifelte, dass es sonderlich scharf war.
„Aber es macht mir nichts aus, wach zu bleiben“, sagte Roren. Sein Arm schmerzte wieder, doch er riss sich zusammen, verzog keine Miene. Der Ärmel seines Gewands verdeckte den Stumpf, trotzdem wusste Roren, dass Blut aus der Wunde floss.
„Mir aber auch nicht“, sagte Feronin.
„Hört auf mit dem Gezänk“, sagte Ogwen. „Wenn er unbedingt will, soll Roren ruhig am Feuer sitzen. Wachehalten kann er gut.“
„Sicher? Schon wieder Roren?“, fragte Feronin. „Soll er schlafen, er kann’s gebrauchen.“ Er warf einen flüchtigen Blick auf Rorens Arm.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Roren. „Glaubst du, ich kann das nicht? Hältst du mich für zu schwach?“
„Das hab ich nicht gesagt. Alles, was ich sage, ist, dass du ständig wacheschiebst. Das kann nicht gesund sein.“
Aber es war die einzige Möglichkeit, sich nützlich zu machen, die eine Aufgabe, die Roren übernehmen konnte, auch wenn er ein Krüppel war. Was blieb ihm sonst? Sitzen und gehen und fressen. Einen Beitrag leisten, das wollte er. Und wenn er wochenlang wach bliebe, um die Augen und Ohren der Schlafenden zu sein, dann täte er es gerne. Vielleicht würden diese abschätzigen Blicke dann endlich verschwinden.
Ogwen grummelte und sagte: „Feronin hat recht, du siehst aus wie eine Leiche. Schlaf heut Nacht, das wird dir guttun. Gönn dir etwas Ruhe, Roren. Deiner Familie zuliebe. Die beiden machen sich sicher Sorgen.“
Roren wollte etwas sagen, den Ältesten umstimmen, doch er wusste, dass die Entscheidung gefallen war. Er schwieg.
Ogwen sagte: „Gut, dass du es einsiehst. Ich wusste, du bist vernünftig.“
Der Mond tauchte die Wiese in blasses Licht. Roren lag auf dem Boden. Die Grashalme glichen silbrigen Haaren. Der Wind blies über das Feld, das Gras raschelte, war weich und streichelte über Rorens Haut. Er legte einen Arm um Hilla, presste sie an sich, schloss dann die Augen. Die Kleine atmete ruhig und bettete ihren Kopf auf Rorens Schulter. Er lächelte und verspürte keine Schmerzen.
Roren stand erneut auf der Lichtung, sah die abgeschlachteten Männer. Von Frauen und Kindern keine Spur.
Erons tote Augen musterten Roren zornig und anklagend. Die faulenden Lippen des Toten bewegten sich. „Du hast uns an die Echsen verraten, du bist schuld.“ Eron stand auf. Gedärm glitt aus seinem aufgeschlitzten Bauch. Fliegen krochen über die Organe. „Sieh, was du angerichtet hast.“
Dann verwandelte sich Eron in die schwarze Echse. Sie sagte: „Gib mir deine Frau und dein Kind. Verrat mir, wo sie sind, das fällt dir sicher leicht. Lass mich ihr Blut vergießen. Dann ist ihre Reise vorbei, dann werden sie Frieden finden. Keine Schmerzen, keine Sorgen.“ Die Echse grinste. Er hielt etwas in der rechten Hand. Es war Hillas Kopf. Blut strömte aus dem durchtrennten Hals.
Roren erwachte. Sein Gewand war schweißgetränkt, sein Herz pochte laut und schnell. Hilla lag neben ihm, hatte sich zusammengerollt. Roren hörte ihren ruhigen Atem, sah die sanften Bewegungen ihrer Brust. Seine Tochter war bei ihm, lebte noch.
Roren drehte sich zu seiner schlafenden Frau. Er stellte sich vor, dass Ariane tot wäre, dass er in diesem Moment neben ihrer Leiche läge. Arianes Gesichtsausdruck war friedlich, voller Sanftheit und Ruhe. Würde sie so aussehen, falls sie stürbe? Und Hilla? Würden alle Sorgen und Schmerzen von ihnen abfallen, falls die schwarze Echse sie tötete? Nein, das würde Roren nicht zulassen. Er wollte seine Familie glücklich machen, ein Haus für sie bauen, irgendwo in Etovernem. Er würde Hilla groß werden sehen, Enkel bekommen; und gemeinsam würden sie ihr Lächeln wiederfinden und andächtig über die Flucht in den Norden sprechen, als wäre sie eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten. Die Echse durfte seine Liebsten nicht kriegen, nicht heute, auch sonst nie. Nicht, solange Roren es verhindern konnte. Er schloss die Augen, stellte sich seine erwachsene Tochter vor. Sie sah Ariane sehr ähnlich. Die erwachsene Hilla lächelte, als das Lachen ihrer Kinder ertönte. Eine angenehme Wärme erfasste Roren, dann schlief er ein.
Am nächsten Tag rasteten sie an einem See. Die Mittagssonne spiegelte sich im klaren Wasser, nur wenige Wolken standen am Himmel. Roren saß abseits der Flüchtlinge und wusch seine Hand. Die Stimmen der anderen waren kaum lauter als ein Flüstern. Das Wasser war kalt und erfrischend und fühlte sich gut an. Roren beträufelte sein Gesicht, schrubbte den Schmutz von seiner Haut. Der Wind fühlte sich intensiver und frischer an; und Roren hatte das Gefühl, wieder befreit durchatmen zu können. Er setzte sich auf die Kieselsteine am Ufer, lauschte dem leisen Plätschern des Gewässers. Einige Vögel sangen in Ufernähe ein vielstimmiges Lied. Es erinnerte Roren an den Fluss hinter seinem Haus. Er stellte sich vor, das alte Mühlrad von Seros quietschen zu hören. Aber es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Das Geräusch entglitt ihm.
Stattdessen hörte er Schritte auf den Kieselsteinen. Ariane stand neben ihm und sagte: „Feronin hat mir erzählt, dass du heute wieder die Wache übernehmen willst.“
„Ja, das stimmt. Du weißt, ich mache das gern.“
„Aber warum so häufig?“ Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um ihre Knie und blickte auf den See hinaus.
„Wo ist Hilla?“, fragte Roren.
„Bei Ogwen. Wir können reden. Bitte sei ehrlich, warum hältst du ständig Wache? Kannst du schlecht schlafen, ist es das?“
„Ich … ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Es ist wegen deinem Bruder. Du hast die Leichen doch gesehen.“
„Ja, das habe ich.“ Sie klaubte ein paar Kieselsteine auf und begann, sie ins Wasser zu werfen.
Roren sagte: „Dann weißt du, worauf ich hinauswill.“
„Hilla und ich werden nicht einfach verschwinden“, sagte Ariane. „Niemand wird uns entführen, niemand wird dich und die anderen Männer im Schlaf ermorden. Das ist doch Unsinn.“
Er betrachtete die kleinen Wellen auf der Wasseroberfläche. „Vielleicht. Aber es könnte sein.“
„Wie lange sind wir schon unterwegs? Vier Wochen? Und du glaubst, diese Echsen verfolgen uns noch immer? Das ist recht unwahrscheinlich, findest du nicht?“
Er wusste, dass sie recht haben musste. Und doch blieb eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass ihnen jemand auflauerte; und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto nervöser wurde Roren. Sie waren so weit gekommen. Was, wenn ihnen doch noch etwas zustieße? Wenn die Echse sie erwischte?
„Warum geben wir nicht einfach auf?“, fragte Ariane.
„Hm?“
„Ja, warum bleiben wir nicht einfach hier, blicken auf den See hinaus und warten, bis es endgültig vorbei ist? Weitere drei Wochen der Flucht ins Ungewisse, ich glaube nicht, dass ich das durchhalte. Und Hilla? Sieh sie dir an. Unsere Kleine leidet. Warum warten wir nicht einfach auf den Tod? Keine Angst mehr, keine Sorgen, keine Schmerzen.“
Das Wasser schwappte ans Ufer, floss dann wieder zurück. Roren klopfte Dreck von seinen durchgetretenen Stiefeln. „Sterben sagst du? Ich habe bereits ins Antlitz des Todes geblickt.“ Er hob seinen rechten Arm. Heute blutete der Stumpf nicht. „Und da ist nichts. Kein Großer Richter, kein helles Licht, kein Nachleben. Nur die Dunkelheit.“
Ariane musterte ihn besorgt. Roren sagte: „Wir haben nur ein Leben, und das werde ich nicht wegwerfen, weil ich Angst oder Schmerzen habe. Denk an Hilla. Wir müssen es in den Norden schaffen. Für sie. Ich will sehen, wie sie zur Frau wird, uns Enkelkinder schenkt. Willst du das nicht auch? Aber dazu brauchen wir eine neue Heimat. Wir müssen weiter. Und vielleicht kennen die Etarianer ein Heilmittel für ihre Krankheit. Ja, das kann doch sein. Wir dürfen nicht aufgeben, solange diese Möglichkeit besteht.“
Ariane legte sich auf die Kieselsteine, streckte alle viere von sich. „Wenn es nur nicht so schwer wäre, sich jeden Tag aufzuraffen.“
„Was ist schon einfach?“, fragte Roren und legte sich neben sie.
„Tut mir leid“, sagte sie.
„Was meinst du?“
„Das mit dem Sterben, das hätte ich nicht sagen sollen.“
„Schon gut.“
Der Wind wurde stärker, Wolken zogen vorbei. „Erinnerst du dich daran, wie Hilla fast im Fluss hinter unserem Haus ertrunken wäre?“, fragte Ariane.
„Natürlich. Sie war vier Jahre alt. Wir haben sie danach nie wieder alleine spielen lassen.“
„Sie war ein echter Wildfang, bevor …“
„Das wird sie wieder werden. Ganz bestimmt. Diese Krankheit … es muss eine Heilung geben, da glaub ich ganz fest dran.“
Ariane sah ihm in die Augen und er in ihre. Sie sagte: „Ich liebe dich.“
Sie legte sich langsam und zärtlich auf ihn, küsste ihn. Er vernahm ihren Duft und erinnerte sich an das Dorffest, damals vor neun Jahren, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Roren erinnerte sich an das Gefühl von Liebe und Geborgenheit, das ihm vorher unbekannt war. Ariane küsste seinen Hals. Roren spürte ihren warmen Atem und ihre feuchten Lippen. Sein Glied wurde steif. Er streichelte über Arianes Rücken, berührte ihre weiche Haut. Seine Zunge spielte mit ihrer, dann hob sie den Kopf.
„Ich kann nicht“, sagte sie. „Nicht hier, nicht jetzt.“
„Ich weiß.“
„Vielleicht in Etovernem.“
„Sicher.“
„Es kommt mir nur so falsch vor, weißt du? So viele sind gestorben. Mein Bruder, unsere Freunde. Ich mache mir Sorgen, jeden Tag. Was wird aus Hilla, was wird aus uns? Ich denke viel nach, schlafe schlecht. Ich … ich kann dich nicht einfach küssen und lieben und alles verdrängen. So gern ich das auch täte. Es tut mir leid.“
„Brauchst dich nicht entschuldigen.“
Sie stand auf und sagte: „Ich geh zu unserer Tochter, ja? Kommst du gleich?“
„Ja, ich komme nach.“
„Versprichst du mir, dass du heute keine Wache übernimmst?“
„Ich verspreche es.“
Ariane lächelte und ging. Ihre Schritte wurden leiser, während Roren in den Himmel starrte. Die Kieselsteine drückten gegen seinen Rücken, der zu schmerzen begann. Seine rechte Hand juckte wieder. Die Wolken über dem See wurden dunkler und zahlreicher. Der Wind nahm zu.
Es regnete. Schwere Tropfen fielen vom Himmel und verwandelten den Waldboden in Matsch. Die Karren kamen nur langsam voran, blieben oft stecken. Die Stimmung der Flüchtlinge wurde schlechter. Bis Einbruch der Nacht kämpften sie sich durch den Kronenwald, konnten ihn jedoch nicht durchqueren, bevor die einsetzende Dunkelheit ein Vorankommen unmöglich machte.
Unter einer großen Buche schlief Roren ein. Es war ein kurzer, unruhiger Schlaf. Er träumte wieder von dem schwarzen Etarianer und seinen goldenen Augen. Augen, die boshaft waren. Diesmal hielt die Echse Arianes Kopf in der Hand. Ihre Haut war grau, ihr Mund blau. Roren erwachte.
Der Wind fegte durch die Bäume und in der Ferne grollte Donner. Blitze zuckten über den Nachthimmel, erhellten den Kronenwald. Der Regen war stärker geworden und prasselte auf die Schlafenden nieder. Ihre Gesichter glänzten im schwachen Schein des Lagerfeuers, das vor ihnen brannte. Ein Mann saß vor den Flammen. Roren konnte ihn nicht erkennen. Langsam stand er auf und näherte sich der Wärme des Feuers.
Als er Feronins Gesicht erblickte, sagte Roren: „Guten Abend.“
Feronin fragte: „Du schon wieder? Schläfst du überhaupt mal?“
„Bin grad aufgewacht.“ Er legte die Stirn in Falten. „Und du? Du hast doch gestern schon die Wache übernommen. Heute wieder?“
„Nein, eigentlich nicht. Hab Ogwen abgewechselt. Bei dem Mistwetter kann ich nicht schlafen. Verflucht, ich frage mich, wie man da überhaupt ein Auge zukriegen kann.“
„War ein langer Tag, alle sind erschöpft.“
„Trotzdem. Ständig Wasser im Gesicht, das kann doch keiner ertragen.“
Roren setzte sich ans Feuer, wärmte sich die Hand. Die Regentropfen verdampften in der Hitze. Feronins Beil steckte in der Erde neben ihm. „Soll dich das alte Teil beschützen?“, fragte Roren.
„Besser als mit den Fäusten zu kämpfen.“
„Erwartest du denn einen Angriff?“
Feronin sah sich um. „Weiß nicht, Wälder sind mir nicht geheuer. Zu viele Tiere und sonst was alles. Nie weiß man, was hinter dem nächsten Baumstamm lauert.“
„Ja, da hast du recht, das weiß man nie.“
„Wie geht es Ariane?“
„Gut.“
„Das ist schön.“ Er nickte. „Wirklich schön.“ Feronin zeigte auf Rorens rechten Arm. „Sag, womit kämpfst du, falls es nötig sein sollte?“
Roren spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Dieses abwertende Verhalten machte ihn rasend, er konnte nichts dagegen tun. Ein Ziehen in der Magengegend, das durch den ganzen Körper wanderte. Er spannte seine Muskeln an, ballte die Faust. „Ich …“
Feronin hob eine Hand. „Hörst du das?“
Roren erstarrte. „Was?“
„Das Geräusch.“
„Was für ein Geräusch? Das ist nur der Wind.“
„Der Wind ist nicht stark genug, um Äste knacken zu lassen.“
Sie schwiegen und lauschten den Geräuschen der Umgebung. Das Donnergrollen, der Wind, das Schnarchen der Schlafenden. Nach einigen Augenblicken zuckte Feronin mit den Schultern, sagte: „Hab mich wohl geirrt.“
„Jag mir nicht nochmal so einen Schrecken ein.“
„Da hätte was sein können.“
Und dann hörte Roren ein Geräusch, das ihn an den Krieg erinnerte. Das Spannen einer Bogensehne. Seine Augen weiteten sich, als er einen Pfeil auf sich zurasen sah. „In Deckung!“ Er packte Feronin am Kragen, riss ihn zu Boden. Der Pfeil sauste an ihnen vorbei, blieb in einem Baumstamm stecken.
Eine männliche Stimme rief: „Ihr da am Feuer, keine Bewegung! Sonst wird euch der nächste Pfeil gewiss nicht verfehlen!“
Roren richtete sich auf und sah Schatten zwischen den Bäumen, die im Licht der Blitze Formen annahmen. Dutzende Gestalten huschten durch das Dickicht.
Die Stimme rief erneut. „Ihr seid umzingelt! Macht bloß keine Dummheiten!“
Roren hob beschwichtigend die Arme; Feronin atmete hektisch. Es lag Panik in seinen Augen. Wie bei einem Reh, das tödlich verwundet war. Bevor Roren etwas tun konnte, fing Feronin an zu brüllen. „Wegelagerer! Wacht auf, wir werden angegriffen!“
Die meisten Schlafenden schreckten augenblicklich hoch und sahen sich verwirrt um. Als sie bemerkten, was geschah, sprangen sie auf und schrien.
„Zu den Waffen“, brüllte Feronin.
Die einzigen Waffen, die sie hatten, waren ein verrostetes Beil und sieben Jagdbögen. Zu wenig für einen Kampf; und die Angreifer könnten überall sein. Ein Gefecht wäre aussichtslos, und alle wussten es.
Nur der alte Ogwen nicht. Er sprang auf und griff nach einem Bogen. Bevor er ihn erreichen konnte, sauste ein Pfeil durch die Nacht, erwischte Ogwen an der Schulter. Er ging zu Boden und schrie vor Schmerz. „Scheiße.“ Er presste mit einer Hand auf die Wunde, aus der der Pfeil ragte und Blut strömte.
„Wir wollen niemanden töten“, rief die Stimme des Angreifers. „Wir wollen nur eure Karren.“
Ariane und Hilla standen neben Roren. Sie atmeten schwer. Fassungslosigkeit und Furcht lagen auf ihren Gesichtern. Die Wegelagerer umstellten sie, zielten auf ihre Köpfe.
„Keine Dummheiten! Ich komme jetzt raus, und wenn mich jemand angreift, werdet ihr alle sterben“, rief die Stimme.
„Wir werden nichts tun“, sagte Roren. „Wir sind unbewaffnet.“
Feronin sah ihn wütend an. „Wir können doch nicht einfach hier rumstehen und uns ausrauben lassen“, sagte er.
„Was willst du denn dagegen tun?“
„Kämpfen!“
„Sie werden uns umbringen.“
„Wenn sie die Karren mitnehmen, sterben wir sowieso.“
Roren verengte die Augen. „Ich werde heute nicht sterben und meine Familie schon gar nicht.“
Feronin schüttelte mit dem Kopf.
Jemand ergriff Rorens Hand. Er sah nach unten. Es war Hilla, die sich zitternd an ihn presste.
Ein Mann mittleren Alters trat aus dem Gebüsch und näherte sich dem Feuer. Seine Haare waren verdreckt, seine Kleidung war zerrissen. Und doch wirkte er wild und lebendig, voller Kraft und Bestimmtheit. Er blieb vor Roren stehen und lächelte. Der Mann hob den Zeigefinger und sagte: „Keine Dummheiten. Tragt ihr Waffen am Körper?“
Roren und Feronin verneinten, die anderen betrachteten angespannt das Schauspiel. Ogwen lag stöhnend im Matsch.
Der Wegelagerer sagte: „Gut, wenn ich pfeife, kommen meine Leute und nehmen die Karren mit. Wenn ihr einfach hier stehen bleibt, passiert euch nichts. Wir nehmen, was wir brauchen, dann verschwinden wir.“
„Diebe“, brüllte Ogwen. Sein schmutziges Gesicht war schmerzverzerrt. „Mieses Räuberpack!“
Der Mann schenkte Ogwen ein müdes Lächeln. „Wer wird denn gleich beleidigend werden? Wir tun nur, was nötig ist.“ Das Lächeln schmolz. „Ihr würdet an unserer Stelle dasselbe tun.“ Keiner antwortete. Der Regen prasselte unaufhörlich weiter und ein Blitz zuckte in der Ferne. „Also, ich pfeife jetzt und ihr rührt euch nicht, verstanden?“
Roren nickte, der Mann pfiff.
Männer und Frauen betraten die Lichtung. Einige von ihnen trugen Schwerter, Bögen oder einfache Hämmer. Sie gingen zu den Karren, ohne den Flüchtlingen Beachtung zu schenken.
Während die Räuber die Esel antrieben und die Karren in Bewegung setzten, sagte der Mann: „Einen Bogen dürft ihr behalten, den Rest nehmen wir mit.“
„Wie großzügig“, sagte Feronin. „Warum bringt ihr uns nicht gleich um?“
„Wir sind Räuber, wie euer alter Freund hier schon sagte, aber wir sind keine Mörder.“
„Wo ist der Unterschied?“
„Wir nehmen eure Lebensmittel und Waffen, aber wir nehmen euch nicht die Möglichkeit, weiterzuleben.“
„Wir werden verhungern.“
Der Mann schnaubte. „Das ist euer Problem, nicht meines.“ Er wirkte niedergeschlagen. „Wir haben keine Wahl, es tut mir leid.“ Er schritt an ihnen vorbei und verschwand zusammen mit den Karren in der Dunkelheit.
Das Lagerfeuer ging langsam aus. Die Geräusche der Eselshufe und Holzräder wurden schwächer, schließlich vom Donner übertönt.
„He, Krüppel“, rief eine weibliche Stimme.
Roren drehte sich um. Eine junge Frau stand hinter ihm. Sie packte Hilla und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Rorens Herz schlug schneller. Er erstarrte.
Die Frau lächelte, als hätte sie den Verstand verloren. Sie zeigte auf Feronins Beil, das noch immer in der Erde neben dem Lagerfeuer steckte, und sagte: „Das ist ein schönes Stück. Gib es mir, Einarmiger. Und wehe du machst eine falsche Bewegung damit, dann verteil ich das Blut der Kleinen im ganzen Wald.“ Hilla stöhnte auf, als die Frau das Messer gegen ihren Hals drückte.
Ariane stand da wie angewurzelt, starrte ängstlich auf die Klinge, die im Licht des Feuers schimmerte.
Roren schritt rückwärts Richtung Beil. „Kein Problem, du kannst das Beil haben, nur tu ihr nichts.“
„Beeil dich!“
Er umfasste den hölzernen Schaft des Beils und stockte. Das Holz lag gut in der Hand. Er könnte sich schnell umdrehen, er bräuchte nicht viel Zeit zum Zielen, das war er vom Bogenschießen gewohnt. Ein schneller Wurf, dann wäre dieses widerliche Weib Geschichte. Aber sollte er vor den Augen seiner Tochter töten? Und wenn er verfehlte oder zu langsam wäre? Hilla könnte verletzt werden, sogar sterben. Nein, das konnte er nicht riskieren.
„Wird’s bald?“, fragte die Frau.
Der Schaft war nass und rutschig. Roren packte fest zu und drehte sich um. Die zornigen Augen der Frau verfolgten seine Bewegungen, als erhoffte sie, dass Roren etwas Dummes tat, ihr einen Grund gab, Hilla zu töten. Roren reichte ihr das Beil.
„Vielen Dank“, sagte sie, nahm das Beil, lächelte und ließ Hilla los. Das Messer hinterließ einen roten Streifen an ihrer Kehle. Ein Blutstropfen rann ihren Hals hinab.
Die Frau verbeugte sich, kicherte, lief dann davon. Roren zitterte. Er atmete langsam aus, hörte sein Herzklopfen. Sämtliche Muskeln waren angespannt. Zorn brodelte in seinem Bauch.
Ariane umarmte Hilla und streichelte ihr Haar. „Geht es dir gut, Liebes?“ Ariane küsste Hillas Stirn.
Ogwen saß auf dem matschigen Boden, zog sich den Pfeil aus der Schulter. Blut spritzte aus der Wunde. Er keuchte und sagte: „Scheiße, das ist unser Ende.“ Roren wusste nicht, ob Tränen oder Regentropfen in seinen Augen glitzerten.