Читать книгу Betty und Kai - Jan Pelzer - Страница 5

Das Ende der Aktiengesellschaft und Kai’s große Show

Оглавление

Ich habe mich gewundert, dass ich das Gespräch zwischen meinen Eltern fast wörtlich behalten habe. Aber es gibt Situationen im Leben, da bist du hellwach, da ist dir jede Sekunde wichtig und du erinnerst dich an jedes Bild, an jedes Wort, was mit diesen Situationen verbunden ist.

Ich habe mich Klaus Dieter anvertraut. Ich musste mit jemandem mein Glück teilen, dass ich jetzt einen Vater habe. Klaus Dieter war nicht gerade begeistert, als ich ihm gesagt habe, dass mein Vater mich auch in seinem Testament bedenken will. Er sagte: „Dann muss ich ja nicht mehr Millionär werden, um dich als meine Frau verwöhnen zu können. Dann hast Du ja mehr Geld als ich und nimmst dir bestimmt einen anderen.“ Ich sagte ihm, dass mir solche Gedanken noch nie gekommen seien. Er aber wollte von seiner Meinung nicht abgehen und sagte: „Ich kenne die Frauen. Sie verbinden sich immer mit den Stärksten! Und das sind diejenigen, die am meisten Geld oder Macht haben! Das sagt auch mein Vater! Wenn Du eine Million hast, dann wirst Du einen Milliardär heiraten, schon weil Du allen anderen Männern misstrauen musst, dass sie dich nur deines Geldes wegen heiraten wollen. Bei einem Milliardär brauchst Du diese Sorge nicht zu haben, denn er hat ja genug Geld. Aber zu einem Milliardär kann ich es nicht bringen. Es wäre für mich schon riesig schwer, eine Million zu verdienen; aber mehr kann ich nicht bringen.“

Ich versicherte ihm noch einmal, dass ich ihn auch ohne eine Million heiraten würde, aber er wollte darauf nicht eingehen. „Dann kann ich nicht auf Augenhöhe mit dir umgehen“, sagte er „und für die Rolle eines Prinzgemahls bin ich mir zu schade!“ „Dann verschenke ich eben mein Geld!“ habe ich darauf erwidert „ dann sind wir arm, aber werden glücklich!“ Das wäre eine Lösung, die er akzeptieren könne, meinte Klaus Dieter hierzu. Nur hätte er gerne etwas mehr Geld als ich. Denn ich wäre ihm in allen Belangen überlegen und das könne er nur damit ausgleichen, dass er mehr Geld habe.

Da habe ich ihn zurechtgestaut und ihm gesagt, dass er mir mit Geld überhaupt nicht imponieren könne, sondern mit Bildung. Einen Arzt oder Pastor, einen Richter oder Steuerberater, unter Umständen sogar einen Lehrer oder Professor, den könnte ich bewundern und anhimmeln, aber doch nicht eine gefüllte Brieftasche oder ein vergoldetes Portemonnaie. Das konnte Klaus Dieter sogar einsehen und er meinte, dass er ein Medizinstudium oder auch Theologiestudium durchaus bewältigen könne, um meine Anerkennung zu gewinnen. Hach, da war ich doch sehr erleichtert, dass er endlich Vernunft angenommen hatte, und habe ihm zur Belohnung einen Knutschfleck am Hals gemacht, denn darauf sind die Jungens in unserer Klasse ganz besonders scharf.

Er hat dann sogar eine Woche lang ein T-Shirt ohne Kragen angezogen, damit alle seinen Knutschfleck sehen konnten, und war dann gar nicht mehr so traurig darüber, dass unsere Aktiengesellschaft ein plötzliches Ende fand. Denn sowohl die hohen Preise für die Aktien und ihr Wertverlust, wie die nach Meinung einiger Eltern ungesunden Waren, wie Cola und Bonbons, hatten zu Beschwerden bei der Schulleitung geführt. Diese hatte bis dahin von unserem Treiben noch gar nichts mitgekriegt, weil unser Handel unter höchster Geheimhaltung gelaufen war. Wir transportierten die Waren nur in unseren verschlossenen Aktentaschen und achteten darauf, dass auch unsere Kunden sie sofort in ihren Aktentaschen verschwinden ließen. Die Geheimhaltung hatte deswegen so gut geklappt, weil beide Parteien, die Verkäufer und die Kunden, das gleiche Interesse daran hatten, dass die Geschäfte weiterliefen. Wir empfanden die Aktion auch als eine Verschwörung gegen die Erwachsenen, die uns die ungeliebte Schulmilch aufdrängten, die auch nicht billiger war als unsere Cola.

Die Schulleitung hat dann auch schnell und diktatorisch gehandelt und die Aktiengesellschaft und ihre Geschäfte von heute auf morgen verboten. Wir fanden das ziemlich unfair, weil die Aktien sich gerade wieder etwas erholten und den Ausgabewert der ersten Aktien wieder erreicht hatten. Trotzdem wurden alle Aktionäre, die danach Aktien gekauft hatten, um die Chance gebracht ihre Verluste zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Außerdem hatten wir erwartet, dass die Schulleitung zumindest mit uns gesprochen hätte, bevor sie ihre Entscheidung traf. Aber Gewalt geht wie so oft vor Recht und wir mussten uns den Stärkeren beugen. Ich habe Klaus Dieter die Schulden erlassen, weil ich gemerkt habe, dass er mich echt gern hat. Er hatte sich auch nach Kräften bemüht, gute Geschäfte zu machen. Die Schließung unserer Aktiengesellschaft war ein Akt „höherer Gewalt“. Dafür konnte Klaus Dieter nichts. Wir haben aber sofort neue Projekte beschlossen. Wir werden demnächst in unserer großen Aula an den Wochenenden eine Schülerdisco veranstalten und dazu laden wir auch die Jugendlichen von anderen Schulen ein! Wetten, dass wir damit noch größere Geschäfte machen als mit der Aktiengesellschaft!

Wir haben auch überlegt, ob wir eine Band gründen sollen oder eine Theatertruppe. Mit Musik und Theater kann man auch ganz schön Geld verdienen. Ohne viel Aufwand könnte man auch auswendig gelernte Gedichte vortragen. Dann zahlte sich das Lernen wenigstens einmal aus. Jeder von uns könnte drei bis vier Gedichte lernen, am besten Balladen, die würden am besten laufen, schreibt sein Angebot dann auf eine kleine Tafel, die er sich um den Hals hängt, so dass die Kunden sehen können, was er zu bieten hat, und notiert auch je nach Länge der Gedichte gestaffelt die Preise daneben. Am Samstag auf dem Markt und am Sonntag vor oder nach dem Gottesdienst bilden wir dann einen Chor und singen dann das eine oder andere Gedicht, das Schubert oder Schumann vertont haben, gratis, um Werbung für unsere Gedichtvorträge zu machen – und wenn dann die Kunden in Massen auf uns zuströmen, dann bieten wir unsere Gedichtvorträge an. Das müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn die meisten Leute nicht wenigstens ein Gedicht von jedem von uns hören wollten.

Ich habe diese Geschäftsideen mit Papa besprochen und er war ziemlich begeistert von unseren Aktivitäten. Er meinte, dass wir Lied- und Gedichtvorträge mit Gitarrenbegleitung auch passend für Kindstaufen, Hochzeiten, Beerdigungen und Geburtstage zusammenstellen und über selbstgemalte Plakate anbieten könnten. Es gäbe sicherlich eine große Nachfrage für solche Programme für viele kultivierte Menschen, die ihre Familienfeiern nicht nur mit Festessen und alkoholischen Getränken veranstalten wollten. Vielen seien professionelle Bands und Sänger zu teuer. Wir könnten mit akzeptablen Preisen da in eine echte Marktlücke stoßen. Wenn wir wieder eine Aktiengesellschaft hierfür gründen würden, so wolle er sich sogar als Hauptaktionär bei uns beteiligen und seine Gewinne weiter in uns investieren. Ich bin vor Glück fast umgefallen, als er das sagte, denn Mama wäre nie auf solche Gedanken gekommen, und habe ihm versprochen, kräftig bei meinen Klassenkameraden für diese Idee zu werben.

Es haben sich auch sonst viele Berührungspunkte zwischen Papa und mir auf geschäftlicher und sportlicher Ebene ergeben. Es zeigte sich, dass er was von Pferden versteht, weil er in seiner Jugend sehr viel geritten ist und sogar ein eigenes Pferd hatte. Ich habe ihm von unserem Reitverein erzählt und ihn auch zum Vereinsturnier mitgenommen. Ich bin bei der Dressur Dritte geworden, beim Springen aber leider vom Pferd gefallen, weil das Pferd den Sprung über den Oxer verweigert und aus vollem Galopp gebremst hat und zum Stand gekommen ist. Da hat sich mein Vater große Sorgen um mich gemacht und wollte in die Reitbahn laufen, um mich aufzuheben, aber ich bin von alleine wieder hochgekommen und habe ihm zugerufen, dass ich unverletzt sei.

Als ich mit ihm nach Hause fuhr, fragte er mich, ob es am Pferd gelegen habe, dass ich gestürzt sei, oder ob ich einen Fehler gemacht hätte. Ich habe meinen Fehler zugegeben. Denn ich hatte den richtigen Abstand für den Absprung verpasst und dann konnte das Pferd natürlich nur noch bremsen. Ich versicherte ihm auch, dass mein Pferd eines der besten Springpferde sei, das der Verein besitze, und dass wir beide, das Pferd und ich uns gut verständen. Er meinte nämlich schon, dass er mir ein gutes Pferd kaufen müsse, wenn mein Vereinspferd nichts tauge und es mich gefährde; aber ich konnte ihm solche Flausen ausreden und habe ihn aufgefordert, zuerst einmal an seine eigene Gesundheit zu denken und sein Geld dafür auszugeben.Mutter war zu Hause geblieben, um da zu sein, wenn Kai zurückkäme. Und so war es auch. Immer wenn er keine sauberen Klamotten zum Anziehen mehr hatte, kam er nach Hause. Das war meistens nach einer Woche der Fall. So auch heute. Er saß bereits in der Badewanne, als wir ankamen, und schmetterte seine Folksongs. Sein Rucksack stand wie üblich unausgepackt in der Diele und wartete darauf, dass Mutter oder ich sich seiner erbarmten. Mutter hatte Kai noch nicht gesagt, dass Vater zu Besuch war. Erst, als er Vaters Stimme hörte, ging ihm ein Licht auf. Er hörte sofort auf zu singen und fragte, ob es einen besonderen Grund für Vaters Besuch gebe.

Mutter sagte: „Du kannst dir schon denken, warum Vater gekommen ist!“ Darauf sagte Kai: „Na klar! Schulversagen! Das ist doch das einzige Mittel, um Vater herzuzaubern!“ „Na, na“, sagte Vater „ich habe dich auch schon zu Rock Konzerten abgeholt!“ „Zugegeben“, tönte Kai aus dem Badezimmer, „aber das war nur zwei Mal! Jetzt habe ich aber die Masche gefunden, um dich öfter hierher zu locken! Schulversagen kann ich unendlich wiederholen. Das macht mir überhaupt keine Schwierigkeiten!“ „Nun werde mal nicht übermütig“, warf meine Mutter ein. „Schulversagen ist keine Heldentat, mit der man sich noch brüsten muss. Im Übrigen hast Du mir bis heute noch kein Wort davon gesagt!“ „Na ja, ich wollte dich schonen, Rücksicht auf deine angegriffenen Nerven. Du wärest doch gleich wieder ausgerastet, wenn ich dir die Schose mitgeteilt hätte!“ antwortete Kai. „Ich kann auch gleich noch ausrasten und dir die Meinung geigen, wenn Du aus deinem Bunker herausgekommen bist“, antwortete Mutter. „Fühl dich mal nicht zu sicher!“

„Gott sei Dank ist Vater da“, erwiderte Kai. „Der wird dich schon daran hindern auszurasten!“ „Aber ich lasse mich nur beruhigen, wenn man vernünftig mit dir über deine Zukunft reden kann!“ „Abgemacht, Mutter, ich ziehe mich an meinen Ohren aus der Wanne. Die sind dann groß genug, um auf euch zu hören. Mir ist es auch lieber, wenn ich noch eine Chance auf eine bürgerliche Zukunft habe!“ Nach diesen Worten kam Kai aus dem Badezimmer und umarmte erst einmal Vater, dann Mutter, dann mich, dann unseren Hund und war so charmant und gut gelaunt, dass überhaupt keine schlechte Stimmung aufkommen konnte. Darauf griff er sich seinen Rucksack, der noch immer in der Diele lag, und verschwand in seinem Zimmer.

Einige Augenblicke später hörte man Schellenklänge, eine Gitarre wurde gestimmt und Kai erschien in einem grünen Schellenkostüm mit einer Narrenkappe, an deren langgezogenem Zipfel ebenfalls eine Schelle hing, wieder auf der Bildfläche. Er hatte eine Gitarre in der Hand, postierte sich vor uns und begann mit Gitarrenbegleitung ein Gedicht vorzutragen. Es hatte den Titel „Dichtkunst“ und bestand aus folgendem Text:

Dichtung, Gewalt, Überschwang

Brich aus cumäischem Schoß;

Wie lydischer Wildbach goss,

Heiß, Korybanten Gesang.


Sprenge, Muskel, den Zwang!

Panthersprung, Blizzard, Geschoss,

Schallenergiefluss entspross

Neue Gestalt und erklang.


Rhythmischer Sprachhorizont

Reißt die Mänade entzwei.

Rausch des Dionysosmond


Rast der ekstatische Schrei,

der keinen Körper verschont

Geist in dem Gotte wohnt: frei.


Kai trug das Gedicht wie ein Rocksänger vor und mit einer solchen Wucht, dass wir alle perplex waren. Kai bemerkte unser Erstaunen und unser Unverständnis und wiederholte seinen Vortrag noch einmal sehr langsam. Wir konnten trotzdem mit seinem seltsamen Auftritt nichts anfangen und Mutter konnte es nicht unterlassen Kai tadelnd zu fragen, was diese Narrenposse solle!

Sie erreichte mit diesen Worten genau das, was sie beabsichtigt hatte, Kai war tödlich beleidigt. „Es ist traurig, dass ihr die gleichen Banausen seid wie die meisten meiner Zuhörer!“ sagte er nach einer quälenden Pause. „Bei euch hatte ich auf Verständnis gehofft für meine hohe Kunst, weil ihr euch zu den Gebildeten zählt, aber anscheinend reichen weder eure Kenntnisse der antiken griechischen Mythologie noch eure literarische Bildung, um die Produktionen eines kompromisslosen jungen Sängers zu verstehen. Von Wertschätzung des Geistes und der Freiheitsliebe, die sich in diesem Sonett manifestieren, ganz zu schweigen.“

Zu meiner Überraschung ergriff jetzt Vater zugunsten von Kai in den Streit ein. Er sagte: „Du willst uns offensichtlich mit diesem Auftritt etwas sagen. Und, wie Du selber schon angedeutet hast, soll dieser Auftritt eine künstlerische Darbietung sein, die man interpretieren muss, wie alle echten künstlerischen Äußerungen. Wenn ich dich recht verstehe, willst Du uns erstens klar machen, dass Du dich als Künstler verstehst und dass Du dich dem kulturschöpferischen Geist der Menschheit verpflichtet fühlst, und als zweites willst Du uns mit deinem Narrenkostüm das Ansehen, das fehlende Ansehen veranschaulichen, unter dem ein innovativer Künstler beim Publikum zu leiden hat. Und zumindest solange zu leiden hat, bis mit seinen Werken Geld zu machen ist. Habe ich dich richtig verstanden?“

„Heureka, Du hast es geschnallt, Vater!“ freute sich Kai! „Dann wirst Du auch sicher verstehen, dass ich ohne Rücksicht auf Anstaltsordnungen und Karrierelaufbahnen meinen eigenen Weg gehen muss und den Eingebungen meines Genius bedingungslos folgen muss! Das heißt, wenn ich die „Stimme der Natur“ höre, muss ich ihr folgen und mich in die Wälder oder Berge aufmachen, und wenn „der große Geist der Kunst“ mich anruft, so muss ich ihm antworten, sofort, bedingungslos und ausführlich!“ „Mit anderen Worten: Du willst in einer anderen Welt leben, einer Welt der totalen Freiheit und der totalen Ichbezogenheit!“ stellte mein Vater fest. „Oder“, so fuhr er fort, „um es negativ zu sagen: Du willst dich über alle Sicherheiten und Errungenschaften unserer Zivilisation und Kultur hinwegsetzen und wie der erste Mensch leben“ „Ich kann es nicht besser ausdrücken!“ bestätigte Kai unseren Vater.

„Dann musst Du dir aber klar sein, dass Du einen sehr einsamen und gefährlichen Weg gehen wirst! Denn wer soll dir helfen, wenn Du dir im Gebirge ein Bein brichst oder Du dir im Urwald eine Lungenentzündung holst? Womit willst Du dich ernähren, wenn dir Geld und Vorräte ausgehen? Womit willst Du dich kleiden, wenn Du dir bei einem Sturz im Gebirge Hose und Hemd zerrissen hast? Und wo willst Du wohnen, wenn dich in deinen Bergeshöhen Schnee und Regen erkältet und durchnässt haben? Ich kann dir zwar eine jährliche Rente vermachen, die dich finanziell sichern würde, aber so, wie Du keine Kompromisse machen willst, um wie der erste Mensch zu leben, so wirst Du eine solche Lösung ablehnen müssen.“

„Ich würde mich ja wieder vom Geld und von anderen Menschen abhängig machen, wenn ich auf ein solches Angebot einginge“, erklärte Kai. „Ich müsste Banken kontaktieren, Steuern zahlen, dieses ganze korrupte Spiel von dem Genuss finanzieller Erträge ohne Arbeit mitspielen! Und bald wäre dies mein Hauptlebensinhalt und nicht mehr das spontane, unprogrammierte Erproben meiner eigenen Kräfte in der Begegnung mit der unbekannten Natur, mit unbekannten Menschen. Diese immer neue Bewährung angesichts des Unbekannten macht ein Leben erst frisch und immer neu, reicher an Selbsterkenntnis und Welterfahrung! Dagegen beschert dir dieses Zivilisationsvegetieren ein Dutzendleben ohne Überraschungen! Es besteht aus der endlosen Wiederholung der immer gleichen Vorgänge. Mag sein, dass in Spitzenpositionen der eine oder andere Verantwortliche auch neue Lösungen und neue Lebensformen erfährt, aber das sind doch ganz wenige Ausnahmen. Alle anderen sind Mitläufer, Stimmvieh, Komplizen!“

„Das sind bemerkenswerte Einsichten – auch wenn sie nur halb wahr sind – und im Narrengewand vorgetragen werden. Aber die Narren haben ja zu vielen Zeiten das Privileg gehabt, die Wahrheit sagen zu dürfen“, entgegnete mein Vater und er fuhr fort: „Aber dein solipsistisches Paradies hat natürlich einige Macken! Denn das soziale Leben, das Du ausklammerst, kann auch voller Überraschungen und Innovationen sein. Und es kann viel beglückender sein als dein Traumbild des einsamen ersten Menschen! Ich habe zwar nur Zipfel von einem beglückenden sozialen Leben erfahren, aber ich möchte sie nicht missen: die Umarmung einer liebenden Frau, die Zutraulichkeit eines Kleinkindes, das nach deiner Hand greift, das gemeinsame Lachen mit Mitarbeitern nach einem gelungenen Geschäftsabschluss. Ich könnte diese Reihe bis ins Unendliche fortsetzen, obwohl ich ein Stiefkind des sozialen Glückes bin. Und wenn Du ehrlich dir selbst gegenüber bist, so wirst auch Du dir eine ganze Menge Glücksmomente des sozialen Lebens in dein Bewusstsein rufen können, die von keinem anderen Glücksmoment übertroffen werden können!“

Mein Bruder war von dieser Argumentation beeindruckt. Er drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer und kam nach einigen Minuten tatsächlich ohne Narrengewand, sondern in ganz normalem Outfit zurück. Er ergriff die Hand von unserem Vater und bekannte ganz ehrlich: „Du hast recht! Es gibt tatsächlich mehr Chancen für Glück im sozialen Leben als im individualistischen Fürsichsein! Dieses Gespräch mit dir hat mir solch einen Schimmer von Glück vermittelt. Ich werde es ganz bestimmt nie vergessen. Aber wenn Du von frühester Kindheit an von deinen natürlichen Sozialpartnern nur enttäuscht und im Stich gelassen worden bist, so ziehst Du dich in dich selbst zurück und magst dich nur noch auf dich selbst verlassen. Und Du hast uns ja bereits vor eurer Trennung allein gelassen und Mama hat dir dann die ganze Zeit nachgetrauert und in mir einen Partnerersatz gesucht. Das war für mich überfordernd und frustrierend. Und Betty hat ein ganz anderes Lebenskonzept als ich. Sie will nur vorteilhafte Geschäfte machen und ansonsten schon verheiratete Frau sein. Sie hat mich auch frustriert. Aber dieses Gespräch hat mir gutgetan. Ich fühle mich zum ersten Mal verstanden und in meiner Eigenart respektiert. Das eröffnet mir neue Lebensperspektiven – vielleicht auch im sozialen Bereich!“

Darauf antwortete mein Vater: „Ich will das seltene Glücksgefühl, das Du jetzt empfinden magst, nicht für meine Zwecke ausnutzen. Aber ich möchte dich wenigstens über die Gründe informieren, die mich zu euch geführt haben! Erstens, ich bin krank und habe vielleicht nicht mehr lange Zeit, um euch zu sehen und auch eure Zukunft gesichert zu wissen. Zweitens ich lasse mich von meiner zweiten Ehefrau scheiden und möchte Mama zeigen, dass sie die eigentliche Frau meines Lebens war und ist. Drittens muss ich eine Entscheidung darüber treffen, was aus der Firma werden soll, und bevor ich sie in eine Stiftung umwandle, möchte ich schon erkunden, ob eventuell Du, Kai, willens und fähig bist, meine Nachfolge anzutreten. Ich erwarte jetzt keine Antwort von dir, möchte dich aber bitten, über diese Mitteilungen nachzudenken und würde gerne morgen mit dir über deine Einstellung zu diesen Angelegenheiten sprechen. Vielleicht bedenkst Du in diesem Zusammenhang auch, dass Du eine Position erreichen würdest, die dich vor viele neue Probleme stellen würde, so dass Du wirklich wie deine Traumfigur, der erste Mensch, deine Kräfte gegenüber dem Unbekannten erproben könntest und auch viele neue unbekannte Menschen kennen lernen könntest.“

Mein Bruder sagte hierauf nichts, nickte aber zustimmend in die Richtung unseres Vaters und schlug dann vor, sich um das Essen zu kümmern, denn er hätte großen Hunger.


Betty und Kai

Подняться наверх