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Sonne

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Der grüngeschuppte Redner stand auf einer Holzkiste, mitten auf dem Marktplatz. Er blickte auf ein Dutzend Etarianer herab.

Atoz und Gaitaan lehnten gegen einen Marktstand, der etwas Schatten spendete. Es war ein heißer Tag, die Luft flirrte. Die meisten Etarianer waren in ihren Häusern geblieben. Atoz wünschte, der Redner und seine Zuhörer hätten es ihnen gleichgetan.

„Die Menschen werden unser Untergang sein“, rief der Redner. „Brüder und Schwestern, merkt euch meine Worte. Sie sind Fanatiker, kaum besser als Barbaren. Sie glauben an einen Gott in Gestalt eines Greises. Sie bauen keine Schiffe und fahren nicht zur See, weil sie glauben, ihr Gott lebe auf dem Meeresgrund und befehlige Wale, die jeden verschlucken, der sein Reich überquere.“ Einige Etarianer lachten, die meisten lauschten regungslos, die Hände in den Taschen ihrer Gewänder vergraben. „Aber sagt mir eines, Brüder und Schwestern“, sagte der Redner, „wenn ihr Glaube wahr sein sollte, warum sind wir dann hier? Wie konnten wir das Meer überqueren? Die Menschen glauben an ein Märchen und sind auch noch stolz darauf. Und die Grauen sind auch nur ein Märchen, ein Vorwand, damit die Menschen unsere Stadt überrennen und einen neuen Krieg beginnen können.“ Etarianer stimmten zu, tauschten Blicke aus, tuschelten.

„Er hetzt sie gegen die Menschen auf“, sagte Atoz. „Sollten wir nicht etwas dagegen unternehmen?“ Er wollte den Hass in der Stimme des Redners nicht mehr hören, nicht zulassen, dass er andere mit dieser Verachtung ansteckte. Den Menschen erging es schon schlecht genug. Sie hockten im Sand vor dem Stadttor, ohne Nahrung und Wasser. Sie hatten keine Zelte, waren der Hitze am Tage und den bitterkalten Wüstennächten schutzlos ausgeliefert. Atoz hatte gesehen, wie sich frierende Kinder des Nachts an ihre Mütter kauerten. Seit diesem Anblick mied er die Mauer, patrouillierte lieber durch die Stadt.

„Was willst du denn dagegen machen?“, fragte Gaitaan. „Du kannst ihm nicht verbieten, seine Meinung kundzutun. Solange er nicht gegen unsere Generäle hetzt, tut er nichts Unerlaubtes.“ Gaitaan verfolgte gelangweilt das Geschehen; die Rede des Grüngeschuppten schien ihn nicht zu interessieren.

Der Redner sagte: „Eines ist gewiss, meine Freunde. Wenn wir die Menschen in die Stadt ließen, sie würden nichts unversucht lassen, um uns zu schaden. Sie wollen unser Gold und unsere Waren. Sie wollen in unseren Häusern schlafen, während wir in den Gassen verhungern, denn sie halten uns für Tiere. Und was machen diese Wilden mit Tieren?“, fragte er die Menge.

„Sie essen sie“, rief eine Etarianerin.

„Ganz genau. Diese Wilden werden versuchen, uns zu fressen. Sie wollen unser Fleisch braten und unsere Knochen in ihre Suppen legen, denn sie lieben den Geschmack des Todes.“

„Widerlich.“

„Barbaren.“

„Ich will nicht, dass sie meine Kinder fressen.“

Der Redner hob die Hände, die Menge verstummte. „Wisst ihr, was das Schlimmste ist? Sie verachten unsere Nation. Sie wollen unsere Kultur verdrängen und durch ihre eigene ersetzen. Sie werden uns alles nehmen, was uns wichtig ist. Unsere Helden, unsere Generäle, sogar unseren Superiorius. Sie würden ihre schändlichen Heiligtümer errichten und uns durch die Straßen jagen wie Vieh. Straßen, die wir eigenhändig errichtet haben, mit Blut und Muskelkraft. Meine Freunde, das dürfen wir nicht zulassen. Helft den Menschen nicht, gebt ihnen keine Nahrung und kein Wasser, auf dass nicht noch mehr von denen kommen, um unser Stadttor zu belagern. Schützt unsere Heimat und unsere Nation, unsere Kinder und Kindeskinder. Dann werden wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.“ Der Redner sprang von der Kiste, die Menge applaudierte, einige Etarianer jubelten sogar.

„Können wir jetzt weitergehen?“, fragte Gaitaan. „Wir sind nicht hier, um Reden zu lauschen.“

Atoz sagte: „Ja, lass uns gehen.“ Er beobachtete den Redner. Etarianer klopften ihm auf die Schulter, schüttelten ihm lächelnd die Hand. Bei dem Anblick verspürte Atoz ein flaues Gefühl in der Magengegend. Es war Wut.

Gemeinsam mit Gaitaan ging er durch die Gassen Etovernems. Sie grüßten Wachen und Händler, wechselten ein paar Worte mit Passanten. Atoz‘ Gedanken kreisten noch um den Redner, die jubelnde Menge, den Anblick hungernder Menschen in der Wüste. „Worüber grübelst du schon wieder?“, fragte Gaitaan.

Atoz sah Gaitaan nicht an. „Es ist nichts.“

Stahl klirrte in der Ferne, Rauchfahnen zogen sich über den blauen Himmel. Das Schmiedeviertel war nah. Neben einem Brunnen spielten etarianische Kinder mit Holzschwertern. Sie lagen auf dem Boden, suhlten sich im Sand. Einige riefen den Namen des Obergenerals und prügelten mit den Schwertern auf ihre Freunde ein, die um Gnade flehten. Sie stellten den Glaubenskrieg nach. Atoz fragte: „Hast du mit einigen Soldaten reden können, wegen … du weißt schon?“

„Meinst du die Suche nach ihm?“ Gaitaan sah sich um und musterte argwöhnisch einige Wachen, die sich in der Nähe unterhielten. „Es gibt tatsächlich Neuigkeiten. Wir reden heute Abend darüber, wenn wir ungestört sind.“

„In Ordnung, wir könnten uns bei mir treffen.“

Gaitaan grinste. „Dann kann meine Schwester mir endlich wieder was kochen. Ihr Fennah-Kraut ist vorzüglich.“

Atoz erwiderte das Grinsen. „Ich werde es ihr ausrichten.“

Dann wurde Gaitaans Miene ernst. „Hör mal, würde es dir etwas ausmachen, wenn du alleine weiterpatrouillierst? Ich muss noch ein paar Besorgungen machen.“

„Was für Besorgungen? Ist es wichtig? Ich könnte dich doch einfach begleiten.“

Gaitaan lächelte wieder. Diesmal jedoch ohne Freude, so wie jemand lächelte, dem etwas peinlich war. „Nein, ich komme schon zurecht. Wir sehen uns dann heute Abend.“ Er klopfte zum Abschied gegen Atoz‘ Brustpanzer, dann ging er.

Atoz sah ihm nach, bis er in eine Gasse einbog und verschwand. In der Ferne ragte der Sonnenturm in den Himmel. Seine Spitze glänzte so grell, dass Atoz‘ Augen schmerzten.

Zana stand vor der Feuerstelle und kochte Fennah-Kraut. Es erfüllte Atoz‘ Haus mit seinem Duft, ein Hauch von Gras gepaart mit Honig. Zana nahm einen Holzlöffel und rührte im Kessel herum. Sie sah ihrem Bruder sehr ähnlich, hatte blaue Augen und hellgelbe Schuppen. Die Farbe des Wüstensandes.

Atoz saß am Tisch. Er trug ein Leinenhemd - er besaß nur eines - und war froh, die heiße Rüstung los zu sein. Er hatte das Gefühl, unbeschwerter atmen zu können.

Hinter Atoz hingen Wandteppiche. Zana war Schneiderin, webte täglich Leinenhemden und Banner und Teppiche. Letztere brachte sie manchmal mit nach Hause, hängte sie freudestrahlend an die Wände. Sie wolle Farbe in das Haus bringen, pflegte Zana zu sagen. Die meisten Teppiche zeigten die gezackte Sonne, eingestickt mit goldenem Garn. Ansonsten war Atoz‘ Zuhause schmucklos. Er lebte nahe der Innenstadt, wo die Häuser am größten und schönsten waren; doch Atoz war kaum daheim, und er scherte sich nicht um Prunk und hübsche Dekorationen.

„Das Kraut ist gleich fertig“, sagte Zana. Wasser blubberte im Kessel.

Atoz sah aus dem Fenster. Zum Abendhimmel und der langsam wandernden Sonne. „Dein Bruder kommt spät“, sagte er.

Zana drehte sich zu ihm. „Das ist gar nicht seine Art. Wo bleibt er denn so lange?“

„Er wollte Besorgungen machen.“

„Was denn für Besorgungen?“

„Hat er nicht gesagt.“

Zana brummte nachdenklich und wandte sich wieder dem Kessel zu. „Hoffentlich kommt er, bevor das Kraut kalt wird.“

Während Zana den Tisch deckte, bemerkte Atoz, dass ein Amulett um ihren Hals baumelte. Es hatte die Form der gezackten Sonne. „Hat Gaitaan dir das geschenkt?“, fragte er.

Zana berührte das Amulett und blickte schüchtern auf den Tisch. „Ja, es ist hübsch, nicht? Gefällt es dir?“

„Lass mal sehen.“ Sie kam näher, beugte sich zu ihm herunter, sodass das Amulett genau vor seinen Augen hing. Atoz nahm es in die Hand, befühlte die glatte Oberfläche und die spitzen Zacken. Während er das tat, spürte er Zanas warmen Atem auf seinen Schuppen und vernahm den Duft ihres Körpers. Zana roch nach Zimt. „Ich finde es sehr schön“, sagte Atoz.

„Das freut mich. Vielleicht trage ich das Amulett heute Nacht … nur das Amulett.“ Sie sah ihm tief in die Augen, streichelte über seine Wange und ging zurück zur Feuerstelle. Zanas Geruch blieb.

Als die Sonne am Horizont verschwand, aßen sie. Gaitaan war nicht erschienen. Atoz kaute, Zana stocherte mit einer Gabel in ihrem Kraut herum. Sie hatte viel Salz in Atoz‘ Teller getan, so mochte er sein Abendessen am liebsten. „Glaubst du, Gaitaan ist etwas zugestoßen?“, fragte sie. Sie sprach leise, so als könnte lautes Sprechen ihre Befürchtung bewahrheiten.

„Nein, ihm geht es bestimmt gut. Vermutlich halten ihn seine Besorgungen auf. Er wird schon noch kommen.“

„Das hoffe ich“, sagte Zana und schob ihren Teller beiseite. Dann saßen sie sich schweigend gegenüber und lauschten jedem Geräusch. Atoz kaute sein Kraut, Zana trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Vor dem Fenster redete jemand, Kinder lachten in der Ferne. Dann klopfte es an der Tür. Zana sprang auf. „Das wird er sein“, sagte sie. „Endlich ist er da.“

Sie öffnete die Tür und Stadtwachen traten ein, ohne um Einlass zu bitten. „Lebt Meister Atoz hier?“, fragte ein großgewachsener Blaugeschuppter.

Atoz schluckte sein Kraut herunter und erhob sich. „Ihr wünscht?“

„Der Obergeneral schickt uns. Er verlangt, dass Ihr Euch augenblicklich zum Sonnenturm begebt.“

Atoz verengte die Augen. „Warum?“

Zana fragte: „Was ist geschehen? Geht es um Gaitaan?“

„Wir wissen es nicht“, sagte der Blaugeschuppte und umklammerte seine Hellebarde etwas fester. „Der Obergeneral sagte nur, es sei dringend. Wenn Ihr also so freundlich wärt.“

„Und wenn ich nicht mitkomme?“, fragte Atoz.

„Wir werden unseren Befehl ausführen.“

Atoz sagte: „Na, wenn Ihr so freundlich darum bittet, dann kann ich ja schlecht Nein sagen, oder?“

Atoz erklomm die Treppen bis zur Spitze des Sonnenturms, klopfte dann an die Holztür. „Herein“, schallte es aus dem Inneren.

Atoz betrat das Arbeitszimmer von Obergeneral Muutuq, der vor dem Fenster stand. Die untergehende Sonne schien in den Raum. Der Obergeneral warf einen langen Schatten und seine grauen Schuppen schimmerten orangefarben. Als er Atoz erblickte, verschränkte er die Arme vor der Brust und nickte zu einem Holzstuhl. Atoz ging auf ihn zu und setzte sich.

Sie schwiegen eine Weile. Muutuq schritt auf und ab, blickte dabei grimmig zu Boden und schien sich die nächsten Worte genau zu überlegen. Schließlich sagte er: „Mir ist etwas zu Ohren gekommen.“

„Und was?“, fragte Atoz.

„Du willst dich auf die Suche nach einem Verbannten machen.“ Er blieb vor Atoz stehen. „Meero.“ Er verzog die Mundwinkel, als würde ihm das Aussprechen des Namens Schmerzen bereiten.

„Woher …“ Atoz‘ Finger krallten sich in die Stuhllehnen. Dahin war Gaitaan also verschwunden, das war seine wichtige Besorgung.

Muutuq sagte: „Es stimmt also.“

„Gaitaan hat es dir verraten, nicht wahr?“

„Das tut nichts zur Sache.“

„Das wird er mir büßen.“

Der Obergeneral lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und betrachtete die länger werdenden Schatten. „Was erhoffst du dir von diesem Bastard?“

„Von Meero? Er könnte uns helfen.“

„Uns oder den Menschen?“ Atoz entgegnete nichts. Muutuq atmete tief durch, fragte: „Du weißt, warum Meero verbannt wurde, nicht wahr?“

„Er hat dir ins Gesicht gespuckt, weil du mich zum Kriegshelden ernannt hast, ihn jedoch nicht … obwohl wir beide gegen den Menschenkönig gekämpft haben.“

„Damit hat er mir nur einen Grund gegeben, seine Verbannung in die Wege zu leiten. Es war nicht das Ausschlaggebende. Er ist zornig und unkontrollierbar. Er hat sich jedweden Befehlen widersetzt, nur getan, wozu ihm der Sinn stand. Seit Jahren. Das konnte der Superiorius nicht länger hinnehmen. Unsere Nation duldet keine disziplinlosen Einzelgänger. Sie machen uns schwach und stören unseren Zusammenhalt. Meero musste aus unserer Gesellschaft entfernt werden. Ob schwarzgeschuppt oder nicht, Gesetz ist Gesetz.“ Der Obergeneral musterte Atoz eindringlich. „Das solltest du dir merken.“

Atoz schwieg. Muutuq zuckte mit den Schultern und sagte: „Nun, vermutlich rege ich mich grundlos auf.“ Er griff nach einem Brief, der auf dem Tisch lag, und hielt ihn in die Höhe. „Dieses Schreiben ist heute angekommen.“

Atoz fragte sich, was das mit dem Gespräch über Meero zu tun hatte, schweig jedoch weiterhin. Er fühlte sich wie ein gescholtenes Kind.

Der Obergeneral las den Zettel, als hätte er ihn eben erst erhalten. Dann sagte er: „Das ist die Handschrift deines Bruders. Ja, unverkennbar.“

„Wieder eine Nachricht aus Austadt?“

„Saoana Aureld hat uns im Namen aller Fürsten eine Mitteilung zu machen.“

„Ist sie die Tochter des Fürsten?“

„Anscheinend, es ist jedoch nicht von Belang. Das, was in dem Brief steht, ist wesentlich interessanter.“ Schadenfreude stand auf Muutuqs Gesicht. Während er erneut durch den Raum schritt, sagte er: „Sie hat unseren alten Freund vor dir gefunden.“

„Meero?“

„Der Name wird natürlich nicht genannt, es heißt jedoch, dass ein schwarzgeschuppter Etarianer Abtrünnige angeführt und das Dorf irgendeines Fürsten niedergebrannt habe. Es gibt nur zwei Schwarzgeschuppte in Vernland; und einer davon ist ein Narr, der zu viel für die Menschen empfindet.“

Atoz überhörte die Bemerkung. Meero lebte noch, selbst nach all den Jahren in der Wildnis. Ihm war es offensichtlich gelungen, andere Verbannte um sich zu scharen. Und er hatte Waffen und einen Grund, Menschen zu töten. „Warum greift er die Stadt eines Fürsten an?“

„Woher soll ich das wissen? Im Brief steht nichts dergleichen. Dieses Saoana-Gör, sie verlangt, dass wir einen Trupp nach Austadt schicken, um die Sache aufzuklären. Xaviin erwähnt sogar den Friedensvertrag, gewitzt wie er ist.“

Manchmal vermisste Atoz seinen Bruder. Xaviin hatte stets einen Plan, wusste mit Worten umzugehen und fand oft Wege, seinen Willen durchzusetzen. Ohne Gewalt. Er könnte dem Obergeneral sicher gut zureden, aber Xaviin verweilte in einer weit entfernten Stadt; und Atoz war allein. „Wirst du dieser Bitte nachkommen?“, fragte er.

„Ich sage dir, was ich machen werde.“ Muutuq streckte die Arme aus, hielt den Brief von sich, als wäre er etwas Abstoßendes, dann zerriss er ihn. Langsam und genüsslich. „Sollen sich die Menschen um diesen Verbrecher kümmern.“

„Das ist deine Antwort? Nichtstun?“ Die Fetzen schwebten zu Boden, blieben vor Atoz‘ Füßen liegen.

„Oh, täusche dich nicht, ich werde etwas unternehmen.“ Er lächelte. „Die Fürsten werden Vergeltung dafür wollen; und wenn sie Meero nicht zu fassen kriegen, werden sie uns zur Rechenschaft ziehen.“

„Du meinst, das bedeutet Krieg?“ Atoz‘ Hände begannen zu zittern, als er sich vorstellte, erneut Blut vergießen zu müssen.

„Ich weiß es nicht, aber ich gehe davon aus. Die Menschen sind Wilde. Wie tollwütige Hunde werden sie sich auf den erstbesten Feind stürzen; und das sind wir.“ Muutuq stand vor Atoz und beugte sich zu ihm herab. Atoz konnte sehen, wie seine Nüstern bebten, hören, wie er atmete. Muutuq sagte: „Unser Volk fürchtet sich vor den Menschen; du hast sicher bemerkt, was auf den Plätzen Etovernems gepredigt wird. Sie haben Angst, dass unsere Nation den Menschen nicht gewachsen sein könnte, dass die Weichhäuter uns vertreiben würden. Unser Volk hat anscheinend vergessen, dass wir sie vor vierzehn Jahren vernichtend geschlagen haben. Aber ich werde dafür sorgen, dass wir uns alle daran erinnern.“

Atoz fühlte sich festgenagelt, wagte es nicht, sich auf dem Stuhl zu rühren, während der Obergeneral so nah war. „Wie gedenkst du, das zu tun?“

„Einen Augenblick.“ Muutuq ging zu einem Schrank, Atoz atmete auf. Der Obergeneral wühlte sich durch Dokumente, murmelte dabei. Dann kramte er eine große Rolle Pergament hervor. „Da haben wir ihn ja.“ Er setzte sich an den Schreibtisch und breitete das Pergament aus. „Der Friedensvertrag.“

Atoz wusste, dass es nur eine Abschrift war; der echte Vertrag wurde im Palast des Superiorius verwahrt. Jenseits des Meeres in Etasia.

Muutuq fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchstaben. „Ah, da steht es. Bei Anerkennung ihrer uneingeschränkten Überlegenheit verpflichtet sich die etarianische Nation, den Frieden in Vernland zu wahren und das Reich der Menschen vor jedweden Gefahren zu schützen.“ Er sah auf und lächelte. Atoz fragte sich, was er mit dieser Zurschaustellung zu bezwecken versuchte. Muutuq kannte den Vertrag auswendig; er hatte ihn verfasst. Dann verschwand das Lächeln und Muutuq sagte: „Ich werde das Stadttor öffnen lassen. Wir werden sicher eine passende Unterkunft für die Flüchtlinge finden.“

Atoz neigte sich nach vorne. Er musste sich verhört haben. „Verstehe ich das richtig? Du willst sie tatsächlich in die Stadt lassen?“

Muutuq lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. „Was du neulich gesagt hast, über Etarianer und das Ehren von Verträgen, das hat mir zu denken gegeben. Du hast recht, wir sollten uns an das Vereinbarte halten. Und wenn die Etarianer die Menschen sehen, wie sie in Lumpen über die Straßen schleichen und um Brot betteln, dann werden sie erkennen, dass unsere Nation nichts zu befürchten hat. Dass die Menschen nur Bettler sind, armselig und harmlos.“

„Das ist alles?“ Es musste einen Haken geben, den gab es immer.

„Was sollte ich sonst noch für Gründe haben?“ Während er das sagte, schmunzelte Muutuq. Wie jemand, der ein Geheimnis hinter einem falschen Lächeln zu verbergen suchte. „Geh jetzt bitte, ich muss noch einige Dokumente aufsetzen.“

Atoz stand auf und ging zur Tür. Er wollte sie öffnen, als der Obergeneral auf den Tisch schlug. „Fast hätten wir das Wichtigste vergessen“, sagte er. „Die Strafe für dein Vorhaben, Etovernem zu verlassen und einen Verbrecher zu suchen.“

Atoz drehte sich um, blickte in die himmelblauen Augen des Obergenerals und fragte: „Was soll ich tun?“

„Du wirst morgen in die Arena gehen und die Deserteure aus Iogunhafen hinrichten, hörst du? Sonst werde ich dafür sorgen, dass dir nichts anderes übrig bleibt, als dich deinen verbannten Freunden anzuschließen.“ Es lagen Strenge und Mitleid in seiner Stimme. Wie bei einem Vater, der seinen Sohn auf den rechten Weg zurücklenken wollte.

Die Luft in den Katakomben war stickig. Feine Staubkörner schwebten im Licht, das durch ein kleines Fenster fiel. Atoz saß auf einer steinernen Bank und wartete. Er konnte das Tosen der Menge in der Arena hören. Stimmen, die zu einem einzigen Geräusch verschmolzen. Laut und eintönig. Im Halbdunkel stand eine Wache. Sie würde Atoz ein Zeichen geben, wenn die Hinrichtung anstünde.

„Ist er da drin?“ Die Stimme einer Etarianerin erklang.

Atoz erkannte sie sofort. „Ja, ich bin hier“, sagte er und seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider.

Zana betrat den Raum. Sie sah besorgt aus und sagte: „Gaitaan hat mir gestanden, dass er dem Obergeneral von eurem Plan berichtet hat. Es tut mir so leid.“ Sie umarmten sich, aber Atoz konnte Zanas Wärme wegen seiner Rüstung nicht spüren. Zana küsste ihn. Er erwiderte den Kuss nicht, saß einfach stocksteif da.

Sie legte ihre Hand auf seine und sagte: „Er hätte das nicht tun sollen, das machen gute Freunde nicht.“ Dann schwieg sie einen Augenblick, während die Menge jubelte. Als das Tosen verklang, fragte sie: „Sag, du wolltest die Stadt verlassen? Wärst du gegangen, ohne dich zu verabschieden? Hättest du mich allein zurückgelassen?“

„Ich … nein, ich weiß es nicht.“

Zana seufzte. „Dann bin ich froh, dass du nicht mehr gehen wirst.“ Sie küsste seine Wange, Atoz blickte auf seine stählernen Stiefel. „Wie geht es dir?“, fragte Zana.

„Ich bin ein wenig nervös. Was machst du hier überhaupt?“

„Darf ich meinen Helden nicht besuchen?“ Zana trug ihr Amulett der gezackten Sonne immer noch.

Atoz sagte: „Du magst die Arena doch gar nicht.“

„Ich möchte diese Schaukämpfe auch nicht sehen“, sagte sie. „Ich möchte trotzdem hier sein … für dich.“

Das Johlen der Menge wurde lauter. Der Schaukampf musste zu Ende sein. Es war Tradition, dass die Absolventen der Militärschulen in der Arena ihre Fähigkeiten unter Beweis stellten. Es waren unspektakuläre Kämpfe von Anfängern, meist nicht gut besucht. Heute war die Arena voll. Dreißigtausend Etarianer waren gekommen, um Atoz und das Blut der Deserteure zu sehen.

Die Wache räusperte sich. „Meister Atoz, es ist an der Zeit.“

Atoz nickte und blickte in Zanas blauen Augen. „Wir sprechen, wenn ich nach Hause komme.“

„Gerne. Ich koch dir was Schönes.“

„Sicher.“ Sie lächelte, er küsste sie. Ihr Amulett klimperte, als es gegen seine Rüstung stieß.

Atoz stieg die Stufen zur Arena hinauf, ging fort von der Finsternis der Katakomben und hinein in das Licht am Ende der Treppe. Die Stimmen wurden lauter, schwollen zu einem allumfassenden Jubel an. Atoz betrat den Sand des Kampfplatzes und Getöse brach aus.

„Atoz, Atoz, Atoz.“ Seine Hand umschloss den Griff seines Schwertes. Es fühlte sich gut an, gab ihm Halt. Am anderen Ende der Arena befand sich die Ehrenloge. Die drei Generäle Etovernems sahen zufrieden auf ihren großen Krieger herab. Der Obergeneral saß über ihnen, wirkte angespannt. Banner der gezackten Sonne hingen schlaff von Fahnenmasten. Kein Wind wehte, keine Wolke in Sicht. Die Hitze war unerträglich, drückend und trocken. Atoz ging auf die Loge zu - blickte nicht nach links, nicht nach rechts -, und als er sie erreichte, verbeugte er sich. Der Obergeneral gab ein Zeichen.

Das Eisengitter unter der rechten Tribüne wurde geöffnet. Drei Etarianer traten heraus. Lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet stolperten sie über den Sand. Sie waren abgemagert und das Licht schien sie zu blenden, so verengt waren ihre Augen. Graue Farbe bedeckte ihre Körper, vermischte sich mit Dreck und Sand. Zwei Wachen trieben sie vorwärts.

Die Deserteure erreichten Atoz, beäugten sein Schwert. Ihre Gesichter zeigten keine Gefühlsregung. Die Menge verstummte, als sich der Obergeneral erhob und rief: „Wir haben uns hier eingefunden, um der Hinrichtung dieser Verräter beizuwohnen.“ Er deutete auf die Verurteilten. „Sie haben in Iogunhafen versucht, ein Schiff zu kapern, wollten Vernland verlassen, ohne Befehle erhalten zu haben. Sie wurden gefangen genommen und gestanden ihre Untaten. Die Angst vor den Grauen, ein Schauermärchen der Menschen, hat sie angetrieben. Das Urteil des Generalstabs war einstimmig. Auf Verrat, Fahnenflucht und den Diebstahl militärischen Eigentums steht der Tod. Und unser Held, der glorreiche Krieger Atoz, hat sich bereiterklärt, das Urteil zu vollstrecken.“ Jubel, Klatschen, begeisterte Rufe.

Muutuq redete weiter. „Die graue Farbe soll eines bedeuten: Wir haben nichts zu befürchten. Nichts kann unsere Nation in Gefahr bringen. Weder die Menschen, die in Scharen nach Etovernem strömen, noch ihre Geschichten über Gestalten aus den Bergen im Süden. Wir sind Etarianer. Stolz und stark. Und solange unsere tapferen Streiter der gezackten Sonne an unserer Seite stehen, werden wir triumphieren.“ Er ballte seine rechte Hand zur Faust und reckte sie in die Höhe. „Haaz ne Etari szarat ask - möge die Sonne ewig strahlen.“

Die Zuschauer streckten ebenfalls ihre Fäuste in die Luft und wiederholten die Worte Etasias. Atoz zog sein Schwert, die Verurteilten gingen auf die Knie. Atoz hielt dem ersten Deserteur die Klinge an den Hals. „Mach es schnell“, sagte der Verurteilte.

„Wie lautet dein Name?“, fragte Atoz.

Der Deserteur schwieg einen Augenblick, sagte dann: „Rogtan, Meister.“

„Warum wolltest du Vernland verlassen, Rogtan?“

„Wir haben ihn gesehen, die Hohen Kriegsherren haben ihn uns gezeigt.“

„Wen?“

„Er war riesenhaft … ein alter Mann. Er ritt auf einem Wal übers Meer. Der Wal war so grau wie Asche.“

„Wo hast du ihn gesehen?“

„Im Traume, das haben wir alle. Die Hohen Kriegsherren haben uns gewarnt, uns die Zukunft gezeigt. Sie werden kommen. Graue und Menschen. Sie werden uns vernichten. Flieht, allesamt. Für Etovernem gibt es keine Hoffnung.“

Atoz hob sein Schwert, ließ dann den Arm niedersausen. Blut spritzte durch die Luft und besprenkelte seine Rüstung. Atoz spürte, wie warme Tropfen über sein Gesicht liefen. Rogtans Kopf landete auf dem Boden, rollte über Sand. Der Körper blieb einen kurzen Moment auf den Knien, so als hielte ihn eine unsichtbare Hand aufrecht. Dann kippte er vornüber.

Atoz enthauptete die anderen Deserteure. Die Menge brüllte und begeisterte Pfiffe gellten durch die Arena. Atoz blickte zu Boden. Drei graue Körper, drei sich ausbreitende Blutlachen. Sie erinnerten Atoz an die Gefallenen des Glaubenskrieges.

Der abgetrennte Kopf Rogtans verwandelte sich, wurde zu einem Menschen. Zum dunkelhäutigen Menschenkönig. Anklagende Augen glotzten Atoz an. Blut sprudelte aus seiner Kehle und floss über den Schauplatz der Hinrichtung, umspülte Atoz‘ Stiefel. Der tote König sagte: „Du hast mich ermordet, mich gnadenlos aufgeschlitzt. Das muss dich doch mit Stolz erfüllen, Held. Immerhin hast du damit den Krieg gewonnen. Ah, welch ruhmreiche Tat. Dank dir sind die Menschen nicht mehr frei und unabhängig. Die hungernden Flüchtlinge und die rachsüchtigen Fürsten; all das ist allein dein Verdienst. Ja, einmal Mörder, immer Mörder.“

Atoz reckte sein blutbenetztes Schwert in die Luft. Der Obergeneral lächelte, die Generäle klatschten. Die Menge feierte, als hätte Atoz einen großen Sieg errungen. Die Sonne tauchte den Schauplatz in gleißendes Licht, doch in diesem Moment strahlte die gezackte Sonne Etasias heller. Atoz‘ Hände zitterten. Er dachte nichts, fühlte nichts. Er wandte sich ab und ging auf das dunkle Loch zu, aus dem er gekommen war.

Eine Heimat des Krieges

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