Читать книгу Eine Heimat des Krieges - Jan-Henrik Martens - Страница 4
Funken
ОглавлениеAls Roren zur Jagd aufbrechen wollte, schallten Stimmen durch das Dorf. „Die Echsen scheren sich einen Dreck um uns, die werden nicht herkommen. Wir müssen fliehen, und zwar schnell“, rief jemand. „Wenn wir bleiben, werden wir gefressen.“ Der zustimmende Aufschrei einer Menschenmenge ertönte.
Roren trat aus seiner Hütte und blickte gen Dorfmitte. Mehrere Männer hatten sich vor dem Lebensmittellager von Seros versammelt. Jemand stand in der Tür und fuchtelte mit einem Gegenstand, der in der Sommersonne schimmerte.
„Was ist das für ein Gebrüll?“, fragte Ariane. Sie folgte Roren aus der Hütte und sah besorgt aus. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Sie entdeckte die Menge und sagte: „Geht es schon wieder um die Flucht? Dieses Gerede über Graue treibt unser Dorf noch in den Wahnsinn.“
Roren sagte: „Bleib bei unserer Tochter, pass auf sie auf. Ich werde nachsehen, was da los ist. Sie regen sich sicher grundlos auf, das ist immer so.“
Ariane berührte seinen Arm. „Sei bitte vorsichtig. Gestern Abend haben die Männer so entschlossen geklungen, und die Flammen haben sie nur wütender gemacht. Sogar mein Bruder ließ kaum mit sich reden. Ich glaube nicht, dass sie sich diesmal beruhigen.“
„Wir werden sehen. Passiert schon nichts.“
Ariane ging zurück in die schattige Hütte und fragte: „Hilla, Liebes, wo bist du?“
Roren atmete durch und umklammerte seinen Jagdbogen, während er sich den Rufen näherte. Eine Brise fuhr über trockenes Gras und die staubige Erde. Die Luft war stickig. Dutzende Holzhütten flirrten in der Hitze. Der Himmel über Seros war blau, doch dort, wo das Nachbardorf Gerwind lag, trübten Rauchfahnen die Schönheit des Frühsommermittags.
Der Älteste von Seros stand vor dem Lebensmittellager und der Menschenmenge. Er richtete eine Mistgabel auf die Männer, auf Nachbarn und alte Freunde. Sie wollten durch die Tür und in das Steingebäude, es ausräumen und in den Norden fliehen, das hatten sie am Vorabend angedroht. Bei frisch gebackenem Brot, Bier und dem Knistern eines Lagerfeuers hatten sie beisammengesessen und über die Gefahr aus dem Süden geredet. Die Grauen. Sie würden alle Männer und Frauen und Kinder fressen, wenn sie nicht schnell in den Norden flöhen, hieß es. Sämtliche Bewohner von Seros sollten Zuflucht bei dem Echsenvolk der Etarianer suchen, bevor es zu spät sei. Roren hatte dagesessen, den Wortgefechten der Dörfler gelauscht, in das Feuer gestarrt und nichts gesagt.
Die Grauen waren vor einem Monat aus ihrem Gebirge im Süden Vernlands gekrochen, so wurde es in allen Winkeln des Kontinents verkündet. Sogar bis nach Seros war die Nachricht gedrungen. Als ein Bote von Grauen berichtete, hatte Roren gelacht. Er war nicht allein gewesen; doch im Laufe der Zeit wurde aus dem Gelächter ein nervöses Lächeln.
Der Älteste hatte versucht, die Dörfler zu beschwichtigen, behauptet, die Etarianer würden kommen und dafür sorgen, dass niemandem ein Leid geschähe, so denn eine Gefahr bestehe. Aber eine solche gebe es ohnehin nicht, die Grauen seien bloß eine Schauermär. Gestalten aus Geschichten, die man nach Einbruch der Dunkelheit erzählte, damit Kinder nicht allein durch die Wälder streifen würden und des Nachts in ihren Betten blieben.
Bis in die frühen Morgenstunden hatten sich die Einwohner von Seros gestritten. Sie waren immer feindseliger, immer gereizter geworden; bis Rauch am Horizont aufstieg und wutverzerrte Gesichter in verzweifelte verwandelte.
Heute stand der Älteste erneut vor seinen Mitmenschen, diesmal bewaffnet. „Falls es die Grauen wirklich gibt, werden die Etarianer uns helfen“, sagte er, als müsse er sich selbst davon überzeugen. „Dazu wären sie verpflichtet, denkt an den Friedensvertrag.“
„Und wann werden die Echsen kommen? Wenn wir bereits brennen?“, fragte jemand. „Wenn die Grauen uns gefangen nehmen und unsere Kinder fressen? Die Etarianer werden uns hier nicht helfen, sieh das doch ein. Also gehen wir zu ihnen. In Seros bleiben wir nicht, die Grauen sind nur einen Tagesmarsch entfernt.“
„Genau. Gerwind ist gestern niedergebrannt, du hast das Feuer doch auch gesehen, oder nicht?“, sagte Dohan, der Metzger. Er war ein dicker Mann, immer nett, immer freundlich. Gestern hatte er noch versucht, die Dörfler zum Bleiben zu bewegen; heute hatte er Angst um sein Leben. Roren wusste, wie sich das anfühlte. In der Nacht war das Nachbardorf in Brand gesteckt worden und man hatte das Feuer in der Ferne sehen können. Und den Rauch, der die Sterne verdeckte. Für Dohan und die meisten Männer bestand kein Zweifel daran, dass die Grauen dafür verantwortlich waren.
Die Angst, dass es Seros ähnlich ergehen könnte, hinterließ Funken, und die Dorfbewohner waren wie trockenes Laub; es war nur eine Frage von Augenblicken - ein falsches Wort oder eine plötzliche Bewegung -, bevor sie Feuer fangen würden. Und etwas lag im Blick des Ältesten, etwas, das Tiere haben, wenn sie in eine Ecke gedrängt werden.
Dohan machte einen Schritt auf den Ältesten zu und sagte: „Wir müssen hier weg, also steh uns nicht im Weg, alter Mann. Lass uns endlich ins Lager.“
„Ihr geht nach Norden und was dann?“ Der Älteste brüllte. Er hob drohend die Mistgabel. Seine Fingerknöchel waren weiß. „Da gibt es nur die Wüste. Die Etarianer werden euch nicht willkommen heißen, sie mögen keine Menschen. Die jagen euch weg und lassen euch verrecken.“
„Mag sein, aber die Etarianer fressen uns wenigstens nicht“, sagte Eron, Arianes Bruder. Er stand mit verschränkten Armen inmitten der Männer. Seine Miene war steinern. „Wenn wir hierbleiben, dann sind wir todgeweiht. Die Grauen mögen Menschenfleisch und werden uns bei lebendigem Leibe kochen.“
Der Dorfälteste schüttelte den Kopf. „Seid ihr so kleingeistig, dass ihr diesen Unsinn über Menschenfresser glaubt? Nichts als Ammenmärchen und Schauergeschichten. Dafür gibt es keine Beweise. Aber dass die Etarianer Flüchtlinge verhungern lassen, das ist sicher. Wie oft muss ich das noch sagen?“
„Wir werden gehen“, sagte Dohan mit ruhiger Stimme. „Wir werden das Dorf verlassen und das Essen nehmen wir mit.“
„Was wird aus denen, die nicht fliehen können? Oder es nicht wollen? Die Alten und Schwachen, die Frauen und Kinder?“, fragte der Älteste. „Ich werde hier stehen bleiben. Und der erste, der hier rein will, ich verspreche euch, den stech ich ab.“
„Mach keine Dummheiten und lass uns durch.“ Dohan erhob die Stimme nicht, aber seine Anspannung war offensichtlich. Er stand kerzengrade da und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Der Dorfälteste und der Metzger sahen sich tief in die Augen. Nicht bei einem Fest oder beim freundschaftlichen Handeln; sie standen im Staub vor einer Steinhütte und starrten sich an. Wütend, angespannt, abwartend. Wie hungernde Tiere vor ihrer Beute. Und es galt, die Rangfolge zu klären. Roren lebte seit seiner Geburt in Seros, und nie hatte sich jemand mit dem Ältesten angelegt. Nicht auf diese Weise. Es musste ein Traum sein, etwas Unwirkliches.
„Zurück, das Essen bleibt hier“, sagte der Älteste. „Verschwindet, wenn ihr so wild darauf seid. Geht in den Norden, macht euch auf die beschwerliche Reise, wer weiß, vielleicht kommt ihr sogar an. Vielleicht habt ihr Glück und verhungert nicht, werdet nicht überfallen und getötet. Und vielleicht reichen die Etarianer euch sogar die Hand und geben euch Gestrüpp zu fressen; aber nicht jeder ist bereit, monatelange Fußmärsche zu erdulden. Das Essen bleibt hier.“
Einige Männer wurden unsicher. Hier eine gerunzelte Stirn, da ein nachdenklicher Blick gen Boden. Aber nicht Dohan. Er näherte sich dem Ältesten. „Du alter Spinner, mach dich weg jetzt, oder es setzt was. Wir werden nicht darauf warten, von den Grauen geschlachtet zu werden. Wenn die kommen, dann war’s das. Dann bleibt uns nur der Abyssus.“
Der Älteste riss die Augen auf. „Unser Glaube wurde uns verboten“, sagte er. „Du darfst sowas nicht aussprechen.“
„Was soll das? Hier ist keine verdammte Echse, die dich deswegen auspeitscht. Der Große Richter wird uns sicher in den Norden geleiten, wirst schon sehen, alter Mann. Der Richter wird uns beschützen.“ Dann wiederholte er es wieder und wieder, reckte dabei eine Faust in die Luft und wurde immer lauter. Die Menge stimmte mit ein. Der Richter wird uns beschützen. Seit vierzehn Jahren hatten nicht mehr so viele Menschen ihren Glauben bekundet, so kam es Roren jedenfalls vor. Und selbst wenn es in diesem Augenblick nur ein Kriegsschrei war, fühlte er, dass die Echsen den Glauben doch nicht hatten verbieten können. Dass er noch da war, tief verwurzelt in den Seelen seiner Freunde. Dohan lächelte, packte den Ältesten am Kragen. „Weg da jetzt.“
„Lass mich los, Bursche.“ Der Älteste wand sich, doch der Griff des Metzgers war zu stark. Dann stach der Älteste zu. Er versenkte die Mistgabel in Dohans Bauch. Fassungslose Blicke, ungläubiges Schweigen. Der Älteste erbleichte und ließ die Mistgabel los. Sie blieb im Metzger stecken. Dohan presste mit der Hand auf die Wunde, aus der Blut strömte, das über seine Finger floss. Niemand rührte sich.
„Du alter Bastard“, sagte Dohan. Er rang nach Atem. „Du hast mich umgebracht.“ Und dann knallte er auf den Boden. Staub wirbelte auf, die Mistgabel ragte wie ein Fahnenmast aus Dohans Bauch. Sein Blick war auf die Sonne gerichtet. Ein letztes Ausatmen, dann begann die Menge zu toben.
Zwei Männer packten den Ältesten, bevor er reagieren konnte. Ein dritter schlug zu. Mit der Faust ins Gesicht, immer wieder. Der Schläger war ein Jüngling, der beim Ältesten das Lesen und Schreiben gelernt hatte. Die Männer brüllten, fluchten, schlugen ebenfalls auf den Ältesten ein. Roren wollte eingreifen, der Wut ein Ende bereiten. Er hob den Bogen und zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Dann dachte er an seine Frau und an Hilla. Und daran, dass sie hierbleiben mussten. Er durfte nicht verletzt werden, musste für sie da sein. Er ließ die Arme sinken.
Der Älteste sackte zu Boden, die Männer stürmten das Lager, nahmen mit, was sie tragen konnten. Schinken, Fische, Brote. Sie fielen über die Lebensmittel her wie Fliegen über einen Tierkadaver. Dann war es vorbei. Die Männer gingen ihrer Wege, ließen den Ältesten und die Leiche Dohans im Dreck liegen. Sie blickten nicht zurück.
Eron trug Brotlaibe und blieb neben Roren stehen. „Du solltest auch gehen“, sagte er. „Nimm meine Schwester und die Kleine und verschwinde von hier, bevor die Grauen kommen.“
Roren sagte: „Selbst wenn es die Grauen gäbe, wir können nicht gehen, das würde Hilla nicht überleben. Das weißt du.“
Eron nickte, seufzte dann. „Ich wünschte, ich könnte bei euch bleiben, aber meine Frau und mein Sohn ... Ich will nicht riskieren, dass sie von Grauen gefressen werden."
„Das kann ich verstehen, wirklich."
„Sag meiner Schwester, dass ich sie liebe. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, mein Freund.“
Roren rang sich ein Lächeln ab. „Das werden wir, eines Tages. Da bin ich sicher.“
Eron sagte: „Bist ein guter Mann, Roren. Pass auf dich auf, ja? Und auf unsere Familie. Die Grauen dürfen ihnen nicht wehtun, hörst du?“
„Werden sie nicht, das verspreche ich.“
Roren kniete neben dem Ältesten, dessen Gesicht angeschwollen war. Er blutete aus Mund und Nase und sagte: „Roren, mein Bester.“ Der Älteste versuchte zu lächeln. Ihm fehlten mehrere Zähne.
„Es tut mir so leid“, sagte Roren. Er legte eine Hand auf die Brust des Ältesten, konnte seinen schwachen Herzschlag spüren. „Ich hätte eingreifen sollen.“
„Ich habe Dohan getötet“, sagte der Älteste.
„Ja, das hast du.“
„Dafür wird er sich im Abyssus rächen, nicht wahr?“ Seine Stimme wurde leiser.
„Der Große Richter wird die Wahrheit erkennen.“
Der Älteste kicherte gurgelnd. Dann hustete er Blut. „Bist ein guter Junge, Roren, schon immer gewesen.“
„Rede nicht weiter, du musst dich ausruhen.“
„Ja … glaubst du auch, dass es die Grauen gibt? Dass sie kommen werden?“
„Ich weiß es nicht.“ Er nahm die Hand des Ältesten. „Ich weiß es wirklich nicht.“
„Dennoch bleibst du hier?“
„Seros ist meine Heimat. Und Hilla … mit ihrer Krankheit. Sie würde eine Reise nicht überstehen. Es wäre Folter für sie.“
„Was … was wirst du tun?“
„Ich bin ein Jäger und der beste Bogenschütze, den du je gesehen hast, das hast du mal gesagt, erinnerst du dich?“ Der Älteste nickte kaum merklich. Roren sagte: „Ich kenne die Wälder, jeden Baum, jeden Hügel. Ich werde den Grauen meine Hilfe anbieten. Ich werde tun, was immer sie verlangen, wenn sie das Dorf und meine Familie verschonen.“
„Und wenn sie es nicht tun?“
„Dann werde ich sie erschießen und nach meinem Tod um Vergebung bitten.“
„Wen erschießen?“ Roren antwortete nicht.
Als der Älteste aufhörte zu atmen, küsste Roren seine Stirn und wünschte ihm, dass er im Nachleben als Fürst wiedergeboren werde.
Die Sonne ging unter, und das Dorf war wie ausgestorben. Nur die Alten und Schwachen waren geblieben und spazierten ziellos zwischen den Hütten umher. Ihre Blicke wanderten über den Boden, als würde sich dort ihr Lebenssinn verbergen und sie müssten nur lang genug auf Dreck starren, um ihn zu finden. Die Menschen waren still. Kein Kinderlachen, keine Frauen beim Dorftratsch, keine Männer, die sich über die Jagd unterhielten. Nur die Blätter der Bäume raschelten im Wind und der nahegelegene Fluss plätscherte. Das Rad der alten Mühle drehte sich quietschend und die Vögel sangen unverändert ihr Lied. Die Sonne verschwand am Horizont und tauchte die Holzhütten von Seros in ein sattes Orange. Das Lebensmittellager war zerstört. Die Tür hing aus den Angeln und das Innere war leer, verwüstet, ohne Ordnung. Vor dem Lager trocknete Blut auf dem Boden. Niemand hatte die Leichen des Metzgers und des Ältesten fortgeräumt. Sie lagen im Schatten des Lagers, als gehörten sie da hin.
Roren hatte das Lager vor zwei Jahren zusammen mit den anderen Männern errichtet. Es erschien ihm so lang her, wie eine Geschichte aus einem Buch, irgendwo in einer staubigen Bibliothek. Das Gemäuer sollte als Rettung dienen, falls eines Tages ein Krieg vor ihrer Haustür stünde. Eine Lebensmittelreserve in einer Zeit des Abwartens, ohne Möglichkeit zum Handel mit anderen Siedlungen. Roren strich mit der Hand über den rauen Stein des Gemäuers, wandte sich dann ab.
Er ging vorbei an den Holzhütten, die für Dörfer des Fürstentums Rygmoor bezeichnend waren. Seros war kaum mehr als eine Ansammlung solcher Hütten. Vor Ewigkeiten waren sie an einem Fluss errichtet worden, eine Siedlung mitten im Wald. Die Jagd und der Handel mit anderen Dörfern hielt Seros am Leben, und es war nicht unüblich, dass Menschen aus Gerwind nach Seros zogen und umgekehrt. So war es immer gewesen, so würde es immer bleiben. Das hoffte Roren. Er beobachtete den Sonnenuntergang und sah seine eigene Hütte am Fluss. Rauch strömte aus den Öffnungen im Dach. Ariane bereitete das Abendessen zu. Der Rauch zog dunkle Striemen über den rötlichen Himmel. Roren befürchtete, es wäre das letzte Mal, dass hier jemand Essen kochte.
Hilla saß auf einem Hocker und ließ die Beine baumeln. Sie trug ein einfaches weißes Leinenkleidchen und atmete schwer. „Hallo Liebes“, sagte Roren.
Hilla sagte: „Vater, gleich gibt's was zu essen.“ Sie zeigte auf einen Topf, in dem Suppe blubberte. Ariane stand vor dem offenen Feuer, über dem der Topf hing, und blickte gedankenverloren in die Flammen.
„Da komme ich ja gerade rechtzeitig“, sagte Roren.
„Hast du Liese gesehen?“, fragte Hilla.
„Deine Strohpuppe?“
„Ja.“
„Nein, das habe ich nicht. Aber sie kann ja nicht weggelaufen sein, oder?“ Er zwinkerte ihr zu. „Nach dem Essen helfe ich dir suchen, ja? Wir werden sie finden.“
Hilla lächelte, wie neunjährige Mädchen lächelten, wenn man ihnen eine Geschichte über Prinzessinnen und Prinzen erzählte. Aber da war kein Leuchten in ihren Augen. Sie lächelte nur für ihn. Damit er es sich einprägte, bevor Hilla nicht mehr lächeln könne.
Roren war mit ihr in Willet gewesen, der Hauptstadt des Fürstentums Rygmoor. Das Gehen fiel ihr schwer, sie klagte über Schmerzen. Ein alter Mann mit schlechten Augen hatte Hilla angesehen. Er war Heiler, kannte sich mit allerlei Beschwerden aus. Er hatte Hilla untersucht, hier draufgedrückt, dort getastet, und dann gesagt, sie sei todkrank. Ihre Muskeln würden allmählich verschwinden. Der Heiler sagte, er hatte einst einen Mann gekannt, dem es ähnlich ergangen war. Zuerst die Beschwerden beim Gehen, später fiel ihm das Sprechen schwer. Am Ende fehlte ihm die Kraft zum Atmen, er sei erstickt. Hilla würde dasselbe Schicksal ereilen. Es sei der Zorn des Großen Richters, flüsterte der Heiler, eine Bestrafung für Vergehen in einem früheren Leben. Doch für welche Tat vermochte er nicht zu sagen. Dann waren Roren und Hilla nach Hause gegangen und er hatte Ariane alles erzählt. Seine Frau hatte ihn mit feuchten Augen angeblickt. Trauer lag in ihrem Blick, Trauer und Wut, als wäre ihre Tochter bereits gestorben. Und Roren wusste, dass er eines Tages an Hillas Bett treten und sie tot vorfinden würde. Manchmal wünschte er sich, er wäre nie zum Heiler gegangen.
Die Suppe kochte über. Ariane hatte vergessen, umzurühren. Der Anblick erinnerte Roren an die Hitze und an die Stimmen und an das Blut. Erinnerte ihn daran, wie die Gemüter alter Freunde hochgekocht waren, sie zu Mördern gemacht hatten. „Scheiße“, sagte Ariane.
„Sowas sagt man nicht“, sagte Hilla.
Roren sagte: „Ganz recht. Als Strafe muss Mami dir heute eine Geschichte erzählen, bevor du schlafen gehst.“
„Oh ja. Machst du das, Mami?“
„Sicher.“ Sie drehte sich nicht zu ihrer Tochter um und es lag keine Wärme in ihrer Stimme. Dass ihr Bruder Seros zusammen mit den anderen verlassen hatte, schien sie mehr mitzunehmen, als sie zeigen wollte. Roren wusste, dass sie auch gegangen wäre. Ohne zu zögern, ohne zurückzublicken, einfach fort. Wäre Hilla nicht, wäre seine Frau an diesen Tag nach Norden gezogen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Seros war nicht mehr wie früher, würde es nie mehr sein; und nach den gestrigen Flammen wirkten die Schatten vor den Fenstern dunkler.
„Hat ihr die Geschichte gefallen?“, fragte Roren.
„Sie ist schnell eingeschlafen“, sagte Ariane.
Der Mond schien ins Schlafzimmer. Es war noch immer sehr warm. Roren lag nackt auf dem Bett und schwitzte trotzdem. Ariane streifte ihre Kleidung ab. Das Leinenkleid fiel zu Boden und entblößte Arianes verschwitzten Körper. Ihr Bauch war flach und wunderschön. Ariane hatte einige Narben, die von der Schwangerschaft stammten, aber das machte sie anziehender, weiblicher. Diese Male verdeutlichten die Verbindung zwischen ihr und Roren. Hilla war vor neun Jahren unter diesen Streifen herangewachsen. „Erinnerst du dich an das Dorffest damals?“, fragte Roren.
„Damals?“
„Vor neun Jahren, nach unserer Hochzeit.“
Ariane lächelte. „Natürlich. Du warst betrunken.“
„Ja, das Starkbier meines Vaters. Das Zeug hätte den stärksten Hirsch umgehauen.“
„Und du warst so glücklich an dem Abend.“
„Das bin ich noch immer.“
Sie blickte ihn lange an, presste die Lippen zusammen.
Roren sagte: „Damals haben wir unter dem Sternenhimmel miteinander geschlafen. Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl erinnern, unser erstes Mal. Wir lagen im Gras und haben uns angesehen. Es gab nur uns beide. Du hast nach Himbeeren und Wein gerochen.“
Ariane kletterte zu ihm ins Bett und schmiegte sich an ihn. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und er spürte, wie ihre Brüste seinen Arm streiften und ihr Atem auf seiner Haut kitzelte. Er streichelte ihren Rücken. Er liebte es, Dinge zu berühren. Sie gaben viel über ihre Natur preis, wenn man sie berührte. Die Rauheit eines Steins, das Gefühl von Wildnis beim Berühren von Baumrinde, die Klarheit und die Lebendigkeit des Wassers. Wenn er seine Frau berührte, spürte Roren ihre Seele. So sanft und voller Leben. Doch heute war ihre Haut seltsam kühl. „Kaum zu glauben, dass dein Vater schon so lange tot ist, hm?“, fragte sie, sah dabei aus dem Fenster. „Sieben Jahre schon.“
„Ja, manchmal kommt es mir vor, als wäre er erst gestern gestorben. Verfluchtes Fieber.“
„So viele sind tot. Und es werden mehr sterben. Vielleicht heute Nacht“, sagte Ariane. Eine Träne kullerte über ihre Wange. Nur eine einzige.
„Heute wird niemand sterben. Nicht ich, nicht du und erst recht nicht Hilla. Das verspreche ich dir“, sagte Roren. „Ich liebe dich.“ Er küsste ihre Stirn. Sie schmeckte salzig.
Roren konnte nicht schlafen, er wollte es auch gar nicht. Er stieg aus dem Bett. Ariane atmete ruhig und regelmäßig, während sie schlief. Er zog leise seine Jagdkleidung an und griff nach seinem Bogen. Roren strich mit dem Daumen über die Sehne, spürte die Spannung, die auf ihr lag und den Tod bedeuten konnte. Dann streichelte er über die Federn an den Pfeilen. Federn, die einst einem Tier gehört hatten, das wild und frei gewesen war. Roren verließ das Haus.
Im Dorf war es still. Keine Feuer brannten in den Häusern, niemand wanderte durch die Nacht; doch als sich Roren umsah, fühlte er sich beobachtet. Er hatte das Gefühl, wilde Tiere hockten im Dickicht und beäugten ihn. Füchse, Eichhörnchen, Rehe. Tiere, die er in den Wäldern getötet hatte. Er hatte mit seinem Bogen gezielt, langsam ausgeatmet, losgelassen, gespürt, wie die Pfeilfedern seine Hand streiften, und dann war etwas gestorben. Heute riefen die Tiere seinen Namen, lockten ihn in die Dunkelheit, in den Abyssus. Roren schloss die Augen und sah Seros brennen. Seine Frau lief schreiend durch die Nacht. Ihre Haare standen in Flammen. Hilla lag blutüberströmt in ihrem Bett. Roren atmete tief durch, und als er die Augen öffnete, hatte sich nichts verändert. Er war allein, das einzige Geräusch war das Heulen einer Eule.
Rorens Schritte klangen ungewöhnlich laut, als er zu dem Weg ging, der nach Gerwind führte. Rauch hing noch immer über dem Dorf, aus dem die Grauen kommen würden. Roren wartete auf eine Bewegung, auf Lichter oder Stimmen. Lange stand er da und erwartete die Ankunft der Grauen. Er sah nur Bäume und Schatten und das Funkeln der Sterne. Wind strich über seine Haut und trug die Düfte von Blumen und Gräsern zu ihm, die Gerüche des Sommers. Sie wirkten beruhigend. Roren lauschte dem Rascheln der Blätter; und als der Wind abflaute, raschelten die Blätter weiter und Äste knackten. Roren drehte sich um. Hinter ihm stand jemand.
Das Wesen war einen Kopf größer als er. Roren hörte, wie es atmete. Luft strömte aus den Nüstern der flachen Schnauze. Schwarze Schuppen bedeckten den Körper des Fremden. Sie machten ihn fast eins mit der Finsternis. Wären da nicht der Glanz seines Kettenhemdes und die Augen, die Roren neugierig musterten. Die Pupillen waren schwarze Schlitze inmitten von Gold. Die Anspannung fiel von Roren ab. Ein Etarianer stand vor ihm, sie waren endlich gekommen. „Bin ich froh, euch zu sehen“, sagte Roren. „Ich dachte schon, ihr würdet nie kommen, um uns zu helfen. Und ich weiß nicht, was heute Nacht noch passiert wäre. Die Grauen sind nah. Sag, gibt es sie denn? Weißt du das? Warum seid ihr sonst hier?“
Die Echse sagte nichts. Mehrere Etarianer schlichen durch den Wald, betrachteten die Hütten von Seros.
„Eine Schande, dass ihr nicht heute Mittag eingetroffen seid“, sagte Roren. „Dann würde unser Ältester noch leben und die meisten unserer Männer wären noch da. Sind alle abgehauen.“ Die goldenen Augen des Etarianers verengten sich. Roren sagte: „Keine Sorge, sie haben Karren und Kinder dabei. Weit können sie nicht gekommen sein. Ich bin sicher, wir holen sie schnell ein. Die Männer werden euch im Kampf gegen die Grauen unterstützen, darauf könnt ihr euch verlassen.“
Der schwarze Etarianer sagte mit rauer und kehliger Stimme: „Wir sind nicht hier, um euch zu retten.“
„Was?“ Stahl blitzte auf. Ein Schwert raste auf Rorens Gesicht zu. Reflexartig trat er einen Schritt zurück und hob abwehrend den Arm. Die Klinge fuhr durch Haut, Muskeln und Knochen. Warme Flüssigkeit sprudelte auf Rorens Gesicht, brannte in den Augen. Seine rechte Hand hing in einem merkwürdigen Winkel vom Handgelenk. Roren versuchte, die Finger zu bewegen. Nichts geschah. Er wollte weglaufen, doch ihm war schwindelig.
Erneut fuhr das Schwert auf ihn nieder, schnitt durch Fleisch und Knochen. Etwas fiel zu Boden. Roren senkte den Blick. Eine Hand lag vor ihm. Wie ein Insekt lag sie da, fremdartig und ekelerregend. Blut strömte aus dem Stumpf, schimmerte im Mondlicht. Roren spürte keine Schmerzen, und doch schrie er bei dem Anblick, bis ihn jegliche Kraft verließ und er verstummte. Seine Beine gaben nach und er ging auf die Knie. Er wollte den Etarianer fragen, wessen Hand das sei, doch das Sprechen erschien zu anstrengend.
Jemand rief etwas, die schwarze Echse grinste und wandte sich wortlos ab. Die Nacht wurde dunkler. Roren hörte das Rascheln der Blätter nicht mehr, alle Geräusche klangen weit entfernt und dumpf. Weitere Etarianer traten aus dem Wald. Sie trugen Fackeln in den Händen und näherten sich dem Dorf. Dann stoben Funken in den Nachthimmel.