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Helden

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Die Augen des Händlers weiteten sich, als er Atoz erblickte. „Meister Atoz? Was verschafft mir die Ehre?“, fragte er, deutete dann auf die Auslage seines Marktstands. Aureldisches Brot, Fennah-Kraut, einige Kessel. Nichts Ungewöhnliches. „Wollt Ihr etwas kaufen?“

„Seid Ihr Daarq?“, fragte Atoz.

„Gewiss. Ich kann Euch das Brot empfehlen. Heut Morgen frisch gebacken.“ Die rotgeschuppte Stirn des Händlers glänzte im Schein der Sonne.

„Wir sind nicht deshalb hier“, sagte Gaitaan. Er stellte sich dicht neben den Händler. „Uns wurde mitgeteilt, dass Ihr mit verdächtigen Waren handelt.“ Atoz hatte zusammen mit Gaitaan Wachdienst. Eine undankbare, langweilige Aufgabe. Es gab kaum Streitereien in den Straßen, geschweige denn Verbrechen. Meist mussten sie in brütender Hitze durch Etovernem patrouillieren, hatten nichts zu tun. Dabei trugen sie schwere Rüstungen, die schnell so heiß wurden, dass man sie kaum anfassen mochte. Atoz war dank seiner Stellung vom Wachdienst verschont geblieben; aber das war, bevor die Flüchtlinge kamen.

„Verdächtige Waren? Das ist unmöglich. Jemand muss mich verleumdet haben“, sagte der Händler. Er klang überrascht und empört zugleich. Fast überzeugend, wäre da nicht das Zittern in seiner Stimme. „War es Heetran? Dieser Mistkerl. Ich sage Euch, der lügt. Macht er immer. Neulich, als ich ihm einen Topf verkauft habe, da …“

Atoz hob die Hand, bedeutete dem Händler zu schweigen. „Wer uns geschickt hat, ist unwichtig.“

Immer mehr Etarianer blieben vor dem Marktstand stehen, reckten ihre Hälse und zeigten auf Atoz. Gaitaan umrundete die Auslage, begutachtete die Waren, lugte in umstehende Kisten. Er fragte: „Wo habt Ihr es versteckt?“

„Ich habe gar nichts. Ich weiß nicht, was Ihr meint.“

„Wo ist Euer Warenlager?“, fragte Atoz. „Hier im Marktviertel? Zeigt es uns. Wir durchsuchen es, und wenn wir nichts finden, dann werden wir Euch für die Unannehmlichkeiten entschädigen.“

„Es sei denn, Ihr widersetzt Euch.“ Gaitaan legte eine Hand auf sein Schwert; der Händler bemerkte es, zuckte unwillkürlich zurück. Gaitaan fragte: „Wärt Ihr nun so freundlich, uns den Weg zu zeigen?“

Daarq seufzte. „Schätze, ich habe keine andere Wahl, hm?“

„Es wird nicht lange dauern“, sagte Atoz. Er lächelte ihm zu, der Händler sah es nicht. Mit gesenktem Haupt verließ er seinen Marktstand, Atoz und Gaitaan folgten ihm.

Gemeinsam entfernten sie sich vom Geruch frisch gebackenen Brotes und von neugierigen Etarianern. Atoz spürte, wie ihre Blicke ihn verfolgten. Es war nicht alltäglich, einen Kriegshelden im Marktviertel anzutreffen, noch dazu in voller Rüstung. Doch das Volk glotzte Atoz nicht deswegen an. Es waren seine schwarzen Schuppen, die in ganz Etovernem Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Etovernem war die Heimat der Etarianer in Vernland und die größte Stadt des Kontinents. Sie lag mitten in der Wüste. Eine Mauer aus Sandstein umschloss die kreisförmige Stadt. Die Gebäude bestanden aus Lehm. Einfache, schmucklose Hütten reihten sich aneinander, verliehen Etovernem eine rotbraune Färbung. Auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben.

Während Atoz und Gaitaan dem Händler folgten, tummelten sich Etarianer verschiedenster Farben auf den Märkten der Stadt. Sie handelten miteinander und karrten Waren durch die engen Gassen. Neben dem Marktplatz befand sich eine Militärkaserne. Atoz konnte sich gut an seine Zeit der Ausbildung erinnern. Schwerter schwingen und Muskeln stählen; bis sein Körper bei jeder Bewegung schmerzte und Erschöpfung und Hitze ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit getrieben hatten.

Die ärmsten Etarianer lebten nahe der Mauer. Sie waren meist einfache Händler, die nicht lange im Militär gedient hatten. Ihre Häuser waren klein und baufällig. Aber wenn man in Richtung Innenstadt ging, so wie Atoz dies tat, wurden die Gebäude größer und solider. Je näher man der Stadtmitte kam, desto prunkvoller waren die Lehmbauten. Hier lebten Generäle und Heerführer und Veteranen. Im Zentrum der Stadt stand der Sonnenturm, einhundert Meter hoch und aus Marmor. Der Turm ragte wie eine weiße Lanze in den blauen Himmel.

Atoz setzte seinen Weg durch die Stadt fort, blickte dabei auf die gezackte Sonne aus Gold, die auf der Spitze des Sonnenturms thronte und glänzte. Das Wappen der etarianischen Nation hatte die Flüchtlinge angelockt. Zwei Monate waren seit der Sichtung der Grauen vergangen, und seitdem strömten Menschen nach Etovernem, in der Hoffnung, einem Krieg mit ihren Märchengestalten entgehen zu können. Atoz hatte die Menschen gesehen.

Als die ersten Flüchtlinge vor den Toren standen, patrouillierten Atoz und Gaitaan auf der Stadtmauer. Aus acht Metern Höhe hatte Atoz die Gesichter der Menschen nicht erkennen, nicht sehen können, wie alt oder in welchem Zustand sie waren. Es waren ungefähr zwanzig. Mit festen Stimmen hatten sie um Einlass gebeten. Doch es war ihnen kein Empfang bereitet worden, niemand hatte mit ihnen gesprochen. Bald war ihr Flehen verstummt, wurde zu einem hasserfüllten Brüllen. Die Etarianer seien herzlose Bastarde, würden Frauen und Kinder einfach verrecken lassen. Sie bekämen schon noch, was sie verdienten. Gaitaan hatte nur geschmunzelt und mit dem Kopf geschüttelt.

„Wir sind da“, sagte der Händler, als er vor einer Lehmhütte stehen blieb, die im Schatten einer Kaserne lag. „Hätte ich gewusst, dass ihr kommt, hätte ich aufgeräumt.“ Er steckte einen rostigen Schlüssel in das Schloss, die Tür öffnete sich mit einem Quietschen.

Das Innere der Hütte war finster. Spärliches Licht fiel durch ein einzelnes, kleines Fenster. Die Luft roch muffig. Im Raum war es kühl. Dutzende Holzkisten waren übereinandergestapelt, reihten sich die Wände entlang. „Beachtlich“, sagte Gaitaan. „Woher habt Ihr all die Kisten?“

„Eine Karawane versorgt mich mit Waren aus dem Süden. Sie sind alte Freunde, verkaufen mir das Zeug äußerst billig. Aber sagt, warum fragt Ihr nach? Das ist doch nicht verboten.“

Gaitaan brummte nur und durchschritt den Raum. Das Licht fiel auf seine hellgelben Schuppen, hob seinen Körper von der Dunkelheit ab. Das Scheppern seiner Stiefel hallte von den Wänden wider. Vor einer besonders großen Kiste blieb er stehen. „Hier riecht es komisch.“

„S… so?“ Daarq machte ein paar Schritte zurück. Atoz stellte sich neben ihn, so dicht, dass seine Schulterplatten den Händler berührten. „Wollt Ihr uns verlassen?“, fragte Atoz. Daarq antwortete nicht.

Gaitaan trat sacht gegen die Kiste und fragte: „Was dagegen, wenn ich sie aufmache?“ Daarq schwieg weiter, Gaitaan grinste und sagte: „Ich danke Euch für die Erlaubnis.“ Er zückte sein Schwert und stemmte die Kiste auf. Das Holz knarzte und knackte, bis es schließlich barst. Rohes Fleisch purzelte über den Boden, wirbelte Sand auf. Gaitaan lachte. „Es ist ein Wunder, Atoz. Der gute Daarq hier scheint mir der einzige Etarianer zu sein, der Fleisch vertragen kann.“

„Was wollt Ihr mit dem widerlichen Fraß?“, fragte Atoz. „Verkaufen könnt Ihr es ja schlecht. Ober wollt Ihr, dass jeder Etarianer in der Stadt tagelang erbricht?“

Daarq seufzte und ließ die Schultern hängen. Er wirkte erschöpft. „Das ist für die Menschen.“

Gaitaan ging auf den Händler zu und sagte: „Ah, ein Wohltäter. Schenkt Ihr den Weichhäutern das Fleisch aus reiner Herzensgüte?“

„Die Flüchtlinge haben Gold, nicht viel, aber genug“, sagte Daarq. „Sie bezahlen eine Menge für frisches Fleisch. Ich muss auch von was leben.“

„Ich fürchte, Ihr habt Euch damit keinen Gefallen getan“, sagte Atoz. „Für dieses Vergehen müssen wir Eure Waren in Beschlag nehmen. Euer Marktstand wird geschlossen.“

„Warum?“

„Es ist das Gesetz des Superiorius“, sagte Atoz tonlos.

„Aber … aber was mach ich denn jetzt?“

Gaitaan klopfte dem Händler auf die Schulter und schenkte ihm ein Lächeln. Es hatte nichts Freundliches. „Das hättet Ihr Euch vorher überlegen sollen. Unserem Feind helfen zu wollen, dafür habe ich kein Verständnis.“ Dann verließ er das Warenlager und rief einige Wachen herbei.

Daarq setzte sich auf eine Kiste und murmelte etwas. Atoz trat hinaus, zurück ins gleißende Sonnenlicht.

Gaitaan stand neben einem Marktstand und betrachtete Amulette in der Auslage. Als er ihn erreichte, fragte Atoz: „Geht dir das nicht nahe? Wir haben gerade das Leben dieses Händlers zerstört.“

„Wir? Nein, das hat er ganz allein zu verantworten. Hätte den Menschen nicht helfen sollen, seine Gier im Zaum halten müssen. Es ist ein Verbrechen, den Feinden Etasias beizustehen.“ Gaitaan wandte sich ab; damit war das Gespräch beendet. Er nahm ein Amulett in die Hand, drehte es hin und her, hielt es ins Sonnenlicht, fragte: „Hast du Gold bei dir?“

„Ein bisschen“, sagte Atoz. „Was willst du denn damit?“

„Ich möchte meiner Schwester etwas kaufen. Du machst es ja nie. Keine Sorge, du bekommst das Geld wieder.“

Atoz kramte einen Geldbeutel hervor, reichte ihn Gaitaan. „Kauf ihr was Schönes, ja?“

„Selbstverständlich. Weißt du, manchmal denke ich, sie hat was Besseres verdient. Aber nein, stattdessen muss sie mit dir alten Stinkstiefel vorliebnehmen.“ Er knuffte Atoz gegen den Arm und grinste. „Wahrhaftig eine Schande.“

„Ich habe sie nicht gezwungen, mit mir zusammenzuleben.“

Gaitaan verengte die Augen. „Ich scherze doch nur. Verflucht, was ist los mit dir? Du bist in letzter Zeit so angespannt. Fühlst du dich nicht gut?“

Atoz blickte erneut Richtung Sonnenturm. Die gezackte Sonne auf dessen Spitze blendete ihn, erinnerte ihn daran, wie er den Menschen gegenübergestanden hatte, damals im Glaubenskrieg. Er war jung und unerfahren gewesen. Und in den Augen der Menschen hatte ein Feuer der Wut und der Leidenschaft gebrannt. Die Narben an Atoz‘ Körper konnten ihren Zorn bezeugen. Gegen Ende der Schlacht hatte er viel Blut verloren und in die braunen Augen des Menschenkönigs geblickt. „Es geht mir gut. Sag, macht es dir etwas aus, wenn ich dich allein lasse?“

Gaitaan seufzte. „Du willst wieder mit ihm reden, stimmt‘s? Das geht nie gut aus. Tu dir das nicht wieder an.“

„Ich muss. Wir sehen uns heute Abend“, sagte Atoz.

Er schloss sich dem Strom etarianischer Passanten an, ging vorbei an Dutzenden Wachen, die Schilde und Hellebarden trugen. Als er über seine Schulter spähte, redete Gaitaan mit einer Händlerin, schenkte Atoz keinerlei Beachtung.

Atoz erreichte die Innenstadt. Soldaten marschierten über den Platz vor dem Sonnenturm. Einige standen Wache und unterhielten sich. Ihre Rüstungen schimmerten silbern im Licht. Marmorgepflasterte Wege führten gradlinig in Richtung Turm, ähnlich den Speichen eines Rades. Zwischen diesen Wegen, die von Palmen gesäumt waren, ruhten Seen. Hellblau und still. Die Quelle befand sich unter der Stadt. Höhlen voller unterirdischer Seen versorgten Etovernem mit klarem, kühlem Trinkwasser; und dort, wo der Sonnenturm stand, hatte sich einst eine Oase befunden.

Die ersten Etarianer in Vernland hatten die Wüste vor fünfunddreißig Jahren von einem Fürsten erstanden. Dann begannen sie damit, Etovernem um die Oase herum zu errichten. Lehm wurde gebrannt und Hütten wurden errichtet und große Schiffe hatten Marmor aus Etasia gebracht. Seitdem florierte die Stadt, und der Marmor des Sonnenturms erstrahlte im Herzen Etovernems.

Jedes Mal, wenn Atoz den Turm betrat, dachte er an Gemälde aus Etasia. Atoz war unter den ersten Etarianern gewesen, die in Etovernem schlüpften. Er hatte die Heimat seines Volkes jenseits des Meeres nie gesehen. Nur die Gemälde, die in den Kasernen und Militärschulen hingen, verschafften ihm einen Eindruck von Etasia. Der Marmor, die goldenen Säulen in der Eingangshalle, die Wachen in schwarzen Rüstungen; alles im Sonnenturm sah genauso aus, wie sich Atoz das Land seiner Vorfahren vorstellte. Doch das Gold in Etovernem war lediglich Farbe, und oberhalb der Eingangshalle gab es keinen Marmor. Nur graues Gestein.

Obergeneral Muutuq saß an seinem Schreibtisch. Er war ein alter Etarianer, hatte graue Schuppen und ein knochiges Gesicht. Er trug olivgrüne Leinenkleidung und ein Barett derselben Farbe, auf dem eine goldene Brosche in Form der gezackten Sonne steckte. Als Atoz das Arbeitszimmer betrat, sah der Obergeneral von einem Blatt Papier auf, musterte Atoz mit hellblauen Augen, die an den Himmel erinnerten. „Was machst du hier?“, fragte der Obergeneral.

„Darf ich dich nicht besuchen, wenn mir danach ist?“, fragte Atoz.

Muutuq sagte: „Wenn es doch nur so wäre; aber du kommst nur, wenn du etwas von mir willst.“

Atoz setzte sich auf einen Holzstuhl und schlug die Beine übereinander. „Ich bin das Wacheschieben leid.“

„Ha, daher weht also der Wind. Du bist zwar ein Kriegsheld, aber auch du musst deinen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Damit du nicht einrostest, wenn du verstehst.“

„Kriegsheld … nenn mich nicht immer so.“

Schweigen trat ein. Sonnenlicht fiel durch das Fenster, traf auf die hölzerne Einrichtung und die Hände des Obergenerals. Die Schuppen waren fahl, die Finger dürr. Schließlich sagte Muutuq: „Warum nicht? Das bist du nun mal, da kannst du dich noch so sehr sträuben.“

Atoz dachte an den Menschenkönig und die Klinge und das Blut. Eine Erinnerung, die selbst nach vierzehn Jahren nicht verblasste. „Ich habe …“

„Ich will das nicht hören, nicht schon wieder.“

Atoz schwieg.

„Du hast eine Verpflichtung unserem Volk gegenüber, verdammt“, sagte Muutuq. „Jedes Mal muss ich mir dein Gejammer anhören. Es reicht. Du bist ein Held, eine Statue von dir wird bald in der Heldenhalle stehen und du wirst auf dem Mond mit den Hohen Kriegsherren speisen. Du bist der Schwarzgeschuppte, der von den Kriegsherren Gesegnete. Hör auf, das ständig anzuzweifeln.“

„Um auf den Mond zu gelangen, müsste ich erst sterben.“

Muutuq nickte. „Ja, vielleicht blicken wir alle bald dem Tod ins Antlitz.“

Atoz runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Eine Taube ist gekommen. Nachricht von deinem Bruder.“

„Von Xaviin?“ Atoz‘ Bruder hatte einst im Sonnenturm gelebt, dort Verträge aufgesetzt und Schlachtpläne geschmiedet. Seinem taktischen Kalkül war es zu verdanken, dass die Etarianer den Glaubenskrieg schnell für sich entscheiden konnten. Eine Tatsache, über die Xaviin nie gesprochen hatte.

Muutuq sagte: „Fürst Tiogan Aureld feiert nächste Woche seinen sechzigsten Namenstag.“

„Und?“

„Es heißt, die anderen Fürsten werden daran teilnehmen, allesamt. Seit vierzehn Jahren haben sie sich nicht mehr versammelt, jedenfalls nicht alle gleichzeitig. Ich könnte schwören, die hecken was aus. Sie wollen sich an uns rächen, da bin ich mir sicher.“

„Was sollen wir dagegen unternehmen?“

„Was können wir schon tun? Wir können nur warten und uns wappnen. Wenn sie Krieg wollen, können sie Krieg haben. Sie haben damals verloren, sie werden wieder verlieren.“

Atoz war sich da nicht so sicher. Vierzehn Jahre der Unterdrückung - nichts anderes war die Herrschaft der Etarianer für die Menschen - mussten etwas bewirkt haben. Wut und Rachsucht und den Willen, das zurückzuholen, was ihnen genommen wurde. „Gaitaan und ich haben heute einen Marktstand geschlossen“, sagte Atoz. „Der Händler wollte Fleisch an die Menschen verkaufen.“

„Hm, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gierigeren unter uns die Gelegenheit nutzen, den Menschen Gold aus den Taschen zu ziehen. Wie viel Fleisch?“

„Ich weiß es nicht genau. Es waren viele Kisten.“

Muutuq zuckte mit den Schultern. „Das wird häufiger vorkommen, damit müssen wir uns abfinden. Wir können lediglich jene bestrafen, die wir erwischen.“

„Wir sollten den Verkauf von Fleisch erlauben. Zu angemessenen Preisen.“

Muutuq erstarrte, blickte drein, als hätte Atoz ihn angespuckt. „Bist du des Wahnsinns?“ Seine Stimme war leise, fast ein Zischen.

Atoz zwang sich, ruhig zu bleiben, während er sagte: „Sollten wir den Flüchtlingen nicht helfen? Ist es nicht besser so? Für uns, für sie, für die Frieden in der Stadt? Was ist mit dem Friedensvertrag? Wir haben den Menschen versprochen, für ihren Schutz zu sorgen, solange sie unsere Verbote einhalten. Hast du das vergessen?“

„Du hast uns den Sieg beschert, nun willst du unserem Feind beistehen?“ Enttäuschung lag in Muutuqs Stimme. „Wenn der Superiorius davon erführe … bei der Sonne.“ Muutuq fuhr sich über die Stirn und sagte: „Als Nächstes willst du sie noch in die Stadt lassen, wie? Friedensvertrag hin oder her, du weißt, wie unser Volk ist. Sie würden die Flüchtlinge lynchen. Öffneten wir den Menschen die Tore, sie würden nicht lange überleben. Und wir haben ohnehin nicht genug Nahrung, um sie durchzufüttern. Es treffen derzeit kaum Schiffe in Iogunhafen ein. Wieder ein Engpass.“

Iogunhafen lag wenige Wegstunden nördlich von Etovernem. Als die Etarianer Vernland erreicht hatten, gingen sie zuerst in Iogunhafen vor Anker. Es hatten nur wenige Bewohner Widerstand geleistet. Laut den Geschichtsbüchern war es bloß eine Keilerei gewesen, die wie alle etarianischen Siege mit einem Vertrag endete. Muutuq sagte: „Wo wir gerade vom Hafen sprechen. Dein Besuch kommt mir sehr gelegen.“ Auf seinem Schreibtisch lag das Papier, das er gelesen hatte, als Atoz eingetreten war. Muutuq hielt es hoch und sagte: „Eine Nachricht kam aus Iogunhafen. Einige Soldaten sind desertiert.“ Er reichte Atoz das Dokument.

„Warum?“

„Sie wollten auf ein Schiff gelangen, zurück nach Etasia segeln. Offenbar weil sie Angst vor den Grauen haben.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Atoz. „Die Grauen sind ein Problem der Menschen. Es ist nicht einmal geklärt, ob es sie überhaupt gibt. Hast du die Soldaten verhören lassen?“

Muutuq schnaubte. „Natürlich. Glaubst du, ich mache das zum ersten Mal? Sie haben von jemand Grauem gefaselt. Anscheinend haben sie etwas gesehen.“

Atoz betrachtete das Papier und die geschwungenen Buchstaben darauf, las jedoch nicht. Er fragte: „Etwas Graues? Was kann das sein?“

„Als wir die Deserteure dazu befragen wollten, sind sie in Panik geraten. Haben sich geweigert, weiterzusprechen.“ Muutuq erhob sich und trat ans Fenster. Er sagte: „Wie dem auch sei, sie sind desertiert und werden ihre gerechte Strafe erhalten.“

„Gerechte Strafe? Du meinst Hinrichtung?“

„Ganz genau. In der großen Arena … und du sollst der Henker sein.“ Muutuq drehte sich um und lächelte.

„Ich?“ Hitze stieg Atoz ins Gesicht. Seine Rüstung wurde eng, das Schwert an seiner Hüfte schwer. Sein Herz schlug schneller, seine Hände zitterten. Die Vorstellung, Blut zu vergießen, erschwerte ihm das Atmen. „Ich habe seit vierzehn Jahren niemanden getötet. Warum jetzt, warum ich? Kann das nicht ein gewöhnlicher Henker übernehmen?“

„Nun … nennen wir es einen symbolischen Akt. Du sagst es selbst, wir hatten seit vierzehn Jahren keinen bewaffneten Konflikt mehr; und ich fürchte, unser Volk hat vergessen, was es heißt, Etarianer zu sein. Wir werden ihnen dieses Gefühl zurückgeben. Wir werden die Deserteure grau anmalen, dann wirst du sie köpfen. Es ist wichtig, dass du als Kriegsheld ein Zeichen setzt. Du musst beweisen, dass du noch genauso tödlich bist wie zur Zeit des Glaubenskrieges. Wenn das Volk deine Stärke sieht, werden sie wissen, dass sie nichts zu befürchten haben. Weder Graue noch rachsüchtige Fürsten.“

Atoz umklammerte das Papier, hörte es rascheln. Er dachte an den Menschenkönig und die Angst in seinem Blick, als Atoz ihn aufgeschlitzt hatte. Dann sah er Meero. Seine Schuppen waren voller Blut. Er stand über dem toten König, hatte Atoz angelächelt und zufrieden genickt. Atoz räusperte sich, verdrängte die Erinnerungen. „Ich werde niemanden hinrichten, weil er Angst hat. Erst recht keine Soldaten“, sagte er und bereute seine Worte, als er Muutuqs bebende Nüstern sah.

Der Obergeneral schlug mit der Faust gegen einen Holzschrank. „Wie kannst du es wagen, dich zu widersetzen? Ich hab mich wohl verhört! Du kannst nur froh sein, dass ich dich kenne, seit du geschlüpft bist. Sonst hätte ich dich schon längst aus der Stadt geworfen. Ich bin dein Obergeneral!“ Er betonte jedes Wort. „Es gibt nichts zu diskutieren! Du wirst nächste Woche diese Bastarde hinrichten, oder ich werde dafür sorgen, dass dein Kopf rollt, hörst du? Held hin oder her. Wenn du nicht tust, was ich befehle, dann … verflucht, dann hacke ich dir eigenhändig den Kopf ab.“

Atoz konnte dem nichts entgegnen. Er wusste nicht, ob Muutuq diese Drohung ernst meinte, wollte es auch nicht herausfinden. Stattdessen schwieg er, erhob sich, legte das Papier auf den Tisch und ging zur Tür.

„Menschen helfen und Befehle verweigern …“, sagte Muutuq. Seine Stimme zitterte vor Wut. „Nicht nur das Volk hat vergessen, was es heißt, Etarianer zu sein, scheint mir.“

„Was es heißt, ein Etarianer zu sein?“, fragte Atoz. „Was würde wohl der Superiorius sagen, wenn er erführe, dass wir hilflose Menschen vor unseren Toren verhungern lassen?“ Der Obergeneral entgegnete nichts, trat wieder ans Fenster. Atoz verließ den Raum.

Die Kuppel der Heldenhalle hatte eine Öffnung in der Mitte, sodass Sonnenlicht auf die Marmorstatuen der Kriegshelden fallen konnte. Die Statuen standen an den Wänden der kreisförmigen Halle, ihre Gesichter waren auf die Mitte des Raumes gerichtet, wo eine Büste des Superiorius stand. Atoz hatte einst ein Gemälde des Superiorius gesehen. Der Vater aller Etarianer hatte eine weiße Robe getragen und eine silberne Krone ruhte auf seinem Haupt. Im Hintergrund erhob sich der Sonnenpalast. Groß und prunkvoll und so rund wie der Mond.

Eine Vielzahl der Bürger kam oft in die Heldenhalle, um sich an vergangene Glanzzeiten zu erinnern und um zukünftigen Heldentaten entgegenzufiebern. Doch Atoz war nicht hier, um seinen Respekt zu bekunden. Er betrachtete die steinernen Gesichtszüge eines Helden, der die Invasion eines längst vergessenen Feindes zurückgeschlagen hatte. Auf der Gedenktafel zu seinen Füßen stand, dass seine Schuppen schwarz gewesen waren. Atoz dachte an Meero, der mit ihm gegen den Menschenkönig gekämpft hatte, berührte dabei die Statue und fuhr mit den Fingern über die Wölbungen und Vertiefungen des Helden. Es war alles so glatt, so unnatürlich.

„Ich glaube nicht, dass man die anfassen darf.“

Atoz drehte sich um. Gaitaan stand hinter ihm. „Da bist du ja endlich“, sagte Atoz.

„Kannst du mir nun sagen, warum du mich hier treffen wolltest?“, fragte Gaitaan.

„Ich brauche deine Hilfe.“

„Wobei?“

„Du hast doch gute Verbindungen zum Militär, oder nicht? Du bist bei den Soldaten sehr beliebt, du musst für mich einige von ihnen rekrutieren.“

„Was für Soldaten? Und wofür?“

„Männer, die mir die Treue schwören würden, auch wenn das bedeuten könnte, den Obergeneral zu verärgern.“

„Was soll das? Was hast du vor?“

Gaitaan war Atoz‘ bester Freund, sein einziger Freund, wenn er darüber nachdachte. Sie hatten ihre Jugend zusammen verbracht, hatten gemeinsam die Militärausbildung gemeistert und Seite an Seite im Glaubenskrieg gekämpft. Wenn er ihm nicht vertrauen konnte, wem dann? „Ich muss ihn suchen.“

„Wen?"

„Den zweiten Schwarzgeschuppten.“

„Was? Du meinst … Was ist in dich gefahren?“

Atoz sagte: „Ich habe das Gefühl, dass uns ein Krieg bevorsteht. Entweder gegen die Grauen oder gegen die Menschen. Und ich bin mir sicher, dass Meero eine Rolle darin spielen wird.“

Gaitaans Augen weiteten sich. Er sah sich um und sagte: „Erwähne diesen Namen nicht. Wenn das jemand hört, bekommst du Schwierigkeiten, und zwar gewaltige.“

„Das ist mir gleich. Ich muss ihn finden.“

„Du … du bist doch verrückt. Vergiss das lieber wieder. Niemand hat ihn seit seiner Verbannung gesehen. Wahrscheinlich ist er schon vor Jahren gestorben.“

„Und wenn nicht? Wenn er noch da draußen ist?“

Gaitaan sagte: „Atoz, wir haben viel zusammen durchgemacht, denk nur mal an unsere ersten Jahre beim Militär. Du vertraust mir doch, oder? Dann hör auf mich, wenn ich dir sage, dass das keine gute Idee ist. Dieser Verräter ist gefährlich.“

„Vermutlich hast du recht. Aber bedenke eines: Meero kennt die Stadt, er kennt uns, unsere Schwachstellen.“

Gaitaan verfiel in Schweigen. Atoz sagte: „Wenn Meero lebt, dann müssen wir ihn finden, bevor es unsere Feinde tun. Er weiß zu viel über Etovernem, könnte unseren Gegnern alles verraten. Und er hat vierzehn Jahre in Vernlands Wildnis verbracht. Vielleicht weiß er, ob es die Grauen gibt, wer sie sind und was sie wollen. Vielleicht kennt er sogar die Fürsten, könnte mit ihnen reden. Wir müssen Meero finden. So schnell wie möglich.“

Atoz verschwieg die Deserteure und die Drohungen des Obergenerals. Die Suche nach Meero eilte vielleicht nicht, aber Atoz wollte nicht herausfinden, ob ihn der Obergeneral für Ungehorsam köpfen würde. Also nutzte er das stärkste Gefühl, das Etarianer kannten, um Gaitaan davon zu überzeugen, die Stadt zu verlassen. Die Liebe für die eigene Nation. Alleine würde Atoz in der Wildnis nicht lang durchhalten, das war ihm bewusst.

„Warum jetzt? Warum nicht früher?“, fragte Gaitaan.

„Hast du denn vorher vermutet, dass die Menschen etwas planen? Und hast du geglaubt, es gäbe Graue?“

„Ich bin mir jetzt noch nicht sicher, ob es sie gibt.“

„Und die Fürsten, sie wollen Rache. Der Obergeneral nimmt an, dass sie bald in den Krieg ziehen werden. Das müssen wir verhindern. Unserer Heimat zuliebe.“

Gaitaan betrachtete die Statue des Helden, seufzte und sagte mit leiser Stimme: „Ich möchte nicht, dass unserer Nation Unheil widerfährt. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Danke. Du bist ein wahrer Freund.“

„Versteh mich nicht falsch, ich halte dieses Vorhaben für wahnsinnig. Dieser Etarianer wird kaum mit sich reden lassen, sollte er noch am Leben sein. Ich glaube nicht, dass er uns helfen wird. Nicht mit den Grauen, nicht mit den Menschen. Und falls der Obergeneral von der Sache erfährt, rollen Köpfe.“

„Ich verstehe das. Wenn du niemanden findest, der uns begleiten würde, dann haben wir wenigstens versucht, den Frieden zu wahren.“ Sie umarmten sich zur Verabschiedung, dann verließ Gaitaan die Heldenhalle.

Atoz blieb vor der Statue des Kriegshelden stehen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie eines Tages seine Statue in diesem Raum stünde. Aus dem gleichen Marmor. Glatt und weiß, rein und unbefleckt. Es fühlte sich falsch an. Atoz schloss die Augen und Erinnerungen aus dem Glaubenskrieg überkamen ihn. Wie so häufig, wenn er die Augen schloss. Erinnerungen an Blut und Tod.

Etarianische Brüder lagen im Sand. Ihre Gliedmaßen waren abgetrennt, Blut vermischte sich mit dem Sand zu einem bräunlichen Matsch. Die Etarianer riefen nach ihren Familien, ihren Geschwistern, Eltern, Frauen. Und dann wurden aus Etarianern Menschen, die ebenso qualvoll schrien und verbluteten. Menschen, die Atoz niedergestreckt hatte.

Er umklammerte sein Schwert. Als er die Augen öffnete, hatte er das Gefühl, die Statue des Kriegshelden würde grinsen. Böse und schadenfroh. Atoz atmete schneller, seine Rüstung wurde schwer. Alles wirkte eng und bedrohlich. Die Wände kamen auf ihn zu, wollten ihn zu einem blutigen Fleck zerdrücken. Blut tropfte aus den Augen der Statue. Sie schrie.

„Mein Bein … wo ist mein Bein? Bitte, es tut so weh.“

„Meine Augen! Ich kann nichts sehen.“

„Sieh, was du angerichtet hast, Mörder!“

Die Stimmen prasselten auf Atoz ein. Die Luft roch nach Kupfer, nach Blut. Fast greifbar. Der Boden färbte sich rot, war voller Gedärm, das schleimig schimmerte. Atoz wollte sein Schwert wegwerfen und seine Rüstung ablegen, doch es war ihm nicht möglich. Die Scharniere, Laschen und Gürtel konnten nicht gelöst werden. Er lief zum Ausgang, stürmte keuchend aus der Halle und ignorierte die Worte der verwirrten Wachen.

Das Plätschern der Seen vor dem Sonnenturm tat Atoz gut, beruhigte ihn. Die gezackte Sonne auf der Turmspitze leuchtete orangerot im Abendhimmel. Aber es war nur ein Metallklumpen, glanzlos und ohne Wärme. Atoz fasste einen Entschluss.

Er würde die Deserteure in der Arena nicht hinrichten, keine Schlachten führen, keine menschlichen Leben nehmen. Ein Krieg hatte ihm gereicht. Er wollte Menschen und Etarianer vor Leid bewahren, einen weiteren Krieg verhindern, bevor er stürbe. Wenn er dafür sein Volk verraten und sich mit einem Verbrecher verbünden müsste, dann würde er es tun. Dann gäbe es nach seinem Tod keine Ruhestätte auf dem Mond, keine Statue in der Heldenhalle. Die Menschen würden Atoz schnell vergessen, die Etarianer ihn verachten. Dann bliebe nur die Dunkelheit; und es wäre gut so.

Eine Heimat des Krieges

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