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ZU GAST
HARTE LANDUNG IM BAROCK VON ANUSVILLE
Der Reiskuchen des anderen sieht immer größer aus
Julia ist die ersten Tage bei den Verwandten einer Studienkollegin aus Deutschland untergekommen, Sonya mit Namen. Deren Mutter war in den 70er-Jahren als Krankenschwester nach Deutschland gekommen, um durch Gastarbeit Devisen für ihre arme Familie zu verdienen. Im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs in Korea war die Familie bald mindestens genauso wohlhabend wie Sonyas Mutter, aber deshalb zurückzugehen, fand sie dann auch nicht mehr attraktiv. In Deutschland hatte sie inzwischen Wurzeln geschlagen. Die Verbindung nach Korea blieb aber immer bestehen und die Verwandten sind bis heute dankbar für die Unterstützung in schwierigen Zeiten. So ist es auch gar kein Problem, dass Julia bei ihnen wohnt.
Eigentlich wollten alle ihren Gast gleich vom Flughafen abholen, aber Julia hatte darauf bestanden, dass sie den Weg zumindest vom Flughafen bis zur Endstation des Seouler U-Bahn-Netzes allein findet, auch wenn die Familie noch weiter östlich in einer der großen Vorstädte wohnt. Am U-Bahnhof angekommen, ist sie überwältigt: Die ganze Familie ist angerückt, begutachtet die Ausländerin gründlich und probiert, die vorhandenen zwei Brocken Englisch anzubringen. Allzu viel Kommunikation ist damit zwar nicht möglich, aber das wird schon werden.
Von der Endstation aus geht es mit dem Auto weiter. Julia hatte erwartet, dass dort dann auch die Stadt zu Ende sein würde, doch weit gefehlt. Es geht weiter, viele Kilometer vorbei an schier endlosen Hochhaussiedlungen – Hochhäuser und zwischendrin immer wieder Hügelchen und drumherum die Berge, Julia ist gleich ganz euphorisch. Schließlich biegen sie in eine der Apartmentsiedlungen ein und stehen vor einem riesigen Glaspalast. Ein Pförtner grüßt freundlich, leitet den Geländewagen ins sechste Untergeschoss der Tiefgarage, von wo aus der Aufzug die Familie in den Stock »FF« bringt.
Viel hat Julia bereits über die beengten Wohnverhältnisse der Asiaten gelernt; in Hongkong wohnen die Leute bekanntlich sogar in Käfigen. Ganz anders das, was sie hier erwartet: Nach dem Entree ein Schuhschrank, so groß wie anderswo die ganze Wohnung, und schließlich ein Wohnzimmer, in dem man auch Rockkonzerte veranstalten könnte. Und erst der Ausblick; von hier oben sieht man in der Ferne sogar den N Seoul Tower, das Wahrzeichen Seouls auf dem Berg Namsan. So schweift ihr Blick über die Unendlichkeit der Stadt. Genau genommen ist sie selbst schon wieder außerhalb, denn Sonyas Verwandte wohnen in einer der großen Satellitenstädte um Seoul, wenn auch in einer der schöneren. Doch da muss sie kurz lachen. Das baugleiche Apartment nebenan trägt doch tatsächlich den Namen »Anusville«. Es liegt ihr auf der Zunge, nach dem Ursprung dieses merkwürdigen Namens zu fragen, aber sie verkneift es sich dann doch lieber.
UNGLÜCK BRINGENDE UND VERUNGLÜCKTE NAMEN
Wie in anderen asiatischen Ländern auch gilt der vierte Stock in Korea als Unheil bringend, weil er ausgesprochen genauso klingt wie die Aussprache des chinesischen Zeichens für Tod. Deshalb lässt man ihn entweder ganz weg oder markiert ihn mit einem westlichen »F« wie four. Ganz abergläubische Hausbesitzer markieren dementsprechend den 44. Stock mit einem Doppel-F.
Die Bezeichnung »Anusville« ist dagegen weniger durchdacht. Es handelt sich vielmehr um eine unglückliche Lautschrift des typischen Apartmentnamens »Honours Ville« – solcherlei missglückte Versuchen von Weltgewandtheit findet man in Korea viele.
Außergewöhnlich erscheint Julia nicht nur die Größe der Wohnung, sondern auch die Einrichtung: Anstatt traditionelle asiatische Wohnkultur findet sie Gelsenkirchener Barock vor, so wie sich das wohl für die typische zu Wohlstand gekommene Familie gehört: handgestickte Ansichten europäischer Mittelalterstädte, gusseiserne Glöckchen und Fingerhüte, eine Kuckucksuhr, eine garantiert echt unechte alte Holztruhe und vielerlei mehr, was Julias Oma schon vor Langem mit den Worten »Das würde ich euch nicht mal vererben wollen« weggeschmissen hatte. Hier hätte Oma wohl ein Vermögen machen können, denkt sich Julia noch, da wird sie schon zum Essen gerufen.
Ihr fällt ein, dass sie ja extra Gastgeschenke aus Deutschland mitgebracht hat. Obwohl in der Wohnung bereits mehr europäischer Krempel steht als bei ihr zu Hause, hat sie typisch deutsche Mitbringsel mitgebracht. Darüber freut man sich in Korea immer, hat Julia vorher in Erfahrung gebracht. Sie holt die Tüte aus ihrer Reisetasche und überreicht sie, wie das in Asien so Sitte ist, dem ältesten Mitglied der Familie, also dem Großvater. Dieser schaut sich erst die Tüte an, lächelt Julia milde an, guckt dann aber nicht einmal rein. Er stellt die Tüte neben sich hin und bittet seine Tochter, sich bei Julia im Namen der Familie zu bedanken.
Julia ist ziemlich enttäuscht, dass ihre mit Liebe ausgewählten Geschenke nicht einmal begutachtet werden, aber davor hatte man sie ja bereits gewarnt. »Persönliche Geschenke sind bei Koreanern vergebene Liebesmüh«, hatte ihre koreanischstämmige Freundin Sonya in Deutschland sogar lakonisch bemerkt, als Julia ihr stolz erzählte, dass sie verschiedene selbst gebackene Kekssorten, eine Miniatur aus ihrer Heimatstadt und eine handgemalte Karte vorbereitet hatte. Letztlich hatte sie noch ein paar Haribo und Ritter Sport hineingepackt, doch auch die bleiben unangerührt.
Ein Gastgeschenk der ganz anderen Art scheint die Familie wiederum Julia gemacht zu haben. Als Zeichen ihrer Wertschätzung für den Gast und wohl auch als Zeichen, dass sie Energiesparen nicht nötig haben, hat die Familie die Klimaanlage in der ganzen Wohnung auf angenehme 17 Grad eingestellt. Doch Julia bekommt die extreme Klimaanlagenluft nicht. Als sich alle auf ihren Kitschthronen platziert haben, um mit dem Essen zu beginnen, fröstelt Julia bereits. Das Zittern ihrer Hände macht ihr das Hantieren mit den Stäbchen nicht gerade einfacher und jetzt läuft auch noch die Nase.
Als wohlerzogene Deutsche holt sie schnell ein Taschentuch hervor, bevor das Kribbeln in ihrer Nase übermächtig wird und sie volle Kraft anfängt zu niesen. Mit zur Seite gedrehtem Kopf säubert sie sich die gerötete Nase, steckt ihr Taschentuch weg und greift wieder zu den Stäbchen. Da bewegt auch der Großvater die Nase, allerdings nur zu einem Rümpfen derselben. Weil niemand mehr isst, will Julia höflich sein und hält ebenfalls inne. Muss wohl etwas Religiöses sein. Also steckt sie die Stäbchen in den Reis und wartet. Hungrig blickt sie über den Tisch und überlegt, aus welchem der vielen kleinen Schälchen, die aufgetischt wurden, sie wohl als Nächstes probiert. Doch die Familie macht keine Anstalten weiterzuessen. Stattdessen beginnt die Großmutter auf ihrem Barockstuhl jetzt, an ihren Füßen herumzuspielen, und stößt einmal laut auf. Da vergeht es Julia allerdings. Kurz darauf ziehen sich die älteren Herrschaften zurück und der Tisch wird abgedeckt.
Aigu! – Oh weh!
Die Völkerverständigung ist offensichtlich schon beim ersten Versuch auf beiden Seiten gründlich misslungen. Naseschnäuzen gilt in Korea als, gelinde gesagt, sehr unfein. Tatsächlich ist es nach koreanischem Verständnis besser, sich am Tisch geräuscharm die Nase hochzuziehen oder unauffällig mit einem Tuch die herunterlaufende Rotze abzuwischen, als laut zu schnauben. Wenn es gar nicht mehr anders geht, kann man auch kurz vom Tisch aufstehen und sich auf der Toilette die Nase putzen.
Das Besteck in Speisen zu stecken – das gilt für Stäbchen genauso wie für Suppenlöffel –, ist übrigens geradezu ein Klassiker der kulturellen Insensibilität. Dabei begehen gerade jüngere Koreaner diesen Fauxpas in lockerer Runde durchaus auch selbst einmal. Wie auch hier geschehen, sind es vor allem die älteren, noch sehr traditionell erzogenen Koreaner, die beim Anblick durchaus ärgerlich werden. Es ist nämlich eine rituelle Handlung, die bei der Ahnenzeremonie (siehe Episode 45) durchgeführt wird.
Die Geschenke waren wirklich gut gemeint, aber in Zeiten des Freihandelsabkommens mit der EU gibt es auch in Korea ausreichend deutsche Schokolade und Gummibärchen – also gar nicht erst unnötig anschleppen! Dass das Geschenk nicht ausgepackt wurde, lag aber nicht daran, sondern ist vielmehr eine Art, das Gesicht von Schenkendem und Beschenkten zu wahren: Wenn das Geschenk ausgepackt wird und unpassend ist, entsteht für beide Seiten eine unangenehme Situation, also lässt man es lieber gleich zu. So blieben auch die persönlichen Geschenke unbeachtet – vielleicht versteht ja später jemand den tieferen Sinn und schätzt es wert.
Dass Oma sich am Tisch an den Füßen spielt, war kein gezielter Affront und kann tatsächlich vorkommen, man sieht es ab und zu auch in Restaurants: Besonders bei älteren Menschen sollte sich der vermeintlich so wohlerzogene Europäer immer daran erinnern, dass Korea bis vor wenigen Jahrzehnten ein sehr traditionell geprägtes Entwicklungsland war; westliche Sitten haben noch nicht lange Einzug gehalten. Genau diese rasante Entwicklung ist es, die oft zu kulturellen Missverständnissen nicht nur zwischen Koreanern und Ausländern führt, sondern auch zwischen Koreanern unterschiedlicher Generationen.
Kurzum, für Julia erscheint hier der Reiskuchen des anderen nicht größer als ihr eigener, das heißt, nach diesem Essen sieht für sie die Kultur des anderen nicht unbedingt verlockender aus als die eigene. So wie sich in Deutschland Leute einen Buddhakopf in den Garten stellen und die Koreaner Gelsenkirchener Barock ins Hochhaus, weil die jeweils andere Kultur erst einmal so exotisch, spannend und auch überlegen erscheint, kann es bei der tatsächlichen Begegnung mit diesem anderen Reiskuchen dann zu bitteren Enttäuschungen kommen. Nur weil man sich Buddha in den Garten holt, hat man eben noch lange keine Aura asiatischer Gelassenheit geschaffen, und nur weil man sich wuchtige deutsche Schränke ins Wohnzimmer stellt, ziehen noch lange keine Sitten des europäischen Hochadels mit ein.