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Die Rückkehr des Vaters und die Schüleraktiengesellschaft

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Heute stand mein Vater ganz unerwartet vor der Tür. Ich habe ihn zunächst gar nicht erkannt, als ich ihm am frühen Nachmittag die Tür geöffnet habe, weil er seinen Hut weit ins Gesicht gezogen hatte. Er wollte wohl von niemandem gesehen werden. Die Presse stürzt sich ja auf solche Geschichten, wenn der international bekannte Industrielle seine ehemalige Geliebte und mittlerweile geschiedene Ehefrau besucht.

Er war aber ganz nett und fragte mich: „Bist Du Betty von Stahl?“, und als ich bejahte, sagte er: „Ich habe dich als kleines Mädchen gekannt mit Zöpfen und Matrosenkleidchen. Jetzt bist Du ja schon fast eine große Dame!“ Ich freute mich über das Kompliment und führte ihn, als er mich bat, meine Mutter sprechen zu dürfen, ins Wohnzimmer.

Meine Mutter, die dort mit der Reinigung ihrer Schmucksachen beschäftigt war, erkannte meinen Vater sofort und begrüßte ihn überrascht mit den Worten: „Thilo, Du hier?“ Mein Vater sagte hierauf: „Ja, liebe Ate, ich hätte schon viel eher kommen sollen, aber alle diese falschen Rücksichten, die mir als künftigem Konzernchef schon mit der Muttermilch eingeflößt worden sind, haben mich daran gehindert.“ „Und natürlich die Rücksicht auf Deine neue Frau, die es Dir aber nicht gedankt hat! Man sagt, sie treibe sich mehr in New Yorks Nachtlokalen herum als in Deiner luxuriösen Villa!“ stellte meine Mutter etwas schadenfroh fest. „Ich hatte nicht genug Zeit für sie, wie ich nicht genug Zeit für dich hatte. Ich bin ein Sklave meiner Firma! Aber darüber wollte ich nicht mit Dir sprechen! Ich bin gekommen, um über Kai und Betty mit Dir zu reden!“ antwortete mein Vater hierauf.

„Also hast Du dich doch noch daran erinnert, dass Du Kinder hast“, erwiderte meine Mutter ziemlich spitz. „Lass bitte diese polemischen Töne“, forderte darauf mein Vater. „Du weißt, ich bin krank, ich habe keine Energie mehr für unnütze Auseinandersetzungen, lass uns wie zwei vernünftige Erwachsene und gute Freunde miteinander reden. Ich weiß selber, dass ich Fehler gemacht habe. Ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt. Jetzt sollten wir ein nützliches Gespräch über eine sichere Zukunft für unsere Kinder nicht durch das Aufwärmen vergangener Geschichten unmöglich machen.“ „Verzeih“, sagte hierauf meine Mutter, „ich will dir keine Vorwürfe machen, aber meine Gefühle, die, wie Du dir denken kannst, nicht frei von Bitterkeit sind, brechen alle meine guten Vorsätze. Ich will mich aber, so gut es geht, zusammennehmen und dir keine Szene machen!“ „Dann darf ich also ablegen, mich setzen und dich um einen starken Kaffee bitten“, sagte hierauf mein Vater. „Du kannst dich hier, wie früher schon einmal, ganz zu Hause fühlen!“ antwortete meine Mama und gab mir einen Wink, um meinem Vater Mantel und Hut abzunehmen. Mein Vater überhörte die erneute leichte Spitze, gab mir seine Klamotten und setzte sich in einen unserer Ledersessel.

Mama kochte einen starken Kaffee und sagte mir, als ich unschlüssig in der Küche neben ihr stand und nicht wusste, ob ich in mein Zimmer gehen oder weiterhin bei ihr bleiben sollte: „Du kannst zuhören, worüber wir uns unterhalten. Es geht schließlich um dich und Kai. Außerdem kann ich verstehen, wenn Du deinem Vater, der dir fremd geworden ist, wieder näher kommen willst!“ Ich freute mich über diese Aufforderung, nahm mir aber trotzdem ein Buch zur Tarnung meiner Anwesenheit mit, als ich mit meiner Mutter ins Wohnzimmer zurückging.

Ich setzte mich auch etwas entfernt von meinen Eltern auf meine Lieblingscouch und vertiefte mich scheinbar in mein Buch. In Wirklichkeit verfolgte ich aber aufmerksam ihr Gespräch. Vater fragte zunächst: „Wo ist eigentlich Kai?“ Mutter antwortete darauf: „Er nutzt die Ferienzeit zu einer seiner einsamen Wanderungen durch Bayerns Berg- und Seenlandschaften. Er hat ein superleichtes Tragezelt, eine Isomatte und seinen Schlafsack dabei und campiert dort, wo es ihm gefällt. Er beobachtet die Tiere in freier Natur, macht Skizzen von seltenen Pflanzen und schönen Landschaften und schreibt auch das eine oder andere Naturgedicht in seine Kladde! Manchmal ist er eine ganze Woche oder auch länger völlig von der Bildfläche verschwunden, und ich mache mir die größten Sorgen um ihn. Und dann steht er eines Tages wieder quietschvergnügt vor der Tür, erdrückt einen mit seinen freudigen Emotionen und kann sich nicht genug tun mit seiner Begeisterung über alle die vielen Begegnungen und neuen Erfahrungen, die er während seiner Tour gemacht hat. Er kann davon stundenlang erzählen!“

„Das entspricht genau den Berichten, die mir seine Lehrer aus dem Schweizer Internat geschickt haben“, bestätigte mein Vater die Aussage meiner Mutter. „Auch dort verschwindet er tageweise ins Unbekannte und kommt dann gut gelaunt mit vielen Fotos von Gebirgslandschaften, die er durchwandert hat, wieder zurück. Seine Leistungen in den Lernfächern, also Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik sind demnach auch katastrophal, während er in der Anfertigung von Aufsätzen, von Bildern und im Sport seinen Klassenkameraden weit überlegen ist. Er ist also, was seine Intelligenz und seine Persönlichkeitsentwicklung betrifft, seinen Mitschülern voraus, aber es ist völlig unmöglich, ihn an regelmäßiges Arbeiten, an die Befolgung von Anstaltsvorschriften, an Kleiderordnungen und an die Teilnahme von Gemeinschaftsveranstaltungen zu gewöhnen.

Er gilt bei seinen Lehrern als ein romantischer, intellektueller Anarchist, den man auf keine Weise steuern oder berechnen kann. Seine Mitschüler dagegen bewundern, ja verehren ihn als Helden, der gegenüber dem Anstaltsbetrieb seine Unabhängigkeit bewahrt und mit seinen gefährlichen Alleingängen in den Bergen dem Muff des Lernstoffes die Gloriole des Abenteuers entgegensetzt. Er hat unter den Schülern schon Nachahmer und viele Anhänger gefunden, die wild auf seine Geschichten sind und seine philosophischen Ansichten über ein einfaches, spontanes und naturgemäßes Leben wie einen Katechismus nachbeten. Der Leiter des Internats sieht daher das pädagogische Konzept des Internats, das darin besteht, gut sozialisierte und leistungsfähige Mitglieder einer kultivierten Zivilgesellschaft heranzubilden, gefährdet und lehnt daher ein weiteres Verbleiben von Kai in dem Internat ab.“

„Das heißt: man hat ihn aus dem Internat herausgeworfen?“ fragte meine Mutter. „Fristlose Kündigung sozusagen!“ bestätigte mein Vater. „Davon hat er mir kein Wort gesagt!“ erzürnte sich meine Mutter. „Die ganze Geschichte ist ihm sehr peinlich“, erklärte mein Vater. „Der Leiter des Internats hat mir noch zwei weitere Gründe für die sofortige Entlassung Kais aus dem Internat genannt. Erstens halte das Lehrerkollegium ein Bestehen des Abiturs von Kai nach dem bisherigen Leistungsstand für ausgeschlossen und zweitens hätten sich auch die Eltern von anderen Schülern beschwert, dass Kai einen unguten Einfluss auf ihre Söhne ausübe, sie vom Lernen abschrecke, sie zu einem übertriebenen Aktionismus dränge, um eigene Erfahrungen zu sammeln und ihnen ein Sozialverhalten nahelege, das keine überkommenen Sitten und Gebräuche mehr respektiere.“

Mein Vater machte eine Pause. Dann fügte er nachdenklich den Gedanken an: „Kais Vorstellungen vom Leben sind das krasse Gegenteil von meinen Vorstellungen. Ich bin zu Disziplin, Fleiß, Leistungsbereitschaft und Anpassung an die Gepflogenheiten meiner Familie, die Erfordernisse meiner Stellung im Betrieb und zur Beachtung der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse erzogen worden, zu einem berechenbaren, planmäßigen Handeln und bin dadurch ein unglücklicher, einsamer Mensch geworden. Er hat das wohl instinktiv begriffen und sich geschworen, nicht in meine Fußstapfen zu treten, sondern ohne Rücksicht auf irgendwelche Verpflichtungen seinen eigenen Weg zu gehen, um sein Glück zu finden.“

„Bis jetzt ist ihm das auch bis auf kleinere Abstriche gelungen!“ antwortete meine Mutter und konnte es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: „Er würde wohl nie aus Rücksicht auf mich oder meine Geschäfte eine Frau, die er liebte, verlassen!“ Dann wechselte sie aber schnell, als sie sah, dass die steilen Falten zwischen den Augenbrauen meines Vaters sich vertieften, das Thema und fragte: „Wo hat Kai denn seine Sachen gelassen, die er im Internat hatte?“ „Ich habe sie abgeholt und in meinem Wagen“, antwortete Vater. „Wenn Ihr mir behilflich sein wollt, so können wir sie hereinholen“, und auf den fragenden Blick von Mama ergänzte er noch, „der Direktor des Internats und ich hatten das so abgesprochen.“

Wir holten also Kais Klamotten aus dem Auto und auch den Koffer, den Vater dabeihatte, denn es stellte sich heraus, dass er einige Tage Zeit hatte, um zu bleiben, wenigstens so lange, bis Kai nach Hause käme, um mit ihm die weitere Ausbildung besprechen zu können.

Nachdem wir wieder im Wohnzimmer waren, fragte mich mein Vater, was ich einmal werden wolle. Ich sagte: „Ich will einen Millionär heiraten, ein schönes Haus mit einem Swimmingpool haben, etwa zwei oder drei Kinder großziehen und mich ansonsten mit Pferden und der Börse beschäftigen.“ „Da hast Du ja allerhand vor“, sagte mein Vater. „Wie kommt denn ein Mädchen in deinem Alter darauf, Börsengeschäfte machen zu wollen?“ fragte er dann weiter. Da habe ich ihm erzählt, dass wir in der Schule eine Aktiengesellschaft gegründet hätten und dass ich meine zwei Aktien à fünf Mark gekauft und für vierzig Mark verkauft hätte und somit 70 DM damit verdient hätte, ganz abgesehen von den Gewinnen, die ich mit meinen Verkäufen von Getränken und Süßigkeiten gemacht hätte. Da musste mein Vater lachen und erklärte mir, dass er noch gar nicht gewusst habe, dass ich so geschäftstüchtig sei. Da rückte ich sogar mein wichtigstes Geschäftsgeheimnis heraus. „Ich habe Aktien von deiner Firma vor einem halben Jahr im Wert von 10000 DM gekauft und jetzt sind sie schon 18000 DM wert. Ich bin von unserer Schule die geschäftstüchtigste Aktionärin!“

„Donnerwetter“, sagte mein Vater. „Wie kommst Du denn an die Aktien? Du bist doch noch ein Kind!“ „Das ist ein Projekt der Banken!“ antwortete ich. „Es geht natürlich nicht um richtige Aktien, sondern um Spielaktien, die aber an die richtigen Börsenkurse gebunden sind. Und wer in einem halben Jahr von uns Schülern den höchsten Gewinn gemacht hat, der bekommt 100 DM. Im ersten halben Jahr war ich die Siegerin.“ „Gratuliere“, sagte mein Vater, aber vielleicht darf ich dir den Tipp geben, deine Aktien bald zu verkaufen, denn sie haben ihren vorläufigen Höchststand erreicht und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit an Wert verlieren. Vielleicht findest Du andere Aktien, die sich zu einem Höhenflug anschicken und dir weitere Gewinne einbringen?“

„Danke für den Tipp“, sagte ich. „Ich werde schon morgen meine Spielaktien verkaufen und mir meine Spielgewinne sichern! Vielleicht schaffe ich noch einmal den ersten Platz in unserer Gruppe! Dann gibt es für den Sieger sogar 200 Mark!“ „Wie wäre es, wenn Du Betriebswirtschaft studieren würdest?“ fragte mein Vater. „Bei deinem Riecher für gute Geschäfte könntest Du dann meine Nachfolgerin werden!“ „Nein, nein“, sagte ich. „Für uns Frauen gibt es wichtigere Dinge im Leben als gewinnbringende Geschäfte zu machen!“ antwortete ich. „Und die wären?“ fragte mein Vater.

„Liebe, Kinder, Glück!“ antwortete ich. Darauf erwiderte mein Vater: „Aber dafür braucht man auch Geld. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass eine Frau mit vier Kindern glücklich sein kann, wenn sie mit einem arbeitslosen Mann in einer Gartenlaube leben muss und vor Armut nicht weiß, wie sie ihre Kinder am nächsten Tag satt kriegt!“ „Man darf eben keinen Arbeitslosen heiraten!“ antwortete ich. „Mein Klaus Dieter will alles tun, um Millionär zu werden! Was für ein Risiko bleibt dann?“ „Dann steht deinem Glück allerdings nichts mehr im Wege!“ gab mein Vater zu. „Ich sehe, Kai und Du, Ihr habt beide aus meinem Schicksal gelernt und stellt das Lebensglück über den Dienst für den Erfolg einer Firma“, fuhr er fort.

„Vielleicht seid Ihr weiser als ich, aber auch Ihr könnt mit euren Plänen scheitern. Und deswegen möchte ich doch den eigentlichen Grund meines Kommens nicht verschweigen, denn ich wollte über meine Nachfolge in der Firma mit euch reden, das heißt in erster Linie mit Kai! Denn ich will schon Rücksicht darauf nehmen, dass ihr Frauen Wichtigeres im Leben zu tun habt als eine Firma zu führen. Zur Sicherheit werde ich mir aber erlauben, dich in meinem Testament mit einem solchen Vermögen zu bedenken, dass Du nie fürchten musst, mit vier Kindern und einem arbeitslosen Mann in einer Gartenlaube zu landen!“

Mir stockte bei diesen Worten der Atem, ich hatte einen Vater, der sich um meine Zukunft sorgte, der meine Zukunft absichern wollte, der mir ein schönes Leben ermöglichen wollte. Ja, ich hatte mich über das Kommen meines Vaters gefreut, ich hatte mich für ihn interessiert und mir alle seine Worte gemerkt. Ich hatte ihn als meinen Vater angenommen und betrachtete ihn mit viel Sympathie, aber ich hatte kein Entgegenkommen von ihm erwartet, kein Engagement für mich. Und jetzt hatte er gezeigt, dass er mich mochte, dass er an mich dachte und für mich sorgen wollte.

Ich konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Und jetzt geschah wirklich das Wunder, dass mein Vater mich in die Arme nahm, mich drückte und beruhigend streichelte, ja sogar einen scheuen Kuss auf mein fettiges Haar hauchte. Ich spürte diesen Hauch und es war ein Lebenshauch, ein Hauch wie Gott ihn einstmals bei der Erschaffung der Menschen der Eva eingehaucht haben musste, um sie zum Leben zu erwecken. Es war der Hauch, der mich mit meinem Vater so eins werden ließ, wie ich es durch die Nabelschnur mit meiner Mutter geworden war, und niemand und nichts würde diese Einheit und Zugehörigkeit mit und zu meinen Eltern mehr zerstören können. Ich umarmte meinen Vater und küsste ihn auf den Mund; und der spröde, beziehungsarme Mann ließ es geschehen und erwiderte meinen Kuss.

Meine Mutter hatte das Geschehen sichtlich beeindruckt und tief berührt. Sie wischte sich unauffällig ein paar Tränen aus den Augen und schnäuzte sich. Dann aber gewann ihre lebenspraktische Seite die Oberhand und sie wandte sich an ihren ehemaligen Mann mit der etwas steifen und förmlichen Floskel: „Thilo, ich danke dir, dass Du unsere Kinder auf solch fürsorgliche Art legitimierst! Vielleicht kannst Du Kai auch noch eine Chance geben, deine Nachfolge anzutreten. Er ist begabt genug für eine solche Aufgabe. Nur müsste er das Gefühl haben, dass er nicht nur als ein leistungsfähiger Funktionär von dir für deine Nachfolge vorgesehen ist, sondern als dein Sohn!“

„Du siehst, dass ich mich um ihn kümmere“, erwiderte mein Vater und zog einen Brief aus seiner Brusttasche und gab ihn meiner Mutter. „Die Antwort des Leiters von dem österreichischen Internat, in dem Kai sein Abitur machen kann“, erklärte er. „Es war übrigens nicht so leicht für Kai eine neue Schule zu finden“, fuhr er fort. „Die meisten Internate, die ich angeschrieben habe, haben eine Aufnahme von Kai abgelehnt! Dieses Internat war bereit, Kai alle Freiheiten zuzugestehen - sogar ein externes Wohnen - und natürlich spontane Bergtouren! Die Lehrer sind sogar bereit - gegen eine angemessene Bezahlung natürlich - Kai den Lernstoff, den er durch sein Fehlen versäumen sollte, in Privatstunden näher zu bringen. Was kann ich mehr für ihn erreichen und tun?“

„Dass Du persönlich mit ihm umgehst, eine Beziehung zu ihm aufbaust, ihm deinen Betrieb zeigst, ihn mit auf Geschäftsreisen nimmst“, antwortete meine Mutter. „Deswegen bin ich hier“, entgegnete mein Vater. „ Ich würde ihn gerne auf eine Geschäftsreise mit nach Mexiko nehmen, die ich in den nächsten Wochen unternehmen werde. Dort kann er sich bei seinem Interesse für alte Kulturen nebenbei noch die Denkmäler der Azteken, Mayas, Tolteken und Olmeken anschauen und zeichnen, fotografieren oder filmen, wenn er will. Er hätte völlige Freiheit sich sein Programm auszuwählen. Allerdings sähe ich es gerne, wenn er bei den drei wichtigsten Geschäftsabschlüssen anwesend wäre, allein um unsere Partner persönlich kennen zu lernen. Ich wollte dich auch für dieses Projekt um deine Unterstützung bitten. Denn ich kann natürlich nicht erwarten, dass Kai darauf positiv reagieren wird, wenn ich ihm bei seiner Rückkehr auf die Schulter schlage und ihn auffordere mit mir nach Mexiko zu reisen.“

„Du wirst ihn erst mal behutsam ins Gespräch ziehen müssen, auch seinen Berichten von seiner Wanderung zuhören müssen und solltest dich auch für seine Bilder, seine Fotos und seine Gedichte interessieren. Wenn er dann merkt, dass Du ihn ernst nimmst und respektierst, kannst Du zunächst seine schulischen Angelegenheiten mit ihm regeln und erst dann könntest Du das Thema auf Reisen und Mexiko bringen und ihn eventuell für eine solche Reise begeistern. An meiner Unterstützung für dieses Vorhaben soll es nicht fehlen, denn ich bin sehr dafür, dass er deine Nachfolge antritt, denn dann verspreche ich auch mir eine größere finanzielle Ausstattung und gesellschaftliche Rolle, als Du sie mir bis heute zugestanden hast. Denn von dir habe ich in deinem Testament wohl nichts zu erwarten! Menschliche Verpflichtungen spielen in deinen Plänen wohl keine Rolle!“ fügte sie noch etwas spitzer hinzu.

Ich sah wieder, wie die scharfen Furchen zwischen Vaters Augenbrauen deutlich bemerkbar wurden, und befürchtete schon eine barsche Antwort, aber die Furchen glätteten sich wieder und Vater gab Mutter sogar sein Bedauern zu verstehen, als er sagte: „Ich habe zu lange auf meine Mutter gehört, die mir jeden Kontakt zu dir untersagt hat. Immer wenn ich deine Apanage erhöhen wollte, hat sie mich an die Million erinnert, mit der Du abgefunden worden seiest und zwar weit über deine Ansprüche. Dass diese Million aufgebraucht sein könnte, war mir nicht bewusst. Ich setzte schließlich deine Apanage durch und übernahm die Kosten für Kais Ausbildung. Damit glaubte ich genug getan zu haben. Aber jetzt, da ich mich von meiner zweiten Frau scheiden lasse, sollst Du für die ausgestandenen Nöte entschädigt werden. Ich werde dich selbstverständlich in meinem Testament bedenken, so dass Du ein sorgenfreies und unabhängiges Leben führen kannst.“ „Wenn Du denn dein Versprechen ausnahmsweise mal wahr machst“, grantelte meine Mutter, „ich erinnere Dich nur an die Villa am Chiemsee, die Yacht im Hamburger Hafen, das Ferienhaus in Marrakesch, die Million auf einem Konto der Deutschen Bank!“ „Die Million hast Du bekommen und das andere hättest Du als meine Frau mit genossen, als ich diese Objekte erworben hatte; aber zu diesem Zeitpunkt warst Du ja nicht mehr meine Frau.“

„Soll das heißen, Du gibst mir eine Mitschuld daran, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Deine Frau war?“ fragte meine Mutter darauf sehr scharf. „Du hättest dich ein wenig mehr an unseren Lebensstil anpassen können. Du hättest dich auch intensiver weiterbilden können. Ich habe dir angeboten, dir ein Betriebswirtschaftsstudium in Köln zu bezahlen. Du hättest deinen Dr. da machen können und in mein Direktorium einsteigen können, und meine Mutter hätte dich mit offenen Armen als Akademikerin und Direktorin unserer Firma in den Kreis unserer Familie aufgenommen,“ erklärte mein Vater, „aber Du wolltest nur Mutter sein und als große Dame auftreten!“

Meine Mutter starrte meinen Vater nach diesen Worten fassungslos an und dann brach es aus ihr heraus: „Deine Mutter hat mich von Anfang an gedemütigt, erniedrigt, schikaniert! Sie hat nicht mit mir gesprochen, sie hat mich nicht zu euren vielen Gesellschaften eingeladen, wir durften nicht in einem Haus mit ihr und deinem Vater wohnen. Ich durfte nicht zwischen 9 und 11 Uhr morgens unser Seitenhaus verlassen, weil deine Mutter in eurem Park spazieren ging und mich nicht sehen wollte! Nie, unter keinen Umständen hätte deine Mutter mich akzeptiert, selbst wenn ich Universitätspräsidentin in Köln geworden wäre oder meinetwegen vom abessinischen Königshaus als Prinzessin adoptiert worden wäre!

Und Du, Du hast dich aus allen Misshelligkeiten zwischen deiner Mutter und mir herausgehalten und deine volle Beanspruchung durch deine Firma als Erklärung für deine Neutralität und Desinformiertheit vorgeschützt und mich diesem Drachen und seinen ätzenden Attacken schutzlos ausgesetzt. Selbst Kai hat sie mir tagsüber weggenommen und irgendwelchen lieblosen Erziehern und Privatlehrern überlassen, die ihn dann so verbiestert und verstört haben, dass ich ein psychologisches Gutachten anfordern musste, um seine seelische Beschädigung nachzuweisen und ihn wieder in meine Obhut zu bekommen. Du warst ein feiges, unterwürfiges, konfliktscheues, willfähriges Muttersöhnchen und hast deine Augen gegenüber den Kämpfen und Schikanen, die ich von Seiten deiner Mutter zu erdulden hatte, verschlossen.

Und Du willst mir vorwerfen, dass ich mich nicht genug angepasst hätte, um die Gnade einer huldvollen Aufnahme in eure Familie zu empfangen! Im Übrigen habe ich mich trotz deines enttäuschenden Versagens als Ehemann - und damit berufenen Beschützers deiner Frau und deiner Kinder - nicht von dir trennen wollen, sondern habe dir die Entscheidung über unsere Ehe überlassen, als mich deine Eltern zur Scheidung drängten und mir als Entschädigung die Million angeboten haben. Ich habe dich angerufen und gefragt, was ich machen solle, und Du hast mir geantwortet, wenn dadurch der Frieden in eurer Familie wieder hergestellt werden könne, so solle ich zustimmen. Die Ehe mit mir könne ja auch ohne Trauschein und Aufenthalt in der Nähe der Eltern weitergeführt werden. Du würdest die Kosten für alles Weitere übernehmen und, sooft du Zeit hättest, bei uns sein. Diese Lösung wäre jedenfalls besser als das irrationale Weibergezänk und die hysterischen Seelenzustände der Beteiligten noch länger zu ertragen.“

Als mein Vater hierauf meine Mutter begütigend in den Arm nehmen wollte, stieß sie ihn heftig zurück und sagte: „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: „Weibergezänk“, „hysterische Seelenzustände“ und das mir, der kerngesunden Krankenschwester, der ehemaligen bairischen Landesmeisterin im Kraulschwimmen!“ Sie fing an haltlos zu weinen und zu schluchzen und wehrte weiterhin alle Annäherungsversuche meines Vaters ab. Das dauerte ungefähr fünf Minuten, während der mein Vater verlegen und hilflos in unserem Wohnzimmer hin und her ging und offensichtlich mit sich rang, ob er bleiben oder gehen sollte.

Trotz ihrer Tränen ließ meine Mutter ihn nicht aus den Augen. Plötzlich gab sie sich einen Ruck, stand aus ihrem Sessel auf, ging auf meinen Vater zu, umarmte ihn sehr zärtlich und sagte: „Entschuldige, aber ich musste das alles mal aussprechen. Du hast mir früher nie zugehört und hast vieles nicht gewusst. Jetzt weißt Du noch immer nicht alles, aber das Wichtigste. Damit kann ich es bewenden lassen. Es ist das Mindeste, womit ich dich belaste“.

Mein Vater akzeptierte überraschend ihren Gefühlsausbruch. Ja, er versuchte ihr sein Verständnis sogar zu beweisen, indem er ihr versicherte: „Du wirfst mir zurecht vor, dass solche Aussprachen in der Zeit unserer Ehe tabu waren. Ich war mit dem Aufbau der Firma aufs äußerste angespannt und mied alle Anflüge von starken Gefühlen, weil ich Angst hatte, dadurch geschwächt zu werden und meinen beruflichen Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. Aber Du hast Recht. Man kann nach einer Liebesheirat keine Vernunftehe führen. Das verfälscht die Beziehung oder sage ich es deutlich, man betrügt den Partner um die Erwartung, mit der er die Ehe eingegangen ist. Ich kann dir heute deine Enttäuschung nachfühlen. Meine Krankheit hat mich zu einem anderen Menschen werden lassen. Die Geschicke der Firma sind mir nicht mehr so wichtig, die Anpassung an meine Gesellschaftskreise ist mir gleichgültig geworden, Geld und politischer Einfluss werden nebensächlich angesichts eines baldigen Endes. Was noch zählt, ist der kleine Kreis von Menschen, die dich mögen und die du magst. Darf ich dich zu diesem kleinen Kreis hinzuzählen?“

Meine Mutter sagte hierauf nichts, aber sie umarmte Vater noch einmal sehr zärtlich, was mehr besagte als das entschiedenste Wort.


Betty und Kai

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