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Reisepläne

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Das Gefühl des Déjà-vus war überwältigend und lag Regina wie ein Geschmack auf der Zunge. Mal wieder rannte sie mit Ben an ihrer Seite davon, mal wieder hörte sie Polizeisirenen in der Ferne. Mal wieder brannte hinter ihnen ein Fuhrpark. Oder war es eine Lagerhalle? Die Aktionen der letzten Wochen vermischten sich in ihrer Erinnerung, kamen ihr vor wie eine stete Abfolge von Aktion, Flucht, Untertauchen, Planung und neuerlicher Aktion. Bei diesem Tempo würde ihre Sternschnuppen-Metapher sich bald erfüllen, keine Frage.

Mit quietschenden Reifen kam Mike mit seinem gestohlenen Van um die Ecke, Kevin im Inneren riss die Seitentür auf und Regina und Ben sprangen hinein. Dann gab der Öko Vollgas und schleuderte sie in die Sitze.

»Hey, mach mal langsam!«, rief ihm Ben über den Lärm des aufheulenden Motors zu. »Oder ruf den Bullen doch gleich zu, dass wir hier sind.«

Mike zügelte seinen Fahrstil und nach wenigen Abbiegungen waren sie im nächtlichen Verkehr des Ruhrgebiets untergetaucht.

Kevin zitterte, sagte kein Wort und schaute zu Boden. Regina streichelte ihm sanft über den Kopf. Erst versteifte sich der dürre Körper, dann warf er sich förmlich in ihre Arme und zitterte vor sich hin.

Ben schaute fragend zu ihr hinüber, deutete eine wegziehende Handbewegung an, aber sie schüttelte den Kopf. Es war zu viel gewesen in den letzten Wochen. Für jeden von ihnen, aber vor allem für den Koffeinjunkie hier. Sie spürte, wie Tränen ihre Hose befeuchteten und ließ Kevin gewähren. Das Tempo der letzten Zeit war höllisch gewesen, jeder von ihnen arbeitete an seinem Limit. Ihre Aktionen waren immer häufiger in den Nachrichten, gerüchteweise hatte die Polizei eine eigene SoKo für sie gebildet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Ruhrgebiet verlassen mussten. Aber auch woanders würde Ben weitermachen. Er würde immer weitermachen. Das Feuer in ihm loderte mit einer Kraft, das es sie alle verbrennen würde.

Das Zittern der Gestalt in Reginas Armen wurde weniger, die Tränen versiegten. Bis er das nächste Mal zusammenbrechen würde. So wie vor ein paar Tagen. Als sie das mit Ischar erfahren hatten und Ahnung sich in kalte, schneidende Gewissheit verwandelte. Der dicke Türke war der Grund dafür gewesen, dass die Polizei an jenem Tag bereits auf sie gewartet hatte. Er hatte aussteigen wollen. Und wenn sie Ben so ansah, mit seiner ganzen Ausstrahlung von Siegeswillen und Kraft, die einem Mongolenführer gut zu Gesicht gestanden hätten, hatte sie fast Verständnis dafür, dass der Dicke es ihm nicht ins Gesicht gesagt hatte. Aber warum direkt der Verrat und nicht einfach nur das normalste der Welt, bekannt aus vielen gescheiterten Beziehungen? Das einfach-nicht-mehr-melden und Verleugnen? Diese Frage nagte an ihnen allen. Ischars Verrat hatte insbesondere Kevin, seinem besten Freund, hart getroffen.

Der Dürre kam langsam wieder hoch, blickte Regina aus verquollenen Augen an und wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, aber sie schüttelte den Kopf und streichelte ihm über den Arm. Sie waren eine Gemeinschaft, in der jeder dem anderen half.

Die altersschwachen Scheinwerfer quälten sich durch die Dunkelheit, als Mike von der Hauptstraße abbog und sie mitten in der Nacht in ein anderes Industriegebiet führte. Diesmal nicht, um dort ebenfalls ein Chaos anzurichten, sondern in ihrem neuesten Unterschlupf ein paar Stunden Schlaf zu finden. Sie hatten ihn alle nötig.

Das bläuliche Licht des Bildschirms erhellte Reginas Gesicht und notdürftig das kleine Zimmer. Sie war völlig im Internet versunken, surfte auf diversen Seiten gleichzeitig, die ihr mehr darüber verrieten, in welchem Ballungsraum es sich am ehesten lohnte, zu leben. Und wo man sich dort nötigenfalls verstecken konnte. Die Umzugspläne waren weit gediehen, das Pflaster im Ruhrgebiet wurde immer heißer. Nachdem die SoKo der Polizei sie vor einigen Tagen bei einem Brandanschlag auf einen Fuhrpark fast erwischt hatte, hatten sie wohl alle eingesehen, dass hier erst mal nichts mehr zu holen war. Also ein Umzug. Man hätte ja sagen können, dass sie darin »übereingekommen waren, umzuziehen«, aber so war die Lage nicht. Ben hatte beschlossen, dass sie weggingen. Und die Gruppe hatte sich dem gefügt, wie immer. Sie bewunderte ihn für seine ihm angeborene Gabe, Menschen zu führen und sie nötigenfalls auch gegen ihren eigentlichen Willen für eine Sache begeistern zu können. War das bei ihr auch der Fall? Oder war er zu ihr rundherum ehrlich? Diese Frage brannte ihr schon seit Wochen auf der Seele, aber bisher war es ihr gelungen, sie ein Weilchen nach hinten zu verschieben. Als ob sie dann eine Antwort gehabt hätte.

Regina seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und widmete sich wieder meinsprawl.de und den anderen Seiten, die ihr weismachen wollten, dass man ausgerechnet in Hamburg, Berlin, München oder in irgendeinem anderen versifften Ballungsraum gut leben könnte. Sie schaute sich in dem winzigen Ein-Zimmer-Appartement um, in dem Ben und sie im Moment Unterschlupf gefunden hatten, und musste laut auflachen. Letztlich war es egal, wie die Stadt aussah, auf ihrer Dauerflucht bekamen sie eh nicht mehr zu sehen als brennende Industriegebiete, Verstecke, von denen der hier noch einer der besseren war, und ab und an einen Schnellimbiss, um zwischen den Einsätzen ihres »heiligen Kriegs« etwas in den Magen zu bekommen. Immerhin hatte dieser unstete Lebenswandel sie gut fünf Kilo gekostet. Die Terroristen-Diät. Sie musste dringend mal einen Leserbrief an Bild der Frau schicken. Zum Nachahmen empfohlen.

Ein Geräusch an der Tür. Ohne nachzudenken griff Regina neben sich, entsicherte die 9-mm-Pistole, klappte den Laptop zu, legte ihn neben sich, stand auf und zielte auf den Eingang. Die Abläufe waren ihr von Ben immer und immer wieder eingetrichtert worden, bis sie ein Teil ihres Selbst geworden waren. Sicherungshebel umlegen, Waffe fest mit beiden Händen umgreifen, Ziel erfassen, abdrücken. Am Anfang – auf dem »grünen« Schießstand im Wald – hatte sie bei jedem Schuss die Arme weggerissen, weil ihr Hirn den Rückstoß sozusagen vorweg nahm. Ein Anfängerfehler, der ihr mittlerweile nicht mehr unterlief. Dann klopfte es. Dreimal schnell, zweimal langsam. Sie sicherte die Waffe, steckte sie in den Hosenbund, trat neben die Tür und öffnete. So, dass sie von ihr wegschwang und sie im Ernstfall eine vorgestreckte Waffe schnell greifen konnte. Es war fast lächerlich, welche Abläufe sie mittlerweile automatisiert hatte.

Aber nur Ben stand nun in der Tür, kein Polizist hinter ihm und auch sonst war niemand zu sehen. Sie atmete durch, gab Adonis einen Kuss und ging wieder zu ihrem Sessel und dem Laptop zurück. Wollte sie jedenfalls, doch Ben hielt sie am Arm fest und drehe sie zu sich herum. Mit einem schelmischen Blick schaute er ihr tief in die Augen.

»Ich habe es!«

Sie zog die Stirn in Falten und erwiderte: »Was hast du?« Was für ein Spiel spielte er denn nun schon wieder mit ihr?

Ben drückte sie sanft auf ihren Stuhl, ging vor ihr in die Hocke und strich ihr sanft über das Gesicht. Seine Finger fühlten sich wunderschön an auf ihren Wangen. Sie konnte sich, selbst jetzt nach mehreren Monaten, immer noch in diesem Gefühl verlieren.

»Den Riesenhinweis. Das große Ding, auf das wir so lange gewartet haben. Unsere Fahrkarte im Unsterblichkeitszug. Unsere Chance, mit einem Schlag mehr für die Umwelt zu tun, als mit all unseren bisherigen Aktionen zusammen.«

Er musste ihre Verwirrung spüren, denn er lachte auf und fuhr nahtlos fort: »Dimitri hat diesmal einen ganz dicken Infofisch an der Angel gehabt und mich prompt damit versorgt. Im Norden steigt ein Riesending. Ach, was sage ich?! Gigantisch!«

Sie stand auf, ging zum Kühlschrank und warf ihrem Romeo einen Mango-Ananas-Smoothe zu. Wenn sie schon gejagt wurden und in Sardinenbüchsen leben mussten, konnten sie sich wenigstens ordentlich ernähren. Dafür sorgte sie schon. Denn wenn die Kacke mal wieder am Dampfen war, vergaß Ben sonst so Nebensächlichkeiten wie Essen und Trinken, doch sie kümmerte sich schon darum, dass er seinen Traumkörper halbwegs ordentlich versorgte. So ordentlich, wie das auf der Dauerflucht jedenfalls möglich war.

»Jetzt trink erst mal was, du siehst völlig abgehetzt aus.«

Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck leerte er den Obstdrink in einem Zug, redete dann aber – samt orangenem Bärtchen über der Oberlippe – einfach weiter. »Danke. Jedenfalls ist da oben im Norden grad ein heißes Ding am Kochen. So ein paar Wissenschaftsspinner von der UN forschen an Mitteln, um die globale Erwärmung aufzuhalten. Und wie wollen sie das natürlich machen?« Er fuchtelte theatralisch mit den Armen. »Leider nicht, indem sie der Menschheit empfehlen, mal einen Gang zurückzuschalten, mal langsamer zu machen. Und bestimmt auch nicht dadurch, neue Filter in Fabriken einzuführen und Billigflieger zu verbieten.« Seine Gesichtsfarbe war bedenklich rot geworden. »Nein, natürlich nicht. Vielmehr haben sie sich einen Weg ausgedacht, Mutter Natur zu verarschen, indem sie an den natürlichen Schutzschichten der Erde herumspielen und diese verändern.« Er ging zu Regina und packte sie an den Oberarmen. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn jetzt selbst die UN meint, dass die Erde ein beliebig manipulierbarer Ort sei, dann müssen wir dem Einhalt gebieten. Sofort!«

Regina schaute in das gerötete, verschwitzte Gesicht. Die Bartstoppeln auf den kantigen Zügen gaben ihm eine unwiderstehlich männliche Ausstrahlung und sie spürte förmlich sein Drängen nach ihrer Unterstützung, was jeden Widerstand wegwischte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

»Okay, Schatz. Also auf in den Norden.«

Froststurm

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