Читать книгу Eine Heimat des Krieges - Jan-Henrik Martens - Страница 6

Karren

Оглавление

Roren hörte Vogelgezwitscher, und als er die Augen öffnete, sah er den blauen Himmel und die Kronen von Buchen. Sie zogen an ihm vorbei wie Wolken. Sonnenlicht durchbrach das dichte Blätterdach, blendete Roren. Als ein Ruck durch seinen Körper ging, spürte er, dass er auf hartem Holz lag. Sein Kopf ruhte auf einem Sack Kartoffeln und der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Hölzerne Räder knarzten. Roren lag auf einem Karren. Dann vernahm er noch etwas; es waren Schrittgeräusche. Er wollte sich aufsetzen, spannte Bauch und Nacken an, hob den Kopf, doch sank zurück. Roren atmete schwer und hustete. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Guten Morgen, endlich wach?“, fragte jemand. Ein Fremder trat an den Karren. Sein Gesicht war dreckig, Brandblasen zogen sich über die rechte Wange. „Roren, richtig? Dachten, du wärst hinüber.“ Der Mann lächelte, zeigte seine dunkelgelben Zähne.

„Wo bin ich?“, fragte Roren. Seine Stimme klang heiser.

„Irgendwo im Fürstentum Rygmoor. Auf dem Weg nach Norden.“ Der Fremde zeigte in Fahrtrichtung.

„Wer bist du?“

„Feronin. Komme aus Gerwind.“

Roren erinnerte sich an das Aufblitzen von Stahl, an das Gefühl von Blut auf seinem Gesicht und an goldene Augen. „Warum sind wir nicht in Seros?“, fragte er.

Feronin presste die Lippen zusammen. „Ist niedergebrannt, genau wie unser Dorf am Tag davor. Nachdem die Etarianer abgezogen waren, sind wir geflohen, weg von den Grauen. Ob es sie gibt der nicht, haben keine Lust, das rauszufinden, da versuchen wir unser Glück lieber im Norden. Mussten an Seros vorbei. Als wir angekommen sind, waren die meisten Dorfbewohner tot oder verschwunden. Die wenigen, die übrig waren, haben sich uns angeschlossen. Tut mir echt leid.“ Es lag Mitleid in seiner Stimme. „Schreckliche Sache.“

Roren schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren rissig. Als würde die Hitze des Feuers sie immer noch austrocknen. Er sah, wie seine Frau in Flammen stand und sich verbrannte Haut vom Gesicht seiner Tochter schälte. „Ariane … Hilla?“, fragte er.

„Ihnen geht es gut. Sitzen auf einem Karren weiter vorne.“

Roren atmete erleichtert aus und richtete den Blick wieder auf die Baumkronen. Sein Rücken schmerzte und er hatte das Gefühl, seine Muskeln bestünden aus Stein. Seine rechte Hand juckte. Als er sich dort kratzen wollte, griff er ins Leere.

„Du warst den ganzen Tag … weggetreten“, sagte Feronin, starrte dabei auf Rorens rechten Arm. „Wenn du nicht bewusstlos warst, hast du wirres Zeug gestammelt und geschrien. Haben dich vor deinem Dorf gefunden, lagst im Dreck wie ein Toter. Verflucht, das war aber auch ein Anblick. So viel Blut. Und die Hand lag da einfach so rum. Hast aber noch geatmet, zwar sehr schwach, aber immerhin. Wir konnten nicht sagen, ob du es schaffen würdest. Sind ja keine Heiler. Einige meinten, du würdest die Nacht nicht überstehen. Doch hier bist du. Blass, aber lebendig.“

Das Jucken wurde unerträglich. Ein Kribbeln und ein Ziehen, als würden Käfer über Rorens Hand krabbeln und in die Haut beißen. Aber es gab nichts zu kratzen, das Jucken blieb. Roren biss die Zähne zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An das Plätschern des Flusses hinter seinem Haus, die Gerüche des Waldes während einer Jagd und das Lachen seiner Tochter. Dann wurde das Jucken von dem Gedanken an ein neunjähriges Mädchen verdrängt. Roren fragte: „Wie geht es meiner Tochter?“

„Nun, sie isst kaum und klagt über Schmerzen. Aber wir konnten keine Wunden finden. Vielleicht hat sie einfach Angst oder Heimweh. Bei Kindern weiß man ja nie, nicht wahr?“

Roren hielt sich mit der Hand am Holzrahmen des Karrens fest und zog sich hoch. Holzsplitter bohrten sich in seine Handfläche. Es knackte mehrmals in seinem Rücken. Roren stöhnte. Die Welt drehte sich. Schatten und weiße Punkte jagten durch sein Blickfeld.

„Ganz ruhig“, sagte Feronin. „Nicht, dass du wieder ohnmächtig wirst.“

Roren schaffte es, sich aufzusetzen. Sein Blick klärte allmählich auf, die Welt bekam wieder Farbe. Er sah das Grün der Bäume, den unebenen Weg, auf dem der Karren gezogen wurde, und die Menschen, die dem Karren durch den Wald folgten. Es waren Alte und Schwache, darunter nur wenige Frauen und keine Kinder. Die Dörfler trugen verkohlte Kleidung, kaum mehr als Lumpen. Schwarz und löchrig. Ihre Blicke waren auf den Boden gerichtet. Roren erkannte, dass sie dem Tode näher waren als dem Leben, dass etwas verloren gegangen war, etwas Wichtigeres als Arme oder Beine oder ein gefülltes Lebensmittellager. Und er wusste, dass der lange Weg in den Norden erst begonnen hatte. „Bring mich zu ihr.“ Er streckte sich. Knochen knackten. „Bitte, ich muss meine Tochter sehen.“

Roren legte einen Arm um Feronins Schulter, und mit seiner Hilfe gelang es ihm, Schritt für Schritt an die Spitze der Flüchtlingskolonne zu gelangen. Auf einem morschen Karren, der von einem dürren Esel gezogen wurde, saß seine Tochter. Ihre strohblonden Haare waren verdreckt, fielen ihr ins Gesicht. Für einen kurzen Augenblick dachte Roren, dass sie tot sein musste. Hillas Haut hatte die Farbe von Milch, ihr Blick war ausdruckslos auf ihre Füße gerichtet, die über dem Boden baumelten wie die Zweige einer Trauerweide. Und als der Karren über einen Erdhügel rollte, schwangen sie leblos hin und her. „Hilla?“, fragte Roren.

Sie hob den Kopf, ihre blauen Augen waren klar und kalt. Doch sie lächelte, als sie ihn erkannte; und Roren glaubte, dass etwas Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte. Nur das zählte. „Vater“, sagte sie mit müder Stimme. „Endlich bist du wach.“

Er wollte sie umarmen, sie in die Luft heben, ihr sagen, dass alles gut werden würde, doch er war froh, überhaupt stehen zu können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie anzusehen. „Wie geht es dir, Kleines?“

„Meine Beine tun weh.“

Feronin half Roren, sich neben seine Tochter auf den Karren zu setzen. Roren nickte dankbar, Feronin erwiderte es und ging. „Wo ist deine Mutter?“, fragte Roren.

„Ganz vorne. Sie redet mit dem Ältesten von Gerwind.“

„Hm.“ Roren musste sich gegen die Seite des Karrens lehnen, um nicht herunterzufallen. Seine Rücken tat weh. Es war wie ein Pulsieren. Wie Wellen des Schmerzes, die zwischen Nacken und Gesäß hin und her schwappten. Und dann war da noch das Jucken, das sich allmählich in Schmerzen verwandelte, gegen die er nichts tun konnte.

„Mama war ganz traurig, weil du so lange geschlafen hast“, sagte Hilla.

„Das tut mir leid, aber ich war sehr krank. Das Schlafen hat mir gutgetan.“ Er legte seine gesunde Hand auf ihren Kopf und lächelte. „Jetzt bin ich ja wach, und Mami muss sich keine Sorgen mehr machen.“ Während er sprach, beäugte Hilla den Stumpf seines Armes, aber sie sagte nichts und richtete den Blick wieder auf ihre Füße.

„Hast du Hunger?“, fragte er. Sie schüttelte mit dem Kopf; und dann schwiegen sie, während Blätter im Wind raschelten und die Zeit verstrich.

Roren konnte nicht sagen, wie lange er mit seiner Tochter auf dem Karren saß, aber es war bereits Nachmittag, als er Arianes Stimme hörte. „Hilla, Liebes, da vorne ist ein Fluss, du solltest …“ Ariane näherte sich dem Karren, und als sie Roren erblickte, erstarrte sie, sagte bloß: „Du bist wach.“ Dann umarmte sie ihn, presste ihr Gesicht an seine Brust. „Du weißt gar nicht, wie erleichtert ich bin.“ Sie küsste seine trockenen Lippen. Roren vernahm den vertrauten Geruch ihres Körpers. Er wollte seine Arme um sie legen, doch er würde sie nie wieder mit seiner rechten Hand berühren können. Nie wieder mit beiden Händen ihre Haare streicheln, nie wieder ihre weiche Haut mit zehn Fingern spüren. Und so saß er einfach da und ließ es geschehen, ohne ihre Umarmungen und Küsse zu erwidern.

„Wie konntet ihr aus Seros fliehen?“, fragte er.

Ariane setzte sich zwischen Hilla und Roren, nahm seine Hand und sagte: „Ich habe mitbekommen, wie du das Haus verlassen hast, du weißt schon, mit Bogen und allem. Ich wusste sofort, dass du etwas Dummes vorhattest.“

„Ja, vielleicht war es tatsächlich dumm. Ich wollte den Grauen meine Hilfe anbieten, wenn sie das Dorf dafür verschonen. Aber die Grauen sind nicht gekommen.“

„Ich weiß, ich habe die Etarianer gesehen.“ Sie strich ihr Gewand glatt, sagte dabei: „Wie sie mit ihren Fackeln aus dem Wald gekommen sind und angefangen haben, die Holzhütten anzuzünden … diesen Anblick werde ich nie vergessen.“

„Was hast du gemacht? Wie seid ihr da rausgekommen?“

„Du warst verschwunden und ich hatte solche Angst. Ich dachte, die hätten dich getötet. Da habe ich Hilla geschnappt und bin in den Wald gerannt, weg von den Echsen. Haben uns da versteckt. Als sie fort waren und Seros in Flammen stand, kamen die Männer aus Gerwind. Wir haben unser Versteck verlassen, sind zu ihnen gegangen. Was blieb uns anderes übrig? Wir hatten nichts zu essen und alleine hätten wir es nicht weit geschafft. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Was wäre aus Hilla geworden?“

„Du hast das Richtige getan.“

„Ich weiß.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. Es wirkte gequält. „Dann habe ich dich gesehen. Ich dachte erst, du wärst tot. Du lagst auf einem Karren und warst voller Blut.“

Hilla beäugte ihre Mutter, als würde sie eine Lüge erzählen, etwas Unverfrorenes. „Papa kann nicht sterben.“

Roren und Ariane lächelten. „Offensichtlich nicht“, sagte Ariane und schaute Roren tief in die Augen. „Ich bin nur froh, dass du uns nicht verlassen hast.“ Sie küsste ihn erneut.

Diesmal erwiderte Roren den Kuss, mit seinen Gedanken war er jedoch woanders. Als sich ihre Lippen lösten, fragte er: „Weißt du, warum die Etarianer uns das angetan haben?“

„Nein, das weiß ich nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Wir können nur hoffen, dass es Abtrünnige waren. Wahnsinnige, die voller Menschenhass sind.“

Roren wusste, warum sie das sagte, ihm ging es da nicht anders. Die Etarianer waren ihre einzige Hoffnung im Kampf gegen die Grauen, falls es diese Kreaturen tatsächlich gab. Wenn die Echsen die Menschen tot sehen wollten, sie sogar angriffen, dann konnten sie gleich im Wald bleiben und auf den Tod warten. „Es müssen Abtrünnige gewesen sein“, sagte Roren. „Ja, es muss so sein. Etovernem würde einen solchen Angriff niemals befehlen. Schließlich haben sie den Friedensvertrag unterzeichnet; und sie halten ihre Verträge in hohen Ehren, richtig?“

Ariane antwortete nicht, sagte stattdessen ihrer Tochter, dass sie endlich etwas essen müsse. Roren fragte sich, wer sie schneller in den Abyssus schicken würde. Die Grauen, die Etarianer oder der Hunger.

In der Nacht saßen zwei Dutzend Flüchtlinge aus Gerwind und Seros am Lagerfeuer. Holz knackte und Funken stoben auf. Arianes Kopf ruhte in Rorens Schoß. Seit dem Nachmittag schwieg sie, starrte nun in die Flammen. Roren legte seinen linken Arm um Hilla, die ruhig atmete und zu schlummern schien.

Der Älteste von Gerwind, ein dicker Mann mit Glatze und grauem Schnauzbart, stand als einziger. Er schritt um das Feuer, während er sagte: „Unser Proviant reicht für drei Wochen, wenn wir sparsam damit umgehen. Das sollte reichen, um Rygmoor zu durchqueren und nach Austadt zu gelangen. Ich bin sicher, Fürst Aureld wird uns dort Nahrung für die Weiterreise geben. Dann müssen wir Etovernem erreichen. Die Echsen haben eine Armee und starke Mauern. Dort sind wir vor den Grauen sicher. Und die Echsen haben bestimmt eine Antwort auf den Angriff dieser etarianischen Abtrünnigen. Wenn wir ihnen davon berichten, werden sie die Bastarde bestrafen, ihr werdet sehen. Sie werden den Friedensvertrag nicht brechen.“

„Warum sollte uns Fürst Aureld helfen?“, fragte Roren. Der Älteste verstummte, alle Flüchtlinge schenkten Roren ihre Aufmerksamkeit. Der Qualm des Feuers stieg ihm in die Nase. In der Ferne heulte ein Wolf. Roren sagte: „Ich meine, warum sollte er sein wertvolles Getreide für uns opfern?“

„Weil wir Menschen sind“, sagte Feronin und kratzte sich an seinen Brandblasen. „Und wenn Ogwen sagt, dass der Fürst uns helfen wird, dann wird’s schon stimmen.“

Roren hielt das nicht gerade für einen triftigen Grund, doch er wusste, dass es zwecklos war, hier und jetzt über die Gutherzigkeit eines Fürsten zu streiten. Menschen konnten stur sein, wenn sie sich an eine vage Hoffnung klammerten.

„Sei’s drum“, sagte Ogwen. „Wir werden so oder so das Fürstentum Aureld durchqueren müssen, es gibt keine andere Möglichkeit. Die Wege entlang der Dorrküste im Osten sind länger, die Pfade durch das westliche Feskott-Gebirge beschwerlicher. Das würden wir nicht schaffen.“

„Das heißt, der gesamte Erfolg unserer Reise hängt von Fürst Aureld ab?“, fragte Roren.

„Mehr oder weniger.“

Roren legte seinen Arm fester um Hilla. Die anderen Flüchtlinge schwiegen. Den meisten fielen bereits die Augen zu. Auch Roren fühlte, wie sich Müdigkeit in seine Glieder schlich. Der Tag war anstrengend gewesen, obwohl er die meiste Zeit auf einem Karren gesessen hatte. Wenigstens tat sein Rücken nicht mehr weh. Doch was seine rechte Hand betraf, sah das ganz anders aus.

„Hört mal, ich kenne Fürst Aureld“, sagte Ogwen. „Er wird uns helfen, da bin ich sicher.“

„Woher kennst du ihn?“, fragte Roren.

„Hab im Glaubenskrieg an seiner Seite gekämpft. Nun, vielleicht nicht an seiner Seite, aber ich war im Norden und habe in der Wüste Blut vergossen. Fürst Tiogan würde für das Wohl der Menschheit alles tun. Er ist ein nobler Mann.“ Ogwen nickte, als müsse er damit seine eigenen Worte bestätigen. „Wir sollten nun alle etwas schlafen. Morgen wird ein langer Tag.“

Ariane, Hilla und die anderen Flüchtlinge schlummerten. Nur Roren und Feronin nicht. Als es darum ging, Wachen einzuteilen, hatten sie sich freiwillig gemeldet. Roren könnte ohnehin nicht einschlafen. Die Schmerzen in seiner Hand waren zu stark.

Es war mitten in der Nacht und sie saßen am Feuer, lauschten den Geräuschen der Umgebung und warteten auf Ungewöhnliches. „Warst du auch im Krieg?“, fragte Feronin.

Roren sagte: „Ja, als Bogenschütze in Kabalos.“

„Hm, ziemlich weit weg vom Kriegsschauplatz.“

„Ich habe den ersten Etarianer gesehen, als schon alles vorbei war. Kann mich noch gut an die Farbe seiner Schuppen erinnern. Sie waren so grün wie Moos und seine Augen hatten die Farbe von Holz. Er hat gesagt, die Menschen hätten verloren, der König sei erschlagen worden und die Fürsten hätten kapituliert. Ich wusste nicht genau, was das bedeuten würde, hatte mich sogar gefreut. Endlich nach Hause. Zurück zur Jagd und zu Ariane, in die ich damals frisch verliebt war.“

„Wie alt warst du?“

„Siebzehn.“

„Ich war neunzehn. Musste in Velikigrad kämpfen.“

„Dann warst du ja mittendrin.“

„Ja, so ziemlich. Hab aber nicht lange durchgehalten. Eine Echse hat mir einen Pfeil in den Bauch gejagt.“ Er hob sein verkohltes Leinenhemd und zeigte auf eine Narbe rechts neben dem Bauchnabel. „Hat verflucht wehgetan, sag ich dir.“

„Das glaub ich. Ich hab gehört, sie benutzen Giftpfeile.“

„Diese Echse offenbar nicht, sonst wär ich nicht hier.“

„Stimmt.“

Und damit war das Gespräch über Kriege und alte Leiden beendet und Feronin wandte sich neueren Geschehnissen zu. „Was weißt du über die Grauen?“, fragte er.

„Nicht viel.“ Roren erinnerte sich an alte Weiber und ihre Märchen. Seine Mutter hatte ihm häufig von den Grauen erzählt, meist nachdem er unartig gewesen war. Geschichten über riesenhafte, verunstaltete Menschenfresser, die gerne freche Kinder verspeisten. „Sie leben im Grovoll-Gebirge, im äußersten Süden Vernlands“, sagte Roren. „Sie sollen aschgraue Haut haben, aber das kann auch gelogen sein, ich habe nie einen gesehen. Wer hat das schon?“

„Ist nicht gelogen.“ Feronin und Roren wandten sich um und sahen, wie Ogwen an das Feuer trat.

„Du solltet schlafen, Ältester“, sagte Feronin.

„Kann nicht, mein verdammter Rücken macht das Liegen auf dem Boden nicht mehr mit. Ja, das Alter.“ Er stemmte die Hände in die Hüfte, streckte sich und stöhnte. Dann setzte er sich vor die brennenden Zweige und kratzte sich am Bart. „Ich hab mal einen gesehen.“

„Einen Grauen?“, fragte Roren.

Ogwen sagte: „Sie sind tatsächlich grau, ist also nicht gelogen. Aber ihre Augen, die sind pechschwarz. Und die Grauen sind groß. Der maß mindestens zwei Meter.“

„Wo hast du ihn gesehen?“, fragte Feronin.

„Im Süden von Rygmoor, vor fünfundzwanzig Jahren, während eines Jagdausflugs. Er ist durch die Wälder gestreift, als hätte er etwas gesucht.“

„Und er hat dich nicht bemerkt?“ fragte Roren.

„Nein, ich hatte Glück.“

„Bist du sicher, dass es keiner vom Bergvolk war? Ich hab gehört, in den südlichen Bergen leben eine Menge Barbaren.“

„Sah nicht wie ein Mensch aus, wenn ihr mich fragt. Nein, so kann kein Mensch aussehen.“ Er stocherte mit einem Stock in der Glut des Lagerfeuers. „Jedenfalls war es das erste und einzige Mal, dass ich so eine Gestalt zu Gesicht bekommen habe.“ Während er sprach, vermied der Älteste jeglichen Blickkontakt, und Roren wurde das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte, als er preisgeben wollte. „Roren, du solltest dich hinlegen“, sagte der Älteste nach einer Weile. „Ich übernehme die Wache für dich. Schlaf und komm wieder zu Kräften. Du siehst noch arg mitgenommen aus.“

„Nun gut, wenn du so bereitwillig meine Wache übernehmen willst, sag ich nicht nein.“ Er erhob sich, wünschte Ogwen und Feronin eine erholsame Nacht und machte sich auf dem Weg zum Schlafplatz seiner Familie. Die beiden lagen unter einer Buche. Die Zweige wölbten sich über sie, wirkten wie eine große Hand. Roren blickte zurück zum Lagerfeuer. Der Älteste und Feronin unterhielten sich noch. Feronin schaute in Rorens Richtung.

Als sich Roren neben seine Frau legte, öffnete sie die Augen. „Da bist du ja“, sagte sie und lächelte verschlafen.

„Warum schläfst du nicht?“, fragte er.

„Ich habe nachgedacht.“

„Worüber?“

„Über unsere Leute. Du weißt schon, die Familien, die Seros vor dem Angriff verlassen haben. Sie müssen hier vorbeigekommen sein, oder? Sie haben denselben Weg genommen.“

„Ich denke schon.“

„Heißt das, es könnte sein, dass wir meinen Bruder und seine Frau treffen?“

„Möglich wär’s“

„Das fänd ich schön“, sagte sie, setzte sich auf und küsste Roren. Als er ihre Zunge spürte und ihren Speichel schmeckt­e, konnte er den Gedanken, der in ihm aufgeblitzt war, trotzdem nicht verdrängen. Er dachte an die Worte, die er an den schwarzen Etarianer gerichtet hatte. Frauen, Kinder, Karren und der lange Weg gen Norden. Er hatte dem schwarzen Etarianer alles erzählt, und er war sich sicher, dass die Echsen Eron und den anderen gefolgt waren. Roren fühlte sich schlecht. Als hätte er seine Familie an den Feind verraten.

Sie brachen früh am Morgen auf. Die Sonne war gerade aufgegangen und Nebel hing zwischen den Bäumen wie ein Schleier, der den Weg verhüllte. Der Geruch von feuchten Blättern und die Frische der Morgenluft taten Roren gut, weckten seine Lebensgeister. Er schritt durch den Wald, über Tau und dunkle Erde. „Hast du gut geschlafen?“, fragte Roren seine Tochter.

„Ja.“ Sie waren erst wenige Minuten unterwegs, und doch wirkte Hilla bereits ausgelaugt.

„Hier.“ Er hielt ihr ein Stück Käse hin. Sie nahm es und lächelte. Es lag keine Freude darin.

„Mama sagt, wir treffen vielleicht Onkel Eron. Meinst du, das wär möglich?“, fragte sie.

„Könnte sein, er hat sicher denselben Weg genommen.“

„Hm.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Käse, knabberte daran.

„Kleines, hör mal, ich weiß, dass du Schmerzen hast. Warum setzt du dich nicht auf einen Karren und lässt dich von einem Esel ziehen?“

„Weil du das auch nicht tust.“ Sie zeigte auf seinen Arm. „Du bist auch krank.“

Roren hob den Stumpf in die Höhe und sagte: „Meinem Arm geht es wieder gut.“ Er versuchte, sich die Schmerzen in der fehlenden Hand nicht anmerken zu lassen.

Hilla entgegnete nichts und marschierte schnellen Schrittes voran. Vielleicht aus Trotz, vielleicht um zu zeigen, wie viel Kraft in ihr steckte.

„Ich mache mir Sorgen“, flüsterte ihm Ariane ins Ohr. „Ihre Krankheit … Hilla wird bald schwächer werden, fürchte ich. Was könnten wir dagegen tun?“

Hillas verdrecktes Leinenkleidchen wehte in der morgendlichen Brise. Roren sagte: „Ich weiß es nicht.“

Am späten Nachmittag verkündete einer der Männer, die an der Spitze der Kolonne marschierten, dass sie etwas gefunden hätten. Verlassene Karren und umgeknickte Zweige.

„Andere Flüchtlinge?“, fragte Roren, als der Mann an ihm vorbeilief, um die Nachzügler davon zu unterrichten.

„Ja.“ Der Mann musterte Hilla, die ihn mit großen Augen anstarrte. „Die Kleine sollte besser hierbleiben.“

„Ist es mein Bruder?“, fragte Ariane.

„Das weiß ich nicht“, sagte der Mann und ging.

Bevor Roren etwas entgegnen konnte, lief seine Frau davon. „Ariane, warte!“ Aber sie blieb nicht stehen. Roren ging vor Hilla in die Hocke und sagte: „Liebes, du bleibst bitte bei den anderen.“

Roren hörte die Krähen in den Baumwipfeln, spürte, wie sie ihn beobachteten. Und als er die Leichen sah, erkannte er sie sofort. Es waren die Männer, die das Lebensmittellager ausgeräumt und den Ältesten umgebracht hatten. Glasige Augen glotzten ins Nichts, ihre Körper waren weiß und übersät mit Fliegen und Wunden. Einigen Männern fehlten Gliedmaßen. Gedärm hing aus aufgeschlitzten Bäuchen.

Ogwen beugte sich über eine Leiche und betrachtete die Wunden. Das Blut war dunkel und festgetrocknet. „Die liegen schon länger hier“, sagte Ogwen.

Ariane stand steif inmitten der Leichen. Ihre Haare wehten im Wind wie eine zerrissene Flagge. Sie hielt Ausschau nach etwas, das sie nicht sehen wollte. Und dann fand sie es. „Eron!“ Sie lief auf einen Toten zu, der unter einer Buche saß. Sein bleiches Gesicht wirkte puppenhaft und war auf Gebüsch gerichtet. Erons Überreste ruhten im Schatten des Baumes. Ariane lehnte ihre Stirn an Erons und schluchzte. Roren wollte zu ihr gehen, sie trösten, doch er ekelte sich. Vor dem Toten und dem Leichengeruch; und er fürchtete sich vor Arianes Körper, vor der Wärme, die sie ausstrahlte.

„Was meinst du, Ogwen, waren das die Grauen?“, fragte Feronin.

Der Älteste fuhr mit dem Finger über eine Schnittwunde, sagte: „Nein, ich erkenne Wunden, die von einem etarianischen Krummschwert verursacht wurden, wenn ich sie sehe. Das waren die Echsen.“

Rorens Magen verkrampfte und sein Mund fühlte sich trocken und tot an. „Vielleicht waren es Wegelagerer“, hörte er sich sagen, obwohl er wusste, dass Ogwen mit seiner Vermutung recht haben musste.

„Glaub ich nicht“, sagte der Älteste. „Die Kleidung ist noch da. Die Karren ebenfalls.“

„Hast du nicht gesagt, sie hätten euer Lebensmittellager ausgeräumt, Roren?“, fragte Feronin.

„Ja.“

„Gut“, sagte Ogwen. „Wir nehmen die Karren mit. Mal sehen, wie viel Proviant sie haben.“ Er stand auf und ging zurück zu den anderen, sagte noch: „Wenn jemand neue Schuhe braucht …“ Er zeigte auf die Leichen, dann verschwand er durch die Büsche.

„Haben hier wohl Rast gemacht“, sagte Feronin, während er einem Toten die Stiefel abstreifte. „Wer ist so herzlos und schlachtet Flüchtlinge ab? Und wie konnten die Echsen sie verfolgen? Ob die Menschen wittern?“

Arianes Schluchzen wurde lauter, der Wind schien es zu verstärken. Roren ließ seinen Blick über die Bäume schweifen. Er befürchtete, jeden Augenblick erschlagen zu werden. Von dem schwarzen Etarianer mit den goldenen Augen, der ihm auflauerte, um zu Ende zu bringen, was er in der Nacht der Flammen begonnen hatte. Als Roren die Leichen betrachtete, Männer, mit denen er aufgewachsen war, fiel ihm etwas auf. Etwas stimmte nicht. „Die Männer haben das Lebensmittellager ausgeräumt und sind zusammen mit ihren Familien geflohen.“

„Und?“, fragte Feronin.

„Wo sind die Frauen und Kinder? Die Leichen sind allesamt erwachsene Männer.“

Feronin sah sich um. „Beim Abyssus, du hast recht.“

„Sind alle verschwunden“, sagte Roren. Dann lauschte er dem Flattern und Krächzen der Krähen, während Ariane ihren toten Bruder umarmte und weinte.

Eine Heimat des Krieges

Подняться наверх