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Durchschlagender Größenwahn

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»Multichem, der Großkonzern? Meinst du nicht, damit gehst du zu weit? Größenwahnsinnig geworden?«, ereiferte sich Regina und ließ sich zurück auf das Sofa in seiner Wohnung fallen.

Er schaute sie belustigt an, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier.

»Willst du auch eins?«, sagte er und hielt ihr eine kalte Flasche entgegen. »Wenig weihnachtlich, aber kühler als draußen in jedem Fall.«

»Nein, danke. Ich will vielmehr eine Antwort! Warum Multichem, warum willst du dich jetzt mit den großen Fischen anlegen?«

Er öffnete die Flasche, nahm einen tiefen Schluck und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.

»Weil die kleinen allein auf Dauer nicht ausreichen. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, reicht es nicht nur, lokalen Umweltverpestern ans Bein zu pinkeln. Nein, dann müssen wir den Großen eine Lektion erteilen, dass wir alle auf derselben Erde leben.«

Wie er sich aufregte. Er sah dabei so herrlich süß aus, wie sich seine Wangen auf den gemeißelten Zügen röteten.

»Wieder mal einbrechen? Anlagen sabotieren, so wie vorgestern? Oder die Aktenschränke voll Wasser laufen lassen und Grassamen drauf geben so wie gestern? Oder sind diesmal deine Freunde dran, die den Fuhrpark auseinandernehmen, wie du mal erzählt hast? Die haben Security und sind nicht völlig verblödet. Dafür landest du im Knast!« Sie krallte sich ein Kissen, stopfte es sich vor den Bauch, knüllte es zusammen.

Einen kurzen Moment sah es so aus, als ob er explodieren würde. Dann atmete Ben tief durch, leerte die Flasche auf einen Zug und warf ihr den Mantel zu.

Sie schaute ihn fragend an.

»Komm, lass uns eine Runde gehen.«

Sie traten vor die Tür, hakten sich ein und schlenderten die Straße hinunter. Der Verkehr rollte neben ihnen, »malerisch« oder »ruhig« wohnte Ben mit seiner Wohnung in Hauptverkehrslage nahe Innenstadt nun wirklich nicht. »Aber dafür zentral« hatte er ihr geantwortet, als sie auf die Abgasbelastung hingewiesen hatte. Ein Küsschen und das Thema war erledigt gewesen, man musste nicht alles ausdiskutieren. Sie gingen schweigend die Straße hinunter. Einige Fußgänger hasteten, erledigten die letzten Weihnachtseinkäufe wenige Tage vor dem Fest. Sie hingegen schlenderten. Ließen den Kopf zur Ruhe kommen, genossen das Beisammensein. Selbst wenn bei dieser Wärme kein echtes Weihnachtsgefühl aufkommen wollte.

Nachdem sie ein Weilchen gegangen waren, hockten sie sich auf eine Bank in der Innenstadt, sahen dem Treiben zu und Ben besorgte bei einer bekannten »Kaffeerösterei mit angeschlossenem Shop« zwei Kaffee und belgische Waffeln.

Kaum waren die letzten Krümel verspeist, drehte er sich zu ihr, strich ihr über die Haare.

»Es muss einfach sein, Reggi. Meine Freunde und ich, wir wollen einfach mal einen der Großen erledigen, ihm so richtig seine dreckige Tour vermasseln.«

Regina seufzte.

»Und? Was habt ihr vor?«

Ben zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung. Ich treffe mich morgen mit den Jungs. Bis dahin soll ich mir was überlegt haben.« Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Warum eigentlich immer ich?«

Sie küsste ihn auf die Wange. »Weil sie dir vertrauen. Weil alle dir vertrauen, wenn sie dich kennen. Du bist einfach die geborene Führernatur.«

Er lachte laut auf, was ihnen einige merkwürdige Blicke von Passanten einbrachte, was Ben nur nochmal lachen ließ.

»Na, vielen Dank auch.« Dann wurde er wieder ernster. »Ich will eigentlich keinen direkten Einbruch riskieren. Aber Multichem hat es einfach verdient. Unterzeichnen erst mit großem Brimborium die Konzernerklärungen von Rom und machen dann immer noch keinen Deut mehr gegen ihren Schadstoffausstoß.

Regina sah den Fußgängern zu und einem Fahrer eines Lieferwagens, der verzweifelt versuchte, viel zu schwere Paletten von Zeitungen und Zeitschriften allein abzuladen. Presse. Medien. Sie drehte sich zu ihm.

»Ist nicht dieser komische Herr Müller deren Vorstandsvorsitzender? Der sich so gerne in der Zeitung sieht?«

»Ja, wieso?«

Sie grinste ihn an. »Oh, ich glaube, ich habe da eine Idee.«

»Und du meinst, das funktioniert?« Er schaute ihr über die Schulter, wie sie den Laptop malträtierte. Bobo raste zwischen ihren Füßen umher, sprang Ben wild an und verlangte Aufmerksamkeit. Davon hatte sie ihm in der letzten Woche leider viel zu wenig zukommen lassen und nicht mehr als das Notwendigste getan. Ben war über sie und ihr wohlgeordnetes, langweiliges Leben gekommen wie ein Orkan. Gott, wie schmalzig. Aber wahr.

Sie scheuchte ihn in die Küche und ließ Ben das Abendessen für Bobo zusammenstellen.

»Mach du dich da nützlich, ich löse jetzt dein Problem.«

Klappernd wurden nacheinander die Schränke durchstöbert, während Regina im Wohnzimmer weiter hackte.

»Unter der Spüle«, rief sie hinüber und vertiefte sich dann wieder in ihre »Arbeit«. Eigentlich war es mehr Spaß als das.

Ein paar Minuten später hörte man einen schmatzenden Hund und Ben hockte sich neben sie auf das Sofa.

»Du hast meine Frage vorhin gar nicht beantwortet. Warum sollte dein Plan klappen?«

Sie stupste ihn auf die Nase.

»Weil Multichem geizig ist.« Sie drehte den Laptop zu ihm, die Homepage des Chemieriesens war eingeblendet. »Siehst du dieses Logo hier unten am Seitenende? Open Page.«

»Und?«

»Open-Source-Software. Wahrscheinlich von ihrer IT-Abteilung abgewandelt, aber den Kern haben sie von diesem Open-Source-Toolkit übernommen, das zur Homepage-Erstellung samt CMS und so gedacht ist. Und sie waren so nett, den fest eingebauten Link auf die Openpage-Webseite drin zu lassen.« Sie schmunzelte.

»Aha.« Er zuckte mit den Achseln. »Verstehe kein Wort.«

»Nicht ganz deine Baustelle, ich weiß, mein Schatz.«

Sie klickte auf ein anderes Browserfenster.

»Rübezahls Freunde?«, las er vor.

»Ja, ich weiß, bescheuerter Name. Irgendein Insider-Gag von vor meiner Zeit. Ist ein sehr aktives Hackerforum. Wenn du schon immer wissen wolltest, warum deine Lieblingssoftware in immer kürzeren Abständen einen Sicherheitspatch braucht, hier ist die Antwort.« Sie klickte sich durch das Forum und lachte dann triumphierend auf. »Und hier ist genau das, was ich gesucht habe. Es ist eine weitere Sicherheitslücke in Openpage aufgetaucht. Und das Update, um diese zu schließen, kommt erst nächste Woche raus, wie meine Hackerfreunde hier zu berichten wissen.« Ein paar Klicks später hatte sie sich alle Infos gezogen und surfte zur Homepage der Open-Source-Software.

»Und was willst du nun beim Hersteller von Openpage?«

»Hersteller ist hier nicht ganz richtig, mein furchtloser Adonis. Open-Source wird grundsätzlich von allen mit programmiert, die daran Spaß haben. Jeder kann mitmachen. Und damit das möglich ist, muss der Quellcode der Software natürlich auch frei einsehbar sein.« Sie führte ihre Maus auf einen Downloadlink. »Probier das mal bei Microsoft.«

»Und damit hast du nun...?«, fing er an.

»Und damit habe ich nun sowohl den Code der Software als auch eine Lücke, wie man sich in eine von ihr erzeugte Homepage hinein hackt«, schloss sie den Satz ab.

Sie ging in die Küche, nahm sich einen Prosecco aus dem Kühlschrank und ließ das Fläschchen sanft, aber eiskalt auf seinem Nacken nieder, was zu einem protestierenden Aufschrei führte. Sie umklammerte ihn von hinten und er warf sie auf das Sofa und sie küssten sich mit der Intensität frisch Verliebter.

»Und was will meine Cyberschurkin nun mit all diesen Angaben machen?«, fragte er und schaute ihr tief in die Augen.

»Jetzt, mein Lieblings-Einbrecher, sorgen wir dafür, dass Versprechen auch eingehalten werden.

»Es ist in den Nachrichten«, rief Ben begeistert aus dem Wohnzimmer und Regina beeilte sich, aus dem Bad zu kommen.

»Meine Freunde haben grad schon angerufen und gratuliert. Aber sie wüssten gern, wie wir das im Alleingang geschafft haben.«

Regina eilte zu ihm. Auf einem Nachrichtensender liefen die stündlichen Zusammenfassungen des Tagesgeschehens.

»Multichem verkündet als erstes Unternehmen Deutschlands, konkrete Bauaufträge zur Umrüstung ihrer Chemieanlagen erteilt zu haben, um das Rom-Abkommen einzuhalten. Mit diesem Schritt überraschte der Branchenführer selbst Eingeweihte, aber die zuerst im Internet veröffentlichte Pressemitteilung des Unternehmens lässt keinen Zweifel zu. Die Kosten werden von Experten auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt, dem allerdings Einsparungen durch umweltfreundlichere Fertigungen samt weniger Ausschuss und natürlich auch ein Imagegewinn beim Endkunden entgegenstehen. Selbige Experten gehen davon aus, dass die Konkurrenz nun bald folgen wird. Noch vor kurzem galt das Konzernabkommen von Rom als Totgeburt, als Lippenbekenntnis, dem in der Realität keiner folgen würde. Mit diesem Schritt hat Multichem nun aber Ernst gemacht und sich als Pionier der Umwelt gezeigt.« Die Sprecherin leitete auf ihren Kollegen der Sportabteilung über. Der Prinz war zurück bei den Bayern, nach seiner Bankdrückerzeit in Köln.

»Jetzt kriegen die dafür sogar noch gute Publicity«, spöttelte Ben und knuffte sie in die Seite.

Regina lachte mit gespielter Empörung auf. »Hey, mach's doch besser.«

Dann küsste sie ihn.

»Kann uns doch völlig egal sein. Eine solche Ankündigung können die niemals wieder zurücknehmen, das wäre ein PR-Gau ohnegleichen. Und wenn sie dank uns jetzt ein paar Lorbeeren dafür bekommen, sollen sie doch. Der Umwelt hilft es!«

Regen prasselte auf das Vordach des Cafés und ging als kleiner Wasserfall über die überlaufende Regenrinne hinunter. Es gab schönere Ausblicke, wenn man aus einem Café auf eine Innenstadt blickte, aber keinen in Bens Gruppe schien es im Moment zu stören. Sie waren siegestrunken, wie sie in ihrer Runde saßen, tranken und lachten. Regina kuschelte sich an Bens Seite und ließ die ewigen Heldengeschichten mehr über sich ergehen, als dass sie sie genießen konnte. Sie hatte sie in den letzten Wochen zu oft gehört. Weihnachten war wie im Flug vorbei gegangen und auch die Silvesterfeier kam ihr im Nachhinein fast unwirklich vor. Sie hatten wahrlich auf den Um-Welt-Frieden angestoßen, was für ein Nonsens. Aber es war Bens Idee gewesen und damit natürlich in Ordnung. Er und seine Kumpane, eine merkwürdige Truppe, die nun erneut beieinander saß, wenige Tage nachdem das neue Jahr gemeinsam begangen worden war. Schar, der dicke Deutsch-Türke, kaute wie üblich möglichst laut Kaugummi. Kevin bemühte sich nach Kräften, sich keinen achten Kaffee innerhalb einer Stunde zu bestellen. Dem Zittern seines spindeldürren Körpers, um den die Kleidung geradezu schlotterte, nach zu urteilen, verlor er diesen Kampf. Und ihr direkt gegenüber saß das letzte Mitglied von Bens Weltenretter-Truppe: Mike, der »echteste« Öko der Truppe, samt Biolatschen, grobem Leinenpulli über dem Durchschnittskörper und ständig schlauen Sprüchen über Mutter Natur. Kein Wunder, als Langzeit-SoWi-Student hatte er ja genug Zeit, sich diese auszudenken.

Wie passte sie überhaupt in diese Runde? Sie wusste es immer noch nicht so recht, aber es war nur wichtig, bei Ben zu sein. Nach der Multichem-Geschichte hatte sie in seinen Augen deutlich an Respekt gewonnen, war zu seinem kongenialen Partner geworden. Obwohl ihre Beziehung gerade mal wenige Wochen dauerte, waren sie ihrer Meinung nach schon auf einer höheren Stufe als der reinen Verliebtheit, es war eine echte Partnerschaft geworden.

Kevin winkte mit seinen dünnen Ärmchen nach der Bedienung, er hatte gegen den Koffein-Höllenhund in seinem Inneren verloren. Die Runde schloss sich unter Spottrufen gegenüber ihrem Junkielein der Bestellrunde an und wenige Minuten später ließen sich alle Kaffee und Kuchen schmecken.

Nur wenige Menschen hasteten im Regen an dem Café vorbei, die Aussicht war überschaubar, umso lauter war es zur Nachmittagszeit im Café selbst. Dadurch erklärte sich die Lautstärke, die Mike mal wieder an den Tag legte.

»Das letzte Jahr war echt erfolgreich! Genauso müssen wir weitermachen. Noch so ein paar Dinger wie mit Multichem und wir können echt was bewegen!«

»Richtig«, pflichtete ihm Ischar bei und schob sich ein weiteres Stück Schwarzwälder Kirsch in den Mund. Auch beleibte Menschen mussten bei Kräften bleiben. »Womit wollen wir denn weitermachen?«

Ben grinste in die Runde und hob wie triumphierend Reggis Hand in die Höhe, der daraufhin das Blut in die Wangen schoss.

»Ihr wollt heiraten?«, mutmaßte Kevin.

»Quatsch, du alte Torfnase. Zuviel Holland-Spezial geraucht? Nein, Reggi hat mich auf eine klasse Idee gebracht. Wir machen einen kombinierten Hack-Bruch. Wir gehen bei einem Verschmutzer rein, verwüsten die Büros, um zu zeigen, dass wir auch Manpower haben und Reggi legt deren Webseite lahm. Dann machen wir ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen können: Mit der Verschmutzung aufhören oder sie können ihre Seite jede Woche neu programmieren.«

»Und an wen hattest du gedacht?« Ischar stürzte den Rest seines Kaffees hinunter.

Ben beugte sich verschwörerisch vor. »NexGen.«

Kevin guckte ihn ungläubig an, kramte in seiner Tasche und holte seine Handheld-Spielekonsole hervor, auf der groß das NexGen-Logo prangte.

»Den Hersteller der ersten deutschen Mobilspielkonsole?«

»Genau den.« Ben zog das letzte Club-Magazin von Greenpeace aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Unsere Müsli-Freunde haben hier mal genau untersucht, wieviel Dreck bei der Herstellung einer NexGen 3000 erzeugt wird. Und was noch wichtiger ist. Wieviel davon durch kleinere Umrüstungen im Fertigungsprozess eingespart werden könnte.

Regina schüttelte den Kopf. Ihr wurde flau im Magen.

»Hey, Jungs, macht keinen Scheiß. Das wäre ein derart heftiger Hack ... bin mir kaum sicher, dass ich das überhaupt hinbekomme.«

Ben drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Muss ja auch nicht sofort sein. Du guckst dir die Seite die Tage mal an und sagst uns, wie lange du zur Vorbereitung brauchen würdest. Wir müssen den Bruch ja auch erst noch vorbereiten, in so eine Fertigungsanlage spazieren wir ja auch nicht über Nacht einfach mal so rein.«

»Trotzdem bin ich mir nicht sicher, dass das was wird.« In den letzten Wochen hatte sie an einigen Aktionen von Bens Aktivistenzelle teilgenommen, aber das hier war rein hackingtechnisch auf jeden Fall die größte Nummer. Wie stellten sich die Jungs das vor?

»Männer, hört mal zu. Ich weiß, ihr habt von meiner Art der PC-Magie keine große Ahnung, aber das hier wäre eine Art Meisterstück. Für einen Vollprofi, der das hauptberuflich macht.«

Mike zwinkerte ihr zu. »Du hast in der letzten Zeit derart viel möglich gemacht, woran wir früher gescheitert wären, du schaffst das. Hör auf Ben. Wenn er sagt: Guck erst mal und bereite vor, dann mach das. Er kennt dich besser als wir alle. Wenn er meint, du schaffst das, vertrauen wir ihm.«

Ben deutete eine Verneigung zu seinem Freund an.

»Zuviel der Ehre, du alter Dauerstudent. Dennoch danke.«

Ischar legte einen Zehner auf den Tisch.

»So, Leute, ich muss. Hab gleich noch 'ne Verabredung.«

Ben lachte. »Mit einer Tiefkühlpizza?«

Der Angesprochene drehte sich um.

»Wenn du wüsstest...«. Der Dicke grüßte nochmal in die Runde und ging.

Irgendwie sah er etwas zittrig aus, befand Regina. Sie würde ihm morgen beim nächsten Treffen seine Lieblingskekse mitbringen, damit war Ischar immer wieder auf die Beine zu kriegen. Selbst die Bisse des Wachhundes letzte Woche hatte sie damit »kuriert«.

»Ok, da Ischar weg musste, würde ich sagen, wir lassen das Thema dann für heute auch gut sein. Alles Wichtige ist ja auch erst mal geklärt.« Ben legte bei diesen Worten den Arm um Regina, die sich an ihn kuschelte.

Mike lächelte. »Manchmal seid ihr so schmalzig, es ist kaum auszuhalten.« Er hob seine Cappuccino-Tasse. »Aber ich gönne es euch.«

Regina grinste zurück.

Die Runde leerte langsam Getränke und Teller, schwatzte noch ein bisschen über Gott und die Welt und wandte sich dann zum Gehen.

Mike trat als Erster ins Freie, klappte den Kragen seines groben Wollmantels hoch und verharrte unter dem Vordach. Ben folgte, Regina im Arm. Kevin kam natürlich als letztes, mit derart zittrigen Händen war es auch schwer, einen Reißverschluss zu schließen. Der Regen prasselte nur so herab, die Innenstadt war so gut wie leer. Nur wenige Passanten waren unterwegs und wenn, dann wie Schildkröten verborgen unter tief gehaltenen Schirmen. Die Gruppe ging gemeinsam noch ein paar Meter, eilte von Vordach zu Vordach. Plötzlich blieb Ben stehen, mitten in der Fußgängerzone, ohne ersichtlichen Grund. Alle stoppten.

»Was?«, entfuhr es Mike.

»Bullen«, kam es aus Bens Mund, der zu einer Fünf-Mann-Gruppe hinüber nickte, die betont unauffällig ein paar Meter entfernt ein Schaufenster betrachtete. Wie praktisch, dass die Scheibe genau so spiegelte, dass sie sie dabei im Blick hatten. Hitze wallte in Regina empor, ihr wurde speiübel.

»Trennung«, sagte Ben lediglich, die anderen nickten, als ob es das Üblichste auf der Welt war, wenn man von Zivilpolizisten verfolgt wurde.

Die Gruppe teilte sich auf. Mike und Kevin gingen alleine, Ben und sie blieben zusammen. Alle in unterschiedliche Richtungen.

Zügigen Schrittes führte Ben sie tiefer in die Fußgängerzone. Regina wollte am liebsten rennen, aber Schatzi hielt sie am Arm und zwang sie, ruhig zu gehen. Immer wieder blieben sie stehen, überprüften nun selbst über Schaufenster, Schminkspiegelchen und Spiegelungen auf Handydisplays, ob sie verfolgt wurden. Dem war leider so. Zwei der Männer in Zivil waren an ihnen drangeblieben, von den anderen keine Spur.

Ben zog sie näher an sich, zeigte betont deutlich auf die Auslage des Kaufhauses, unter dessen großes Vordach sie sich stellten. Regina konnte die Polizisten hinter ihnen förmlich spüren, wie sie auf der anderen Straßenseite Posten bezogen.

»Wo sollen wir hin?« Regina hatte Tränen in den Augen.

»Beruhige dich. Wir schaffen das.« Er nahm sich die Zeit, ihr über das Gesicht zu streicheln. »Wir gehen jetzt zur U-Bahn-Station, und wenn wir unten auf dem Bahnsteig sind, rennen wir zur anderen Seite wieder hoch und hängen sie im Porschecenter ab.«

Das Porschecenter, eine langgezogene städtische Einkaufspassage. Konnte funktionieren.

Sie schlenderten weiter die Straße hinunter und Regina hoffte inständig, dass die Polizisten nicht plötzlich Ernst machten und sie zu einer Hetzjagd zwangen. Regina schluckte und krallte ihre Hände in Bens Ärmel.

Die gut fünfhundert Meter bis zum U-Bahn-Eingang kamen ihr vor wie Kilometer, die Zeit zog sich wie Gummi. Sie spürte den Regen im Gesicht deutlicher als jedes Gefühl zuvor, die ganze Szenerie kam ihr unwirklich vor. Der Laptop in ihrem Rucksack wog Tonnen, jedes Computerverbrechen der letzten Wochen hatte hundert Kilo hinzugefügt.

Da! Die Treppe, die unter die Essener Innenstadt führte, kam in Sicht. Es war die Rückseite der Passage, von hier aus erreichte man zahlreiche Linien. Oder man konnte schnell unten durchlaufen und in der Mitte der verzweigten Passage wieder an die Oberfläche kommen.

Als Ben den ersten Fuß auf die Treppe setzte, zog er an ihrem Ärmel.

»Los!« Sie rannten.

Hinter ihnen ertönte der Ruf »Stehenbleiben«, aber merkwürdigerweise folgten sie diesem Befehl nicht, sondern beschleunigten ihre Schritte. Ein älteres Ehepaar wich ihnen erschrocken auf der Treppe aus, dann waren sie auch schon auf dem Bahnsteig angekommen. Ein langer Schlauch eröffnete sich vor ihnen, an dessen entferntem Ende die rettende Treppe bereits zu sehen war.

Mülleimer, Süßigkeitenautomaten, Sitzbänke, alles flog nur so an ihnen vorbei. Das Herz schlug Regina bis zum Hals, sie spürte nur zu deutlich jedes Kilo zu viel. Ben rannte neben ihr, wäre ohne sie schneller gewesen, aber er hielt sich bemerkbar zurück. Hoffentlich bereute er das später nicht. Ben blickte während des Laufens zurück.

»Nur noch einer hinter uns.«

»Und der andere?«, keuchte Regina.

Ein schnelles Kopfschütteln war die Antwort.

Die Treppe kam immer näher.

»Weg!«, schrie Ben einer Gruppe Kinder zu, die auf der Treppe herumlungerten. Keiner machte Anstalten, sich zu bewegen.

Regina fluchte und umkurvte die Halbstarken, was zu belustigten Rufen führte. Pisser!

Sie hetzten die letzten Stufen hinauf, der Polizist hinter ihnen war etwas zurückgefallen. Sie konnten es schaffen!

Regina rannte vor, am Treppengeländer vorbei nach links, wollte in die Passage hinein. Plötzlich riss sie jemand an ihrem Rucksack zu Boden. Sterne schwirrten vor ihren Augen. Ein Knie auf ihrem Rücken, sie hörte Handschellen klicken. Dann schrie Ben, das Gewicht verschwand plötzlich von ihrem Rücken.

Regina drehte sich auf die Seite und versuchte, sich aufzurappeln, aber die Arme versagten und sie sackte wieder auf den kalten Steinboden der Passage. Aus dem Augenwinkel musste sie mit ansehen, wie zwei Gestalten miteinander rangen. Ben rollte sich plötzlich in den Körper des deutlich größeren Zivilbullen hinein und warf ihn über die Schulter die Treppe hinunter. Laute Schmerzensschreie, mehrfach hässliches Knacken, dann polterten auf einmal zwei Personen die Steinstufen hinab. Der andere Polizist hatte wohl zwischenzeitlich aufgeholt und dämpfte nun den Aufprall seines Kollegen. Schemenhaft sah sie, dass ihr Rucksack mit die Treppe hinuntergeflogen war. Sie musste ihn holen. Stöhnend rappelte sie sich auf, da zog sie Ben in die Höhe.

»Der Rucksack!« Sie deutete die Treppe hinunter.

»Spinnst du? Wir müssen weg!«

Regina wollte noch einen Schritt in Richtung der Stufen machen, aber die unnachgiebige Kraft, mit der sie Ben in die andere Richtung zog, ließ ihr keine Wahl. Mit einer Mischung aus Rennen, Humpeln und Vorwärtsstürzen brachten sie einige hundert Meter Raum zwischen sich und die Passage, liefen eine Treppe hinunter, die sie von der Fußgängerzone hinunter auf das Essener Straßenniveau brachte und schnappten sich das erstbeste Taxi. Der Fahrer wollte angesichts ihres zerzausten Aussehens erst protestieren, aber ein Fünfziger überzeugte ihn, lieber mit Ihnen auf den Rücksitzen Gas zu geben als ohne sie.

Froststurm

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