Читать книгу Eine Heimat des Krieges - Jan-Henrik Martens - Страница 5
Steine
ОглавлениеSaoana saß auf einem Schimmel und ritt an der Seite ihres Vaters durch ein Waldstück. Die Leibgarde folgte ihnen. Fünf Mann in schwerer Rüstung, die auf Hengsten stumm die Umgebung beobachteten. Ein Pferd schnaubte, Grillen zirpten im Dickicht.
„Wir hätten die Echsen abschlachten sollen“, sagte Tiogan. Er war ein dünner, großer Mann. Ein grauer Bart umrahmte sein Gesicht, sein Haupthaar begann sich zu lichten. Er war aufgebracht, seit Tagen schon. Saoana fühlte sich unwohl, wenn er sich über die Etarianer aufregte. Ihr Bauch grummelte dann und sie traute sich nicht, etwas zu sagen, wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Tiogan sagte: „Ohne ihre Verbote hätten wir noch ein Heer, das die Dörfer beschützen könnte. Da würden die Bauern nicht fliehen, nur weil sie glauben, Graue überfielen sie. Graue, welch Schwachsinn. Ich sage dir, wer die Dörfer angreift. Barbaren aus den Bergen, die leichte Beute machen wollen. Das ist alles. Der König hätte sich darum gekümmert, bevor es zum Problem geworden wäre. Doch jetzt fürchten sich die Bauern, weil sie Altweibergeschichten über Menschenfresser glauben. Als ob wir nicht genug Sorgen hätten.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Für all das sind nur die Echsen verantwortlich, niemand sonst.“
Tiogan war der Herrscher von Aureld, eines Fürstentums im Herzen von Vernland. Vor vierzehn Jahren hatte er gegen die Echsen gekämpft und diese Zeit nie vergessen. Manchmal schwärmte er davon, wie er schwitzend im Wüstensand gestanden und Seite an Seite mit den anderen Fürsten Blut vergossen hatte. Damals, als es noch einen König gab, für den sie gestorben wären. Seitdem nannte er die Fürsten Brüder und blickte oft verträumt gen Norden.
Als Saoana mit ihrem Vater den halbdunklen Wald hinter sich ließ und vom Sonnenlicht geblendet wurde, fragte sie: „Was willst du gegen die Angriffe unternehmen?“ Sie fuhr sich durch ihr rotes Haar, das in ihrem Gesicht klebte. Schweißflecken breiteten sich unter ihren Achseln aus, verdunkelten das blassblaue Kleid. Saoanas sommersprossige Arme waren gerötet und schmerzten. Ein Leiden, das alljährlich wiederkehrte, immer wenn der Sommer anbrach.
Tiogan trug ein dunkelblaues Gewand aus Brokat und Schweißperlen rannen über seine Stirn. Er schnaufte, wirkte außer Atem. „Was ich dagegen tue? Nichts. Solche Probleme lösen sich von selbst. Die Barbaren plündern, nehmen sich, was sie brauchen, dann verschwinden sie wieder in das Loch, aus dem sie gekrochen sind. Es ist nicht das erste Mal. Sie sind lästig, aber zu einer ernstzunehmenden Bedrohung werden sie nie.“ Er reckte sich auf seinem Sattel. Das Leder knirschte. „Das Gerede über Graue bereitet mir wesentlich mehr Sorgen. Wenn die Bauern weiter diese Mär verbreiten, gerät noch ganz Vernland in Panik.“
Gemächlich ritten sie weiter. Getreidefelder wogten im Wind wie goldene Meere. Einige Bauern arbeiteten inmitten der Ähren. Es war Erntezeit. Unter blauem Himmel schwangen sie Sensen und luden Getreide in Karren. Tiogan beobachtete die Arbeiten und nickte bei jeder neuen Fuhre. „Wieder ein gutes Jahr, dem Großen Richter sei Dank. Wir werden jeden Halm brauchen“, sagte er.
Ein Bauer streckte sich. Getreide hing in seinen Haaren. Er hustete und wischte sich Schweiß von der Stirn. Ein anderer musterte den Fürsten, als wäre er ein fremdartiges Wesen. Als dem Bauern klarwurde, wer vor ihm stand, verbeugte er sich. „Sollen arbeiten, nicht glotzen“, sagte Tiogan. „Viel Zeit bleibt nicht mehr.“
„Viel Zeit? Was meinst du damit? Was hast du vor?“, fragte Saoana.
„Mach dir keine Gedanken.“ Er sah sie nicht an. „Lass uns zur Burg reiten, diese Hitze ertrag ich nicht länger.“
Sie ritten durch das Südviertel Austadts. Steinerne Häuser, die für die Stadt bezeichnend waren, reihten sich links und rechts die gepflasterte Straße entlang und verliehen der Stadt einen kargen Charakter. Eine graue Insel inmitten eines Ozeans aus Getreide. Ein Fluss, benannt nach Grisos, dem ersten Fürsten Aurelds, verlief durch die Stadt wie ein blaues Band, teilte sie in Nord und Süd. An diesem Nachmittag waren die Märkte und Gassen des Südviertels überfüllt. Männer feilschten mit Händlern um die Preise von Kartoffeln, Brot und Kleidung. Frauen unterhielten sich miteinander, lachten und tratschten. In der Ferne ragte der spitz zulaufende Turm des Richterheiligtums in den Himmel. Das Heiligtum war einst ein Ort des Glaubens und der Gemeinschaft, bevor die Etarianer es in ein Relikt der Vergangenheit verwandelt hatten.
Wenn Austädter die Aurelds erblickten, verbeugten sie sich oder nickten respektvoll. Staunen, Getuschel, verstohlene Blicke. Saoana wusste, dass die Aufregung größtenteils ihrem Vater galt. Gelegentlich lächelte Fürst Tiogan den Anwohnern zu und sprach ein paar Worte mit dem Schmied, dem Metzger, dem Kürschner. Er tat es nicht, weil er das Volk liebte. Präsenz zeigen, nannte er es. Er wollte den Austädtern zu verstehen geben, dass er für sie da war, immer da sein würde. Das erzählte er Saoana gern bei Abendbrot und Kerzenschein.
Als sie sich einer Brücke näherten, die über den Grisos führte, sagte Tiogan: „Eine Taube ist heute früh angekommen. Hat einen Brief aus Rygmoor gebracht.“
„Was stand in dem Brief?“, fragte Saoana. „Schlechte Kunde?“
„Albin macht sich Sorgen um sein Fürstentum. Ich kann es ihm nicht verübeln. Die Bauern lassen Felder und Dörfer zurück. Wenn sie weiterhin in Scharen fliehen, wird Albins gesamte Ernte verkommen. Er befürchtet, dass die Angst vor den Grauen sein Fürstentum in den Abgrund stürzt.“ Tiogan schmunzelte.
„Und wenn es wahr ist?“, fragte Saoana. „Es steht ja außer Frage, dass Graue gesichtet wurden.“
Tiogan schnaubte und sagte: „Außer Frage? Ich weiß nicht, was Albins Späher gesehen haben wollen, Graue gibt es jedenfalls nicht; und die angebliche Sichtung war vor einem Monat, seitdem ist nichts geschehen. Wie dem auch sei, im Brief stand nichts Näheres. Nur eines noch, Fürst Albin wird Willet verlassen und nach Austadt kommen.“
„Fürst Rygmoor kommt? Warum?“
„Nun, mein sechzigster Namenstag ist nächsten Monat. Ich habe ihn eingeladen, und es gibt da noch etwas, worüber wir reden müssen. Er wird seinen Sohn mitbringen.“
„Owin? Das bedeutet …“ Saoana verstummte. Vor Jahren hatte ihr Vater dem Fürsten Rygmoors ein Versprechen gegeben. Saoana hatte es verdrängt, nicht daran denken wollen. Wenn ihre Eltern von der Heirat sprachen, hörte Saoana kaum zu, nickte nur. Und doch stellte sie immer wieder dieselbe Frage, auch wenn sie die Antwort kannte. „Muss ich Owin wirklich heiraten?“
Tiogan sagte: „Fang nicht schon wieder damit an. Es wird Zeit, dass du deiner Pflicht nachkommst. Wir haben das lange genug aufgeschoben. Du bist schon einundzwanzig. Als ich deine Mutter geehelicht habe, war sie fünfzehn. Und du kennst Owin doch, oder nicht?“
„Ich habe ihn seit dreizehn Jahren nicht gesehen, wie kann ich ihn da kennen?“
„Du wirst ihn heiraten, das habe ich Albin nach dem Krieg geschworen. Haben im Dreck gelegen, Echsen geköpft und gemeinsam schwere Zeiten überstanden. Der Mann ist mir ein wahrer Freund, das weißt du doch. Und du weißt, dass ich ihm versprochen habe, unsere Häuser zu verbinden.“ Seine Stimme wurde von Satz zu Satz lauter. Saoana kannte es nicht anders. Er schrie sie immer an, wenn es um Heirat ging. „Owin ist ein kluger und gesunder Mann. Du hast früher deine Spiele mit ihm gespielt, du wirst künftig deine Spiele mit ihm spielen. Lächle, sieh gut aus, schenk ihm einen Sohn und mir einen Enkel, das ist deine Pflicht als meine Tochter. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun.“
Saoana blickte auf die Pflastersteine der Stadt, lauschte dem Klappern der Hufe und dem Treiben auf der Straße. Metall klirrte in den Schmieden, Marktschreier priesen Waren an, Kinder lachten in einer Seitenstraße. Die Geräusche erinnerten Saoana an ihre Kindheit. An das Spielen in den Gassen zwischen den Steinhäusern. Ihr Vater hatte Saoana nie daran gehindert, mit den Kindern des einfachen Volks auf dem Markt Verstecken zu spielen. Die Austädter waren stets nett zu ihr gewesen, hatten ihr Brot und Kekse gegeben, sie behandelt, als wäre sie ein gewöhnliches Mädchen. Sie hatte damals viele Freunde gehabt und die Tage waren von Gelächter erfüllt. Sogar Owin war unter ihnen gewesen, lachte und tobte mit Saoana, während ihre Väter Blut vergossen. Bis der Glaubenskrieg dem ein Ende bereitete.
Als Saoana sieben Jahre alt gewesen war, ging der Krieg verloren, und ihr Vater hatte sich verändert. Blutend und humpelnd war er aus dem Norden heimgekehrt. Auf seinem Pferd hatte eine Leiche gelegen. Blutige Lumpen verdeckten den Körper. Seitdem begleiteten Leibwächter Saoana bei ihren Ausflügen, verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Saoana durfte nicht mehr allein ausreiten, ohne bewaffnete Begleitung keinen Fuß vor die Burg setzen. Sie verspürte bei ihren Ausflügen keinen Frohsinn, sah nur die Leibwächter, die ihr folgten, sie beäugten.
Saoanas unbeschwerte Kindheitstage waren zu den einzigen Erinnerungen geworden, die sie lächeln ließen, immer wenn sie durch Austadt ritt. Owin zu heiraten, würde bedeuten, in Rygmoor leben zu müssen; und Saoana befürchtete, dass ihre wohltuenden Erinnerungen in der Fremde verblassen würden, bis sie schließlich vollends verschwänden.
Soldaten bewachten den einzigen Weg, der den grasbewachsenen Hügel hinaufführte, auf dem die Burg der Aurelds thronte. Eine vier Meter hohe Mauer umrahmte den Rest des Hügels, sorgte für Schutz und Abgeschiedenheit.
Während sie zur Burg hinaufritten, dachte Saoana an die gemeinsamen Ausflüge mit ihrem Vater. Bevor ihm das Reiten zunehmend Hüftschmerzen bereitet hatte, war er oft mit ihr ausgeritten, sogar bis zu den kleinen Siedlungen, die mehrere Wegstunden von Austadt entfernt lagen. Seit einigen Jahren stieg Tiogan nur noch in den Sattel, wenn er den Wunsch verspürte, seinen Untergebenen vom Rücken eines Rosses aus zuzuwinken. Saoana kümmerte das wenig. Sie genoss die frische Luft und die Stimmen des Volkes bei jeder Gelegenheit, blendete die schlecht gelaunten Leibgarden aus; und im Laufe der Jahre hatte Saoana alle Wälder und Felder beritten, jede Gasse kennengelernt. Sie wollte sich nicht vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. Nicht wegen eines Mannes, den sie das letzte Mal gesehen hatte, als er mit Stöcken spielte.
Saoana schlenderte über die Burgterrasse und genoss die Sonnenstrahlen. Juana blätterte durch ein dickes Buch, das sich mit der Historie der großen Adelshäuser Vernlands befasste. Sie sagte: „Ich könnte mir das nie merken.“ Juana war Saoanas Zofe und beste Freundin.
Saoana lehnte sich gegen das Geländer der Terrasse. Der Garten der Burg erstreckte sich unter ihr. Haselnusssträucher, Lavendel, ein Springbrunnen. Saoanas Mutter, Fürstin Fernora, hatte den Garten anlegen lassen, um etwas Farbe in die Burg zu bringen. Juana fragte: „Welches Fürstentum ist das?“ Sie ging lächelnd auf Saoana zu, drückte ihr das Buch in die Hand und deutete auf blutrote Wellen vor blauem Grund.
„Das ist das Wappen Fürst Ubars. Er ist der Herrscher über die Dorrküste“, sagte Saoana. Sie hatte die Wappen auswendig lernen müssen, dazu wurde sie von ihrem Vater gezwungen. Stets betonte er, wie wichtig das sei. Eine pflichtbewusste Adelige müsse befreundete Häuser kennen.
„Und hier ist die grüne Linde auf weißem Grund“, sagte Juana. Auf einer Landkarte war das Wappen Fürst Rygmoors eingezeichnet. „Das Haus deines Gemahls.“
Saoana hatte ihr von dem Gespräch mit Tiogan erzählt. Nun musste sie sich wieder anhören, wie sehr Juana das Hochzeitsfest herbeisehnte. Möglichst prunkvoll solle es sein. Mit großen Kutschen, weißen Tauben und innigen Küssen. Saoanas Bündnis mit Owin war etwas, über das Juana sich freute, wie es nur eine beste Freundin konnte. Mit großen Augen, strahlendem Lächeln und einem Hauch von Neid. Saoana konnte es ihr nicht verübeln. Juana war unscheinbar. Ihre Figur glich einem Grashalm. Dunkelblonde Haare umrahmten ihr schmales Gesicht. Sie war eine bescheidene Frau, die stets hoffte, dass etwas vom Glanze der Aurelds auf sie abfärbte. Nachdem Juana ihre Eltern verloren hatte, war sie in die Burg gezogen und für Saoana dagewesen. Sie konnte mit Juana über alles reden. Kleider, Frisuren, Beschwerden während der Monatsblutungen. Saoana fragte sich, ob Juana mit ihr nach Rygmoor käme, ob Tiogan es erlauben würde. Saoana brauchte keine neuen Zofen, nur die eine. „Wer denkt sich denn sowas aus?“, fragte Juana und verzog das Gesicht.
Saoana brauchte eine Weile, um das Wappen zu finden, das diese Reaktion ausgelöst hatte. „Hm, das ist das Wappen Fürst Hohs von der Zunge. Vater sagt, er habe nie einen humorloseren Mann getroffen. Obwohl ich Fürst Hoh nicht kenne, glaube ich Vater. Wer sich einen abgetrennten Kopf zum Wappen nimmt, muss ja humorlos sein.“
„Du weißt so viel.“ Juanas Augen leuchteten vor Bewunderung. Der Blick verunsicherte Saoana. Sie hatte nicht das Gefühl, sonderlich bewundernswert zu sein. Nicht für das Auswendiglernen von Namen und Wappen. Sie hatte nur getan, was von ihr verlangt wurde.
Juana blickte zum Himmel. Ihre Augen weiteten sich. „Die Sonne geht bald unter“, sagte sie. „Ich muss los.“
„Wo willst du denn hin?“
„Ich treffe mich mit jemandem.“ Sie lächelte. Ihre Wangen erröteten.
„So? Mit wem? Einem Mann?“
Juana antwortete nicht, fragte stattdessen: „Darf ich gehen?“
„Du fragst doch sonst nie. Was soll die Geheimniskrämerei?“ Juana legte den Kopf schief und sah Saoana tief in die Augen, ihr Ich-möchte-nicht-darüber-sprechen-Blick. Saoana seufzte und sagte: „Natürlich darfst du gehen.“
„Danke, danke. Wir sehen uns dann morgen, ja?“ Sie gab Saoana einen Kuss auf die Wange und stürmte aus dem Garten. Während der Wind durch Sträucher strich, schaute Saoana ihr hinterher. Juanas Speichel trocknete auf ihrer Haut, und sie konnte noch immer die Wärme ihrer Lippen spüren.
Im Kamin prasselte ein Feuer, das den fensterlosen Speisesaal in ein angenehmes Rot tauchte. Saoana saß mit ihren Eltern zu Tisch. Das Banner ihres Hauses prangte über dem Kamin - eine goldene Getreideähre auf schwarzem Grund. In den dunklen Ecken des Raumes standen Bedienstete und warteten auf Anweisungen, doch es herrschte Schweigen. Tiogan starrte auf ein gebratenes Hähnchen und Fürstin Fernora nippte an einem Becher Wein. „Du isst ja gar nicht“, sagte sie, unterbrach damit die Stille.
„Ich habe keinen Hunger“, sagte Tiogan. Seit der Sichtung der Grauen wurde der Fürst von Tag zu Tag schweigsamer. Wenn Fernora bei ihm war, sagte er nur das Nötigste. Oft saß er ganze Abende allein in seinem Arbeitszimmer. Das hatte er vorher nie getan. Die Falten in seinem Gesicht wirkten tiefer.
„Worüber grübelst du jetzt schon wieder?“, fragte die Fürstin. „Ist ja nicht mehr auszuhalten mit dir.“
Er räusperte sich. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Denkst du, ich merke nicht, wenn du mit deinen Gedanken woanders bist?“
Saoana steckte sich ein Stück Hähnchenfleisch in den Mund. Sie wollte sich nicht an dem Streit beteiligen. Wenn ihre Mutter in Rage geriet, war es unklug, sich einzumischen.
„Ich denke über unsere Zukunft nach“, sagte Tiogan.
„So? Geht uns das Geld aus? Ist die Ernte schlecht?“
„Unserem Fürstentum geht es prächtig. Ich denke an die Zukunft der Menschen.“
Fernora legte die Stirn in Falten. „Das solltest du nicht tun, das bringt nur Unglück. Hat es nicht gereicht, dass unser …“
Tiogan hob die Hand. „Bitte, sprich nicht davon.“
Fernora öffnete den Mund, schwieg jedoch, als die große Holztür des Speisesaals knarrend aufschwang und ein Etarianer den Raum betrat. Er verneigte sich und sagte: „Mein Fürst, meine Damen.“
„Guten Abend, Xaviin“, sagte die Fürstin.
Tiogan schüttelte mit dem Kopf und griff nach einer Weinkaraffe. Die Echsen hatte er noch nie gemocht, weder damals noch heute; und er machte keinen Hehl daraus. „Was willst du, Schuppiger?“, fragte er.
Die Etarianer hatten den Fürsten nach dem Krieg Botschafter zur Seite gestellt, doch das war ein verharmlosender Begriff für das, was sie wirklich waren. Spitzel, die jene aufspüren sollten, die sich nicht an die etarianischen Verbote hielten; und für den reichsten Fürsten war ihr bester Spitzel gerade gut genug.
„Verzeiht mir die Störung, mein Fürst.“ Xaviin trug eine dunkelgraue, schmucklose Robe. Seine olivgrünen Schuppen schimmerten im Schein des Feuers und seine gelben Augen reflektierten das Licht. „Es sind Flüchtlinge aus dem Süden eingetroffen. Sie stehen vor Euren Toren und bitten um Nahrung für die Weiterreise.“ Von allen Etarianern, denen Saoana begegnet war - viele kannte sie nicht -, beherrschte Xaviin die Sprache der Menschen als einziger akzentfrei.
„Wie viele, Echse?“ Tiogan wandte seinen Blick von der Weinkaraffe ab, musterte den Etarianer mit zusammengekniffenen Augen.
„Fast zweihundert, mein Fürst.“
„Wohin wollen sie?“
„Nun, es scheint, als wären sie auf dem Weg in den Norden, nach Etovernem.“
„Zu den Schuppigen?“
Xaviin atmete hörbar aus und kratzte sich am haarlosen Hinterkopf. „Das haben sie mir jedenfalls erzählt.“
„Was hindert sie daran, in meinem Fürstentum Hilfe zu suchen?“ Tiogan blickte ihn herausfordernd an. Er wartete auf ein falsches Wort, eine falsche Geste, einen Grund, die Echse anzuschreien.
Xaviin blieb ruhig. „Mein Fürst, ich kann Euch nur antragen, was mir erzählt wurde. Offensichtlich glauben sie, bei Euch keinen Schutz finden zu können, sollten die Grauen tatsächlich das Reich der Menschen angreifen. Ihr habt keine Armee, die Etarianer schon. Und denkt an den Friedensvertrag. Ihr habt ihn dereinst selbst unterzeichnet.“
Tiogan füllte seinen Becher mit Wein und sagte: „Ja, gezwungenermaßen. Und wessen Schuld ist das? Ihr Echsen habt uns alles genommen, nicht wahr? Armee, König, den Glauben. Und nun wenden sich die Hilfesuchenden an euch, nicht an ihre Fürsten. Das habt ihr geschickt eingefädelt. Ich würde Beifall klatschen, hätte ich die Hände frei. Bist du Stolz darauf? Freust du dich? Es ist einfacher, ein Volk zu unterdrücken, das keinen Glauben hat, nicht wahr?“
Der Große Richter war der Grund für den Glaubenskrieg gewesen, folglich hatten die Etarianer den Glauben verboten. Wer ihn dennoch ausübte, wurde bestraft. Saoana hatte gesehen, wie die Menschen, die in ihren Kellern Altäre errichtet hatten, von Henkern ausgepeitscht wurden. Ihre Rücken waren mit blutigen Rissen übersät, ihr entblößtes Fleisch hatte in der Sonne geglänzt.
„Ihr wart es doch, Fürst. Ihr habt den Glaubenskrieg begonnen“, sagte Xaviin. „Oder habt Ihr das vergessen?“
Das entsprach der Wahrheit, doch Tiogan sah das anders. Er erhob sich - der Holzstuhl scharrte über den Steinboden -, presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste. „Beruhige dich“, sagte die Fürstin und berührte seinen Arm.
Tiogan atmete tief durch. „Sag den Flüchtlingen, dass sie von mir keine Hilfe zu erwarten haben, weder heute noch sonst wann. Sollen sie doch beim Echsenpack glücklich werden.“
Xaviin zeigte sich unbeeindruckt, sagte bloß: „Sehr wohl.“ Er lächelte und verneigte sich, dann machte er kehrt und verließ den Saal.
Tiogan leerte seinen Wein mit einem Zug. Dann musterte er den Becher, als befänden sich Worte darauf, die ihm sagten, was zu tun sei. Tiogan nickte und sagte, er habe etwas zu erledigen. Nachdem er den Raum verlassen hatte, schmeckte Saoana das Hähnchen nicht mehr und ihre Mutter blickte besorgt in das Kaminfeuer.
Der Vollmond warf ein fahles Licht auf die Dächer von Austadt. Saoana stand auf dem Wehrgang der Burg und lehnte sich gegen eine Zinne. Sie blickte auf die Stadt und die wogenden Getreidefelder jenseits der Wirtshäuser und Marktstände, dann schloss sie die Augen. Eine Brise streichelte über ihr Gesicht. Saoana stellte sich vor, dass der Wind Gelächter zu ihr trug. Das Gelächter von angetrunkenen Männern, die in Kaschemmen Geschichten erzählten; das Lachen von Frauen, die sich mit Freundinnen über den neusten Tratsch amüsierten; und das Kichern von Kindern, die von ihren Vätern gekitzelt wurden. Erinnerungen überkamen Saoana.
Sie hatte vor einem Altar gestanden, unten im Verlies. Sie war elf Jahre alt gewesen. Neben ihr hatte Tiogan gekniet. Er stank nach Wein und Schweiß und war lediglich mit einem weißen Leinentuch bekleidet. „Komm, meine Kleine, lass uns zum Großen Richter beten.“
Saoana kniete nieder und spürte kalten Stein, der gegen ihre Haut drückte und rote Striemen hinterließ. Ihr Schatten flackerte im Licht der Fackeln. Saoana sah den Großen Richter auf dem Altar, eine Skulptur, so groß wie eine Männerhand. Sie stellte einen Greis dar, der auf einem weißen Wal ritt. Die blauen Augen des Gottes musterten Saoana, und obwohl sie gewusst hatte, dass die Augen bloß Saphire waren, fühlte sie sich beobachtet.
„Auf dass die Menschen, denen wir zu Lebzeiten begegnen, ein gerechtes Urteil über uns sprechen mögen, wenn wir ihnen im Abyssus gegenüberstehen. Möge der Große Richter unsere Absichten erkennen und uns unseren Taten entsprechend wiederauferstehen lassen. Als Fürsten, Bauern oder Straßenköter“, hatte Tiogan gesagt und Saoana angesehen, als wolle er sagen, sie solle ihm keine Schande machen. Dass sie sich benehmen und tun solle, was er verlange, sonst würde er im Abyssus schlecht über sie urteilen. Saoana hatte den Blick gesenkt und die Hände zum Gebet gefaltet.
Eine Stimme riss sie aus ihrer Erinnerung. „Ihr solltet Euch zu Bett begeben, meine Dame.“ Xaviin stand hinter ihr.
„Was macht Ihr hier oben?“, fragte Saoana.
Der Etarianer trat näher. Er hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und blickte zum Nachthimmel. „Ich komme gerne hier hoch. Der Anblick des Mondes beruhigt mich.“
„Könnt Ihr nicht schlafen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich … nein, in letzter Zeit nicht so gut.“ Er sah Saoana nicht an, betrachtete stattdessen den Mond, als gäbe es nichts Schöneres.
„Er ist Eurem Volk heilig, richtig?“, fragte Saoana.
„Ich bin überrascht. Woher wisst Ihr das? Euer Vater wird es Euch nicht erzählt haben, nehme ich an.“
„Ich vertreibe meine Zeit mit dem Lesen dicker Bücher, meistens im Garten.“ Sie versuchte vergebens, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen.
„Es stimmt, der Mond ist die Heimat der Hohen Kriegsherren, ruhmreiche Anführer der etarianischen Nation.“ Saoana wusste, dass es für Etarianer keinen Gott gab. Stattdessen verehrten sie ihre verstorbenen Krieger, die Heldentaten vollbracht hatten. „Mein Bruder wird nach seinem Tod auch dort leben“, sagte Xaviin.
„Ich wusste nicht, dass Ihr einen Bruder habt. Wenn er nach seinem Tod auf dem Mond ruhen wird, dann muss er ein Held sein, nicht wahr?“
„Ja, das ist er. Er hat im Glaubenskrieg … nun, er hat Großes vollbracht.“
Die Brise wurde stärker und die Getreidefelder am Horizont bewegten sich hin und her. „Dann ist Eure Familie hoch angesehen?“, fragte Saoana.
„Nein, bei uns Etarianern muss man sich hohes Ansehen selbst erarbeiten, ungeachtet der Herkunft. Meine Eltern waren einfache Seeleute, ich bin nur der Berater eines Menschen. Atoz hingegen … er ist viel mehr.“
„So weit entfernt von Eurer Heimat zu sein, das macht Euch bestimmt zu schaffen.“
„Ein wenig.“ Er senkte den Kopf. „Es ist nicht einfach, der einzige Etarianer in einer so großen Stadt zu sein. Überall Menschen, da hab ich schon manchmal Heimweh. Die wenigen etarianischen Händler und Soldaten, die gelegentlich Austadt besuchen, ändern daran auch nichts. Mein Volk verlässt Etovernem äußerst ungern, wisst Ihr? Nur, wenn es nötig ist. Hier draußen erstrahlt die gezackte Sonne nicht.“
Sie schwiegen einen Moment, dann fragte Saoana: „Vermisst Ihr Euren Bruder?“
„Manchmal. Ich weiß noch, wie wir als Kinder lachend durch die Straßen Etovernems gelaufen sind. Egal, was wir gespielt haben, ob Verstecken oder Fangen oder Raufen, ich war ihm stets unterlegen. Ich schätze, Atoz war schon immer für Höheres bestimmt.“
„Warum?“
Xaviin lächelte. „Er hat schwarze Schuppen und goldene Augen. Das kommt bei unserem Volk ausgesprochen selten vor. Nur einmal in hundert Jahren, heißt es. Es ist ein Zeichen des Segens der Hohen Kriegsherren.“
„Deshalb wird er von seinem Volk verehrt? Weil er schwarze Schuppen hat?“
„So ist es Tradition.“ Er machte kehrt und schickte sich an, den Wehrgang zu verlassen. „Nun denn, es ist spät und ich muss mich zu Bett begeben. Ich will versuchen, wenigstens etwas Schlaf zu finden. Ich wünsche Euch eine erholsame Nacht, meine Dame. Ich hoffe, wir bekommen häufiger die Gelegenheit, uns so angenehm zu unterhalten.“ Er verneigte sich und lächelte. Anders, als er beim Abendessen gelächelt hatte. Wärmer und aufrichtiger. Bevor er ging, warf er einen letzten Blick auf den Mond.
Saoana schlenderte über den Hof der Burg. In Gedanken war sie bei Xaviin und seinen Worten über die Kriegsherren und ihre Ruhestätte am Nachthimmel. Vielleicht lebten die Helden der Etarianer tatsächlich auf dem Mond, vielleicht wurden sie von jemandem zu Göttern erhoben. Eine Belohnung für ein Leben des Kampfes und der Aufopferung. Könnte es dann nicht auch stimmen, dass Menschen in den Abyssus gelangten? Dass dort entschieden wurde, was sie im Nachleben sein würden, welche Belohnung Saoana für ihr Leben bekäme? Vielleicht hatte ihr Vater recht und der Große Richter beobachtete sie und ihre Taten; und wenn sie als ehrbare Person wiedergeboren werden wollte, musste sie tun, was von ihr verlangt wurde, auch wenn das bedeutete, Owin zu heiraten und den Rest ihres Lebens in Rygmoor zu verbringen.
Das Quietschen einer Tür unterbrach Saoanas Gedanken. Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drang Licht und Männer der Stadtwache traten heraus. In voller Rüstung marschierten sie über den Burghof. Ihre schweren Stiefel schepperten bei jedem Schritt und Schwerter baumelten von ihren Gürteln. Saoana konnte nicht sagen, ob sie gesehen wurde. Falls dem so war, störte es die Stadtwachen nicht. Sie schauten nicht nach rechts und links, zielstrebig marschierten sie Richtung Stallungen und verschwanden in den Schatten der Burg. Ein lautes Husten ertönte aus dem Arbeitszimmer.
Auf dem Schreibtisch standen Kerzen. Tiogan saß vor einem Schrank, der mit Dokumenten vollgestopft war. Die Luft roch nach Wachs und altem Papier. Der Fürst blickte aus dem Fenster zu den Sternen, bemerkte Saoanas Anwesenheit nicht. „Warum war die Stadtwache hier?“, fragte sie.
Bei dem Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen. „Verflucht, schleich dich nicht so an“, sagte er und seufzte. „Du hättest das nicht sehen sollen.“
„Wohin hast du die Wachen geschickt?“
„Sie überbringen den Fürsten eine Nachricht.“
„Allen?“
„Ja, ich lade alle zu meinem Namenstag ein.“
„Aber du kannst die meisten nicht ausstehen.“ Sie zögerte, überlegte. Etwas stimmte nicht. „Warum reiten die Boten bei Nacht aus? Warum in voller Rüstung?“ Tiogan starrte stumm in eine Kerzenflamme, als hoffte er, seine Tochter dadurch verscheuchen zu können. Er sah müde und älter aus, abgekämpfter. Saoana fragte: „Du wolltest nicht, dass Xaviin das mitbekommt, nicht wahr?“
„Dieser verdammte Schnüffler. Ich kann nicht mal niesen, ohne dass er seinen Generälen Bericht erstattet.“ Er fuhr sich durch den Bart, erhob sich von seinem Holzstuhl und trat ans Fenster. „Hab ich dir je erzählt, wie ich zum ersten Mal den König getroffen habe?“
„Nein, davon hast du nie was gesagt.“
„Sein Erbe war geboren, der jetzige Fürst Qubertín. Ein feiger Hund, wenn du mich fragst, aber ich schweife ab. Der alte König richtete ein großes Turnier aus, um die Geburt zu feiern. Ich bin mit meinem Vater in die Königsstadt geritten und habe das Monument des Großen Richters vor dem Königspalast gesehen. Ich war fünfzehn Jahre alt. Beim Turnier habe ich mit dem König gesprochen. Ich weiß nicht mal mehr, worüber. Nur seine goldene Robe und seine Krone, die im Sonnenlicht geschimmert hat, sind mir in Erinnerung geblieben.
„Zehn Jahre später kamen die Echsen aus ihrem fernen Land im Westen. Mit Schiffen überquerten sie das Reich des Großen Richters und kauften dem alten Ilarovich die Wüste ab. Aber wie hatten sie das Meer überqueren können? Ungläubige, die von den Walen des Heiligen Ozeans hätten verschluckt werden müssen? Das Volk fing an, unseren Glauben zu hinterfragen, sich vom Großen Richter abzuwenden, während die Schuppigen reicher wurden. Mit ihrem Handel, ihren Verträgen, ihren Waren aus fernen Ländern. Der König musste im Krieg beweisen, dass unsere Kultur die stärkere war. Aber wir haben versagt.“
Während er seine Rede hielt, ging er im Raum auf und ab. Das tat er häufig: Reden halten und hektisch herumlaufen, während seine Worte lauter wurden. Er blieb vor Saoana stehen. Seine stahlblauen Augen waren feucht und funkelten im Kerzenlicht. Er seufzte und seine Stimme zitterte, klang nicht mehr kraftvoll. „Seit dem Krieg sind wir schwach, haben den Glauben an unsere Kultur und Stärke verloren. Fürsten und Grafen sind machtlos. Alte Männer in dunklen Burgen, die nur tun dürfen, was die Echsen ihnen vorschreiben. Wir sind selbst schuld. Zu viele Menschen sind im Glaubenskrieg gefallen, zu viele Familien sind zerbrochen.“
Saoana erinnerte sich an Tiogans Rückkehr und an die Leiche in seinen Armen, die er durch die Stadt getragen hatte. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie ihn weinen sah. „Seit vierzehn Jahren bete ich für eine Gelegenheit, das wiedergutzumachen“, sagte er. „Jetzt ist sie endlich da. Diese Flüchtlinge, die zu Hunderten in den Norden strömen, werden Etovernem beschäftigen, die Stadt anfällig machen. Die Boten, die du gesehen hast, werden die anderen Fürsten darum bitten, eine Heerschau abzuhalten. Es ist an der Zeit, eine Armee aufzustellen, es ist an der Zeit, Rache zu nehmen. Für unsere Familien und für das, was verlorengegangen ist.“
Er umarmte Saoana, küsste ihre Stirn. Sie roch seinen Schweiß, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und erschrak, als sie seine Knochen spürte und bemerkte, wie dünn er geworden war.