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Reiseerlebnisse in Irland

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Es sind einige Wochen vergangen seit meinem letzten Eintrag! Vater ist die ganze Zeit bei uns geblieben. Er hat ein neues Leben angefangen, sagt er. Er sieht viel besser aus als vorher und seine Krankheit ist vielleicht zum Stillstand gekommen.

Er ist ein Wassersportfan. Deswegen wollte er mit uns in unseren Ferien drei Wochen auf dem Wasser verleben. Eigentlich ist das Segeln seine große Leidenschaft, aber für das Hochseesegeln fühlt er sich nicht mehr fit genug. Außerdem braucht man dafür eine eingespielte Mannschaft. Das könne er aber von uns bis auf Mama, die früher viel mit ihm gesegelt sei, nicht sagen. Daher hat er sich entschlossen, uns zu einer Reise nach Irland einzuladen: acht Tage auf einem Hausboot auf dem Shannon und 14 Tage am Meer.

Ich habe ihn gebeten Klaus Dieter mitnehmen zu dürfen. Denn ihn drei Wochen unbeaufsichtigt in der Nähe dieser wilden Ulla zu lassen, kam mir sehr bedenklich vor. Ich halte es da mehr mit der Erfahrung meines Vaters, der immer wieder sagt: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Ich habe meinen Wunsch gegenüber Papa auch so begründet und er hat mir tatsächlich erlaubt, Klaus Dieter mitzunehmen. Klaus Dieter habe ich natürlich nichts von diesen Gedanken mitgeteilt, sondern ihm in Aussicht gestellt, das Hausboot ab und zu lenken zu dürfen, was ihn so begeistert hat, dass er Feuer und Flamme für diese Reise war. Ich habe dann noch mit seinen Eltern gesprochen, die keine Zeit hatten, mit Klaus Dieter in die Ferien zu fahren, und diese waren sofort damit einverstanden, als sie hörten, dass mein Vater bei der Reise dabei war.

Wir sind mit Papas Auto bis nach Cherbourg in Frankreich gefahren, haben dort die Fähre nach Cork in Irland genommen und haben dann den Weg weiter nach Carrick on Shannon gewählt.

Wir haben uns Zeit gelassen auf diesem Weg und unterwegs mehrere Sehenswürdigkeiten besucht: alte Klosterruinen, Kirchen, Burgen. So haben wir unter anderen die Klosterruinen von Glendalough besucht, von Moyne Abbey und von Duleek Church. Mir ist dabei aufgefallen, dass diese Anlagen nicht die Größe von unseren Kathedralen oder auch von unseren Klosterkirchen haben, sondern eher bescheidene Ausmaße haben. Die meisten alten Gotteshäuser, die wir besucht haben, waren zudem ziemlich zerstört. In viele dieser Ruinen hatten die Iren Grabplatten und Sarkophage gestellt. Ein Zeichen dafür, dass sie nicht mehr an eine Wiederherstellung der Kirchen geglaubt haben. Sie sind ja auch, wie Papa wusste, Jahrhunderte lang von den Engländern beherrscht worden, die ihre Kultur und Religion unterdrückt haben. Papa meinte: „Wenn die Freiheit verloren geht, ist die Lebensfreude weg und auch die Hoffnung auf bessere Zeiten! Das ist ein Zeichen von großer Verzweiflung, wenn die Menschen in den Stätten, die einstmals Zentren des kulturellen und des alltäglichen Lebens waren, nur noch einen Friedhof sehen!“

Besonders Kai haben diese Kirchengrabstätten sehr beeindruckt und er hat Papas Bemerkung noch erweitert, indem er sagte: „Die Gefangenschaft von Menschen oder Völkern durch übermächtige Feinde ist sicher furchtbar, aber jede Einschränkung von Freiheit, selbst wenn du im goldenen Käfig sitzt, ist ein Verlust von Lebensqualität!“ Papa, der diese Bemerkung von Kai hörte, wurde ganz nachdenklich und wusste nicht recht, wie er hierauf reagieren sollte, aber schließlich gab er durch ein Nicken in Kais Richtung zu verstehen, dass dies auch seine Meinung war.

Als wir in Carrick on Shannon angekommen waren, hat Papa ein feudales Hausboot für uns gemietet, in dem jedes von uns Kindern eine eigene Koje hatte. Wir haben dann eine Menge Proviant gekauft, unser Boot damit beladen und sind losgefahren. Papa hat einen Motorbootschein und brauchte daher nicht den kurzzeitigen Unterricht mitzumachen, an dem die Leute ohne Schein teilnehmen mussten.

Papa hatte bei der Anmietung des Bootes seinen Pass und seinen Motorbootschein vorlegen müssen und der Bootsverleiher wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Er zerfloss darauf fast vor Höflichkeit. Papa musste ihn in seiner Begeisterung über den prominenten Kunden bremsen und bat ihn, seinen Aufenthalt und seine Reiseroute geheim zu halten. Natürlich versprach der Verleiher, diese Sache als geheim zu behandeln, aber durch ihn oder einen von den anderen Kunden, die sich mit Papa in dem Büro des Verleihers aufhielten, muss unsere Reise doch der Presse mitgeteilt worden sein. Denn bereits am nächsten Tag stand eine Notiz in der Zeitung, dass der bekannte Industrielle von Stahl mit Familie eine Reise durch Irland unternehme und sich zurzeit mit einem Hausboot auf dem Shannon bewege.

Papa war darüber überhaupt nicht erfreut. Er musste jetzt damit rechnen, in jedem Hafen, den wir anliefen, erkannt und belästigt zu werden, wie er es empfand. Wir Kinder waren eher stolz, mit einem so berühmten Mann unterwegs zu sein. Papa versuchte denn auch den Aufenthalt in den Häfen nach Möglichkeit zu vermeiden, indem wir zum Übernachten irgendwelche Seitenarme des Shannon aufsuchten und dort ankerten.

In einem solchen Seitenarm streifte uns ein anderes Boot, auf dem sich lauter Männer aufhielten, die wohl erfolgreich geangelt hatten. Denn auf dem Achterdeck des Bootes stand ein großer Kasten, in dem es von Fischen nur so wimmelte. Die Männer fragten, ob sie an unserer Steuerbordseite anlegen dürften, um uns einige Fische zu schenken – als Wiedergutmachung dafür, dass sie unser Schiff gestreift hätten, obwohl es nur einige kleine Kratzer abgekriegt hatte. Wir stimmten natürlich sofort zu, weil frischer Fisch eine willkommene Abwechslung in unserer Küche war. Die Männer brachten denn auch einen ganzen Eimer Fische zu uns herüber: Aale, Barsche, Rotfedern. Mama erklärte sich sofort bereit, die Fische zuzubereiten und lud auch die spendablen Männer zum Essen ein.

Diese nahmen das Angebot gerne an und kamen dann alle auf unser Boot. Papa lud sie zum Whiskey und zum Bier ein und wir kramten unsere Englischkenntnisse aus und erzählten von den Sehenswürdigkeiten, die wir bereits besichtigt hatten. Die Männer wurden fast gerührt, als wir unsere Beobachtungen und Gedanken über die Gräber in den Kirchen- und Klosterruinen mitteilten. Als wir sie fragten, ob wir ihr Boot besichtigen könnten, boten sie uns sogar an, uns das Innere ihres Bootes zu zeigen. Aber Papa hatte `was dagegen und sagte, wir sollten nicht so neugierig sein, die Männer hätten wahrscheinlich nicht aufgeräumt und es wäre ihnen peinlich, wenn wir ihre Unordnung bemerken würden.

Die Männer gaben sogar zu, dass sie eine heillose Unordnung an Bord hätten, aber wollten uns das Boot trotzdem zeigen. Da verbot uns Papa streng, auf das andere Boot zu gehen und erklärte das Thema für erledigt. Die Männer, die mittlerweile schon kräftig Bier und Whiskey getrunken hatten, sagten hierauf: „Euer Papa ist vorsichtig. Wir könnten ja von der Irischen Republikanischen Armee, der berüchtigten IRA, sein und Euch entführen wollen, um Geld zu erpressen für den Krieg gegen England! Die IRA braucht nämlich zurzeit Geld und Waffen, um ihren Kampf weiterzuführen. Könnten Sie, als ehemaliger Waffenlieferant für das Deutsche Reich“, wandten sie sich an Papa, „nicht wieder im Geheimen die Waffenproduktion aufnehmen und die IRA beliefern? Die IRA würde sicher Mittel und Wege finden, um Sie unauffällig zu bezahlen und die Waffen ebenso unauffällig ins Land zu schaffen!“

Vater war bei diesem Thema sehr ernst geworden. „Sie wissen, wer ich bin!“ sagte er. „Demnach scheint unser Zusammentreffen nicht rein zufällig zu sein! Aber Sie wissen auch, dass mir zur Auflage gemacht worden ist, als ich einen Teil unserer beschlagnahmten Werke zurückerhielt, keine Waffen mehr zu produzieren, und an diese Auflage muss und will ich mich halten!“ Die Männer steckten die Köpfe zusammen und schienen sich auf eine für uns unverständliche Weise zu beraten. Uns wurde es mittlerweile ziemlich mulmig, denn wir hatten bemerkt, dass die Männer bewaffnet waren. Die Konturen ihrer Revolver, die sie in den Hosentaschen hatten, zeichneten sich bei ihren heftigen Bewegungen deutlich ab.

Endlich ergriff einer von den Männern, der einzige, der übrigens deutsch sprach, das Wort und sagte zu Papa: „Sie nehmen also an, dass wir IRA Leute sind?“ „Nach Ihrem Verhalten zu urteilen kann ich das nicht ausschließen!“ antwortete Papa. „Wir denken, dass eine solche Annahme für Sie und ihre Familie sehr gefährlich sein kann. Vor allem, wenn sie in die Öffentlichkeit dringen sollte! Akzeptieren Sie also bitte die Aussage, dass wir keine IRA Leute sind und auch sonst keine Kriminellen, die man anzeigen müsste. Solche Vertreter hätten kein langes Federlesen gemacht, sondern Sie und ihre Familie entführt oder sie ausgeraubt und wären längst über alle Berge! Ich bitte Sie daher noch einmal, uns als die normalen Zivilisten zu betrachten, die wir sind. Ansonsten müssten wir sofort ihr Boot verlassen, nicht ohne eine enttäuschende Erfahrung reicher zu sein!“

Vater benutzte die goldene Brücke, die ihm hier gebaut worden war, und gab die gewünschte Erklärung, indem er sagte: „Meine Stellung nötigt zu einem übertriebenen Misstrauen gegenüber allen neuen Bekannten. Entschuldigen Sie, wenn ich offensichtlich normale Bürger und patriotische Privatpersonen einen Augenblick für Mitglieder der IRA gehalten habe! Sie sind mir persönlich sympathisch und ich hätte selbst bei Weiterbestehen meines Verdachtes keine Schritte unternommen, um diese Begegnung öffentlich zu machen. Seien Sie also weiter meine privaten Gäste!“ Der Sprecher unserer irischen Gäste wandte sich darauf an seine Kameraden und verklickerte ihnen in einem für uns wieder unverständlichem Dialekt, was Papa gesagt hatte, worauf die Mienen der Männer sich entspannten und sie Papa freundschaftlich die Hand gaben, um sich wieder zu setzen und den duftenden Fischen zuzusprechen, die Mama gebraten hatte.

Ein Schatten hatte sich aber über unsere Gesellschaft gelegt und die Unterhaltung wollte nicht mehr so unbefangen und fröhlich dahinplätschern, wie es vorher der Fall gewesen war. Die Männer hielten sich auch mit dem Alkohol sichtlich zurück und baten Mama stattdessen, nachdem sie gesättigt waren, um eine Tasse Kaffee. Danach hatten sie es plötzlich sehr eilig sich zu verabschieden und mit ihrem Boot in dem Seitenarm zu verschwinden.

Als die Männer weg waren, fragte Klaus Dieter Papa, ob die Männer tatsächlich IRA Leute gewesen seien. Papa meinte: „Mit großer Wahrscheinlichkeit! Sie hätten mich sonst nicht nach Waffen gefragt!“ Darauf fragte Kai, warum er dann so getan habe, als ob sie Privatpersonen gewesen seien, worauf Papa antwortete: „Das hätte sonst für uns alle sehr gefährlich werden können. Die Männer waren bewaffnet. Sie hätten durchdrehen können und uns alle umlegen können, um zu verhindern, dass wir sie verraten könnten. Sie hätten uns aber auch entführen und Lösegeld erpressen können. Die IRA ist zurzeit in großen Schwierigkeiten und braucht Geld und Waffen für ihren Kampf!“

Mama und Klaus Dieter lobten Papa hierauf, dass er so klug gehandelt habe. Aber Kai meinte, es sei unmoralisch und feige, nicht seine wahre Meinung zu äußern, sondern den Leuten was in die Hucke zu lügen nur um seine Haut zu retten. Mama verteidigte Papa und sagte: „Moralisch ist es, das Leben zu schützen. Das hat Papa getan.“ Darauf erwiderte Kai! „Die Männer haben doch gemerkt, dass Papa gelogen hat. Die waren nach seinen Worten ganz anders und hatten kein Vertrauen mehr zu uns. Vielleicht denken sie auch jetzt, auf diesen Lügner können wir uns nicht verlassen. Vielleicht fährt er in den nächsten Hafen und zeigt uns dort bei der Hafenpolizei an und gibt der noch eine genaue Beschreibung von uns und verrät das Kennzeichen von unserem Boot. Dann sind wir doch erledigt. Fahren wir lieber wieder zurück und nehmen die ganze Bande als Geiseln. Dann können sie uns nicht gefährlich werden und wir können noch Geld und die Freilassung von Gefangenen mit ihrer Freigabe erpressen.“

„Das werden sie nicht tun“, sagte Papa, „weil sie wissen, dass ich sie nicht anzeigen werde. Die haben gemerkt, dass ich hier sozusagen unerkannt bleiben möchte, abschalten und Ferien machen möchte und mich nicht noch mit irgendwelchen Affären belasten will, deren Ausmaß unabsehbar sein könnte. Außerdem haben sie sich nicht zu erkennen gegeben und so kann ich nicht sicher sein, dass sie überhaupt zur IRA gehören. Überdies wissen sie, dass sie mir rein persönlich sympathisch waren.“

Darauf sagte Kai: „Es gibt also eine doppelte Verständigung. Mit Worten habt Ihr euch wahrscheinlich beide angelogen, um das Gesicht zu wahren und einen Konflikt zu vermeiden und mit irgendwelchen Laserstrahlen habt ihr euch signalisiert, wer ihr seid und wie ihr euch in Wahrheit zueinander verhalten werdet.“ „Genauso ist es!“ sagte Papa. „Ist das denn eine Art von Verständigung, die alle Menschen beherrschen?“ fragte Kai weiter. „Ich glaube nicht“, antwortete Papa. „Vielleicht in lebensbedrohlichen Situationen, und dies war eine lebensbedrohliche Situation. Das hat dann bei beiden Seiten zu der, wie Du sagst, Laserverständigung geführt. In normalen Situationen sind die meisten Menschen aber zu einer solchen Verständigung nicht fähig und transportieren ihre Botschaften über die Sprache, Bilder oder Musik! Um die Lasersignale zu verstehen, musst du viel Erfahrung im Umgang mit Menschen haben und überhaupt viel über das Leben wissen!“

Kai war aber auch mit dieser Antwort immer noch nicht ganz mit Papa im Reinen und fragte: „Warum waren dir diese Männer sympathisch?“ Auch auf diese Frage antwortete Papa mit einer Engelsgeduld. „Wir haben die Gräber in den alten Kirchen gesehen. Wir haben erkannt, dass die Iren uns sagen wollen: unsere Gefangenschaft, unsere Unterwerfung durch ein anderes Volk empfinden wir wie das Ende unseres Lebens, wie einen vorzeitigen Tod. In der Natur gibt es ja ähnliche Reaktionen, wenn Wildtiere gefangen werden und zunächst das Fressen verweigern oder sogar das, was sie im Magen haben, wie bei gefangenen Schlangen, wieder von sich geben. Höher entwickelte Säugetiere haben lange Jahre in den Zoos auch keine Nachkommen gehabt. Die Zoobesitzer mussten ihre Gehege erst so gestalten, dass sie bei den Tieren den Anschein erweckten, frei zu sein und in der Wildnis zu leben, bis die Tiere sich wieder fortpflanzten.

Das gleiche kann man in der neueren Geschichte der Iren beobachten. Es gibt mehrere Iren, die in den Hungerstreik getreten sind, um ihre Menschenwürde zu verteidigen und die diesen Streik bis in den Tod durchgehalten haben. Die Bevölkerung ist, auch durch Hungerkatastrophen und Auswanderung bedingt, unter der englischen Herrschaft von über 6 Millionen Einwohnern auf unter 4 Millionen Einwohner zurückgegangen. Das sind die Begleiterscheinungen der Unfreiheit, die ich nicht gut finde, und weil die IRA gegen diese Unfreiheit kämpft, deswegen sind mir ihre Mitglieder sympathisch. Ich habe nicht vergessen, dass auch unser Volk unter der Nazidiktatur unfrei war! Und ich habe auch die Zeit, als ich stellvertretend für meinen Vater, der als Kriegsverbrecher eingestuft worden war, Jahre lang im Gefängnis gesessen habe, nicht vergessen! In gewisser Weise ist der Rest von mir, der noch lebendig war, damals gestorben.“

Kai war anscheinend unersättlich, mit dem Vater, dessen Ansprache er so lange entbehrt hatte, im Gespräch zu bleiben. Er sagte: „Vielleicht hast Du Verständnis, Vater, wenn ich noch weiter mit dir reden möchte. Es ist das erste Mal, dass ich dir meine Fragen stellen kann und dass ich dadurch lerne, dich und das Leben besser zu verstehen. Ich kann jetzt verstehen, warum Du mich nicht in die Arme genommen hast, wenn Mama und ich dich besucht haben. Tote haben keine Gefühle mehr. Ich kann auch verstehen, wenn Du sagst, dass dir in der Gefangenschaft der Rest deiner Lebendigkeit vergangen sei. Davor war dir die andere Lebendigkeit schon durch deine Eltern und die Diktatur genommen worden, aber warum hast Du nicht Widerstand geleistet – gegenüber den Eltern und gegenüber Hitler?“

„Das habe ich mich auch gefragt“, sagte Papa. „Ich habe es wohl nicht gelernt! Man muss wohl schon als Kleinkind „nein“ sagen dürfen und „nein“ sagen sollen. Ich musste immer zu allem Ja und Amen sagen, was meine Eltern über mich beschlossen. Ich musste immer im Sinne der Firma handeln und leben. Ich durfte nicht nach der Schule mit meinen Klassenkameraden nach Hause gehen und die Nachmittage mit ihnen auf dem Bolzplatz oder im Schwimmbad verbringen. Ich durfte keine Freundschaft zu Mädchen haben und nicht mit ihnen abends ins Kino oder zum Tanzen gehen. Ich musste in allem immer der Beste sein und mit Privatlehrern darauf hin arbeiten. Selbst beim Sport wurde ich für die Teilnahme an den Olympischen Spielen getrimmt. An denen ich im Segeln auch teilgenommen und, wie Du weißt, eine Medaille gewonnen habe.

Dass ich den Mumm hatte, Mama zu lieben und gegen den Willen der Familie zu heiraten, war ein kleines Wunder, das aber durch den Dienst für die Firma wieder verschwand. Ich habe mich tausendmal gefragt, warum ich Mama nicht gegen Oma verteidigt und felsenfest an ihrer Seite gestanden habe. Ich war auf Funktionieren und ein sogenanntes skandalfreies Verhalten programmiert. Meine kleinen Ausbruchsversuche aus diesem Raster wurden durch die Rücksicht auf die Firma und ihre vielen Arbeiter und Angestellten immer sofort im Ansatz geblockt.“

„Und gegenüber Hitler?“, fragte Kai unerbittlich weiter. „Ich war ihm gegenüber kritisch eingestellt“, antwortete Vater. „Zumindest ab 1943. Da waren Onkel Waldemar und Tante Elisabeth, weil sie in einer Gesellschaft Zweifel am Endsieg geäußert hatten, ins Gefängnis gekommen. Und meine Brüder, die an der Ostfront standen, haben mir bei einem Besuch in der Heimat die Verbrechen der SS und der Wehrmacht mitgeteilt und mich zum Widerstand gedrängt. Aber was hätte ich machen sollen, wenn ich nicht Harakiri machen wollte!“ „Das weiß ich auch nicht“, sagte Kai, „aber es ehrt dich, dass Du dem Regime kritisch gegenübergestanden hast!“ „ Danke“, sagte Papa und ich hatte den Eindruck, dass er es ernst meinte.

Kai sagte auch „Danke“, aber er bedankte sich für das Gespräch und fügte hinzu: „Ich würde mich freuen, wenn wir noch mehrere Gespräche dieser Art miteinander führen könnten. Jetzt merke ich, was ich in den vergangenen Jahren vermisst habe. Du hast doch während deiner Gefangenschaft einige philosophische Gedanken zu Papier gebracht. Ich würde mich freuen, sie kennen zu lernen. Und ich würde gerne mit dir darüber sprechen.“

Papa sagte Kai zu, ihm die Notizen zu geben und auch Termine mit ihm auszumachen, um mit ihm darüber zu reden. Dann holte er tatsächlich eine abgegriffene Kladde aus seiner Koje und gab sie Kai. „Ich habe diese Aufzeichnungen immer dabei“, sagte Papa, „sie waren das einzige „Geschäft“, das im Gefängnis zu machen war! Geh behutsam damit um und kopiere dir, was dich interessiert. Danach möchte ich die Kladde zurück haben! Sie enthält übrigens auch meine Gedanken zum Leben in der Natur oder der Zivilisation!“

Bei dem Wort „Geschäft“ war Klaus Dieter hellhörig geworden. „Kann man Philosophie als Geschäft betreiben?“ fragte er. „Im alten Griechenland hat ein ganzer Berufsstand davon gelebt!“ erklärte Vater, „und auch heute gibt es viele Menschen, die ihre Lebensweisheiten sehr gut verkaufen. Sie müssen nur etwas schmackhaft und verdaulich zubereitet sein!“ „O, dann kann ich auch mit Philosophie Geschäfte machen!“ sagte Klaus Dieter. „Bis jetzt habe ich mich nicht dafür interessiert, weil es für meine Begriffe nicht einträglich ist, aber das wird sich ändern!“ „Viel Glück dabei“, ermunterte ihn Vater. „Wenn Du meine Gedanken drucken und verkaufen willst, so kannst Du die Rechte daran haben! Aber zunächst musst Du mir beweisen, dass Du meine Ideen verstanden hast. Du kannst die Texte ja gemeinsam mit Kai studieren!“

Klaus Dieter versprach, sich in Papas Gedanken zu vertiefen und zu diesem Zweck alle Texte, die in der Kladde standen, abzuschreiben, falls Kai ihm die Kladde einige Tage überlasse; was Kai ihm anstandslos zugestand. Ich fühlte mich irgendwie unbehaglich, dass Klaus Dieter mit Papas Texten Geschäfte machen wollte, und hätte an Papas Stelle dieses Recht auch eher Kai eingeräumt. Aber Kai hatte ja kein Interesse an Geschäften. So sagte ich mir, dass wir unser Unterhaltungsangebot mit Gedichten jetzt noch mit philosophischen Weisheiten erweitern könnten.

Ganz wollte ich den Profit, den wir damit machen könnten, aber nicht Klaus Dieter allein gönnen. Und so meldete ich meine Ansprüche als Tochter des Autors auf die Hälfte der Gewinne bei Papa an. Der war denn auch so lieb, mir meinen Wunsch zu erfüllen und versprach mir, mit Klaus Dieter einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. Klaus Dieter schaute mich darauf auf eine Weise an, die ich keineswegs als freundlich bezeichnen kann. Ich habe ihm da zugeflüstert, dass er wohl keinen Zweifel daran haben kann, dass ich auch alle Rechte an Papas Kladde kriegen könnte, wenn ich das wollte, und dass es ziemlich großzügig von mir sei, die Rechte mit ihm zu teilen! Darauf sah Klaus Dieter wieder etwas freundlicher aus der Wäsche! Papa sagte dann noch, als ob er meine Gedanken erraten hätte: „Ich habe nicht gedacht, dass dich meine Kladde interessieren würde, sonst hätte ich natürlich dir zuerst die Rechte daran angeboten! Aber vielleicht könnt ihr zu zweit mehr aus den Rechten machen als einer allein.“ Das war das Ende unseres Gespräches mit Papa an diesem Tag.


Betty und Kai

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