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Admin bei der Arbeit

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20. Dezember 2014

Die braune Brühe schwappte hin und her, unappetitlich durchzogen von gelb-weißen Schlieren. Der flüssige Mist sah unendlich tief aus. Regina schauderte. Und nahm einen Schluck vom Automatenkaffee.

»Ich muss unbedingt meine eigene Kaffeemaschine mitbringen«, murmelte sie zum wiederholten Male. Aber besser der hier als gar kein Kaffee. Anders war das hier nicht auszuhalten. Ohne Koffein ging gar nichts.

Regina gähnte betont laut. Aber niemand meckerte, obwohl es erst Vormittag und der Arbeitstag noch lang war.

Sie streckte die Hand unter den Schreibtisch und strubbelte Bobo über den Kopf.

»Wer soll uns hier unten auch stören, kleiner Mann? Unendliche Enge und Langeweile in alle Richtungen.«

Bobo hob kurz den Kopf, schaute sie fragend an, um dann in ein ausgiebiges Kratzen seiner Ohren mit der Hinterpfote überzugehen. Sie warf ihm ein Leckerli unter den Tisch und hörte das zufriedene Schmatzen der kleinen Promenadenmischung, die es sich in einem alten Laptop-Karton gemütlich gemacht hatte. Ein Hund in der Systemadministration eines Unternehmens. So etwas war auch nur hier möglich, hier, wo sie nie gestört wurde und die einzige Anforderung des Arbeitstages war, diesen möglichst stressarm rumzukriegen. Glücklicherweise hatte vor ein paar Monaten ein Fehler dutzende Bestellungen des Versandhändlers gefressen. Sonst würde der Chef wohl nochmal überlegen, ob man als kleiner Mittelständler wirklich einen eigenen Systemadministrator brauchte. War eine Heidenarbeit gewesen. Aber welchen »Fehler« programmierte sie dem System das nächste Mal ein? Nochmal derselbe ging schlecht. Naja, in ein paar Monaten musste sie mal schauen. Bis dahin war ihr zwar langweiliger, aber gut bezahlter Job gesichert.

Sie stand auf und legte Papier im Drucker nach. Nach wenigen Schritten war sie schon angekommen. Ihr »Büro« glich mehr einem Bunker aus dem letzten Krieg als einem Arbeitsplatz. Blanke Betonwände, nostalgisch »schöne« Metallregale und ein Kellerfenster, das gerade genug Luft herein ließ, dass sich die Druckerausdünstungen verziehen konnten. Vorsichtig umschlängelte sie die Computerkartons auf dem Fußboden. Eigentlich hätte sie mehr als genug Zeit fürs Aufräumen gehabt. Aber so verzweifelt war sie nun auch nicht. Regina kicherte in sich hinein und bahnte sich ihren Weg zurück zum Schreibtisch, wo sie sich in den altersschwachen Sessel plumpsen ließ. Da klingelte das Telefon. Genervtes Augenrollen, Headset einklinken. Ein schneller Blick auf das Display offenbarte einen hausinternen Anruf.

»Seifer. Administration.«

»Ich hab hier ein Problem«, kam die piepsige Stimme von Mandy aus der Personalabteilung. Was man bei zwei Teilzeitis so als Abteilung bezeichnete.

Regina seufzte. »Ja, was denn?«

»Das Mailprogramm sagt, ich hätte zu viele Mails oder Anhänge gespeichert. Mein Speicherplatz sei voll.« Mandy klang fast ein wenig entrüstet.

Regina zog ungläubig eine Augenbraue nach oben.

»Jeder hier hat 2,5 Gigabyte Mailspeicherplatz. Und die reichen nicht?«

Ein kurzes Zögern auf der anderen Seite. »Nein, ich krieg doch so viele Fotos von meiner Tochter geschickt. Ich muss doch sehen, wie mein Enkel aufwächst. Wissen Sie, ich seh den doch so selten. Einmal, da ...«

Regina fuhr dazwischen: »Ja, ich weiß, Frau Brauer. Das haben Sie mir schon erzählt. Bestimmt.« Sie atmete durch. »Dann drucken Sie sich doch die Bilder aus, die Sie behalten wollen und löschen die Mails danach.«

»Die Mails löschen? Aber wenn die Bilder mal verblassen?« Mandys Tonfall klang nach Weltuntergang.

»Und wenn Sie sich diese nach Hause auf ihren privaten Computer schicken und dann hier löschen? Insbesondere, da private Mailnutzung eh nicht gestattet ist!« Dass so ein Hinweis gerade von ihr kommen musste ...

»Aber ... ich habe gar keine private Mailadresse, ich lasse mir immer alles hierher schicken.«

»Einen Computer zu Hause haben Sie doch sicherlich, oder?«

»Ja.«

»Dann speichern Sie die Fotos auf einem USB-Stick und nehmen ihn mit nach Hause. Dann löschen Sie hier die Fotos!«

»Aber dann ist doch mein privater Computer bestimmt voll!«

Regina griff nach ihrer Maus und klickte im System herum.

»So, Problem erledigt. Sie haben jetzt 2,5 Gigabyte freien Mailspeicherplatz.«

»Oh, toll! Also hab ich jetzt doppelt so viel wie vorher?«

»Nein. Nur wieder freien Speicherplatz. Ich stimme Ihnen zu: Fotos kosten einfach unglaublich viel Speicherplatz. Erinnerungen werden eh überschätzt.« Ein kurzer Moment Stille folgte. Regina kostete ihn aus und legte auf. Sie meinte fast den Schrei der Sachbearbeiterin zu hören. Was bei zwei Etagen Höhenunterschied kaum möglich war.

Sie schnappte sich ein Klebezettelchen und klebte es auf ihre To-Do-Liste für den nächsten Tag. »Mails von Mandy wiederherstellen.« Wenigstens einen Tag wollte sie die dumme, alte Kuh schwitzen lassen. Private Mails am Arbeitsplatz ... tststs ... das war ihre Domäne, die anderen sollten doch wohl bitteschön arbeiten.

Regina schnaufte laut durch. Achte Etage und ein kaputter Aufzug. Mal wieder. Aber was erwartete sie auch von diesem miesen Mietbunker im Essener Norden?! Das alles zu ihren 1,50 Meter Körpergröße und gut fünfzehn Kilo Übergewicht hinzugezählt und sie konnte dem Schicksal nur zu seinem Händchen beglückwünschen. Regina stellte den Einkaufskorb vor ihrer Wohnungstür auf den Boden und Bobo sprang zufrieden bellend heraus, schüttelte sich den Regen aus dem Fell und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch. Sie erkämpfte sich ein Lächeln zwischen zwei japsenden Atemzügen, schloss auf und Bobo jagte herein, natürlich direkt zum Futternapf. Da waren sie sich einfach zu ähnlich. Deshalb hatte sie den kleinen Klops auch so gern. Möglichst wenig Aufwand bei maximaler Futterausbeute.

Eine Stunde später lag Regina satt und träge auf der durchgelegenen Couch vor dem Fernseher. Talkshow, zapp. Musikvideo, zapp. Pokern. Sie überlegte kurz, legte die Fernbedienung zur Seite und griff erneut in die Tüte Chips Oriental. Irgendwie musste sie ihre Kilos ja auch halten. Schwere Arbeit. Sie nahm eine Handvoll. Befriedigende Art der Bewegung. Bobo hatte sich zu ihren Füßen hingelegt und sägte einen halben Wald ab.

Das Pokerspiel lief im Hintergrund. Was machte sie hier auf der Couch? Wieso fühlte sich ihr Leben so unendlich leer an? Gut, sie hatte nicht allzu viele Freunde. Aber die, die sie hatte, waren dafür enge Gefährten. Auch wenn sie sie hauptsächlich über das Internet kennengelernt hatte und persönliche Treffen selten waren. Aber waren virtuelle Freundschaften denn schlechter als reale? War Sorgenteilen etwas anderes, wenn man sie jemandem mailte anstatt sie ihm direkt zu sagen?

Regina schüttelte den Kopf, aber die düsteren Gedanken verschwanden nicht so leicht. Wie schon seit Monaten, eher sogar Jahren. Sie war mit ihren 22 Jahren noch jung. Direkt nach dem Abi hatte sie eine Ausbildung zur Systemadministratorin gemacht und sofort die Stelle beim Müller Versand bekommen. Aber den wirklichen Sinn ihres Lebens hatte sie noch nicht gefunden. Regina schaute zur Wand herüber, an der einige Urkunden hingen. Aus ihrer Zeit beim Schachclub Essen. Sie war eine vernünftige Strategin. Aber beim Schach waren nur Voll-Nerds, Menschen, die nun wirklich in ihrer eigenen Welt lebten. Da hatte sie sich nicht wohl gefühlt, auch wenn sie gut gewesen war. In einem Regal neben den Urkunden stand der Ordner mit den BWL-Unterlagen. Fernstudium. Angefangen, aber nie wirklich durchgezogen. Sie war nicht der Studientyp. Und gerade mal gut 1.000 Euro Studiengebühren waren für diese Erkenntnis doch wirklich ein Schnäppchen, oder nicht?! Sie lachte kurz auf.

Bläuliches Licht erfüllte das Appartement. Regina saß im Schneidersitz auf der Couch, ihr Laptop wärmte wie so oft die Oberschenkel. Doch sie schenkte dem keine Beachtung, da sie zu sehr in ihrem Element war. Fast unkörperlich rasten ihre Finger über die Tastatur, das Netz lag »Däumli« zu Füßen, ihrem Online-Pseudonym seit so vielen Jahren. Behände klickte sie sich durch mehrere Browserfenster des Laptops. Sie war noch unschlüssig, was heute Abend ihr Ziel sein sollte. Das Hacken hatte sie vor ein paar Jahren als Zeitvertreib angefangen, und merkte dann, dass sie dafür eine echte Begabung hatte. Eine, die sie über die einsamen Stunden am Abend rettete. Wenn wieder mal keiner ihrer paar Freunde Zeit hatte. Und auch kein Mann an ihrer Seite war. Was angesichts der vergangenen Jahre auch eine echte Ausnahmesituation gewesen wäre. Sie schnaubte kurz auf, dann klickte sie auf das Singleportal ihrer Wahl. Ihr Profil musste mal wieder upgedatet werden, aber das konnte sie auch von der Arbeit aus machen. Heute wollte sie auf die Jagd gehen. Nach Informationen, die eigentlich nicht für sie bestimmt waren. Ein paar Mausklicks später lag die Anmeldeseite vor ihr. Sie öffnete ein weiteres Fenster und ließ »Hellhound«, die von ihr geschriebene Hackingsoftware auf das Singlenetzwerk los. Datenströme zogen grün auf schwarz an ihrem Auge vorbei. Bobo schnaubte neben ihr und drehte sich zur anderen Seite. Sie griff hier und dort ein, veränderte Variablen, startete Brute-Force-Angriffe, koordinierte Abfragen und sorgte dafür, dass sie ihre Spuren verwischte. Stasi 2.0 zum Dank musste man sich ja darum 2014 einige Gedanken machen, selbst als fast legaler Computerprofi. Sie verdankten es dem Anschlag auf den Reichstag im letzten Sommer, dass Anti-Terror-Gesetze in Kraft getreten waren, die ihre früheren Ausgaben wie Papiertiger wirken ließen. »Login acquired« blinkte es vor ihr auf. Zufrieden kraulte sie Bobo hinterm Ohr, was diesen nur zu einem müden Seufzer animierte. Faul durch und durch. Mein Schatz.

Sie loggte sich mit dem von ihr aufgespürten Admin-Zugang in das Singleportal ein und griff auf die Datenbank zu. Wollen wir doch mal sehen, bei welchem Mann in meiner Nähe die Angaben im Profil zur Realität passen. Name an Name scrollte an ihr vorbei. Bankverbindungen, biographische Angaben, Querverweise zu privaten Webseiten. Regina schmiss ein weiteres Programm an, sie hatte es »Dating-Snoop« getauft. Die Software saugte sich die offiziellen Angaben der Aspiranten, führte parallel Google-Abfragen durch und verglich sie mit den Angaben, die die Männer bei ihrer Anmeldung im Singleportal gemacht hatten. Dort, in der Anmeldemaske, wo sie ihre Vorlieben angeben mussten, um ein passendes Weib präsentiert zu bekommen. Wo die wenigsten logen, denn das ergab wenig Sinn, dafür war der Anbieter hier einfach zu teuer.

Eine halbe Stunde später lagen zehn Ausdrucke vor ihr auf dem leicht zugemüllten Wohnzimmertisch. Sie gehörten zu drei Männern, die auf ihr Suchprofil passten. Genauer, als es jede »offizielle« Single-Suchmaschine gekonnt hätte. Wenn der dazugehörige Hack nicht so illegal wäre, hätte sie die Ergebnisse gut vermarkten können. Regina grinste und nahm einen Schluck Cola. Aber dann wäre es auch nur halb so aufregend. Wenigstens etwas Adrenalinträchtiges in ihrem Leben.

Regina schlurfte in die kleine Wohnküche ihres Appartements, zwei leere Chipstüten in der Hand. Sie trat gegen den Mülleimer und der aufspringende Deckel offenbarte einen überfüllten Eimer. Der Müll musste mal wieder runter. Sie stopfte die Tüten irgendwie hinein. Ein weiterer Kick, der Deckel flog zu. Morgen.

Ein leises Klingeln vom Beistelltisch. Eine Chatnachricht auf ihrem Laptop. Nach wenigen Schritten durch ihre kleine Wohnung war sie schon da, viel Fläche brauchte sie nun wirklich nicht. Das gesparte Geld steckte sie lieber in neue technische Spielereien. Wie ihren Laptop, der sie zu Kunststücken befähigte, bei denen der Staatsmacht angst und bange werden würde. Wer wollte denn da quasseln? Die Chat-Blume von Susanne leuchtete auf. Aha, also mal wieder Beziehungsstress mit Kevin? Oder schwere Shopping-Entscheidungen, die sie ihrer langjährigen Freundin erleichtern sollte? Sie schwang sich den Laptop auf die Knie und setzte sich im Schneidersitz auf die Couch, während im Hintergrund ein hässlicher Pokerspieler mit viel zu großer Sonnenbrille einen Flush hinlegte.

»Hiho, Süße. Was läuft bei dir?«

Regina grinste. Also nur Labern.

»Soylent Grün ist Menschenfleisch! *g* Grün, total grün hier. Und bei dir?«

Die Folgenachricht erschien binnen Sekunden auf dem Schirm.

»Auch. Sogar Kevin gibt Ruhe. Kein Wunder, ist ja auch mit seiner Klasse auf Klassenfahrt. Der Oberlehrer. Und bei dir? Auf der Arbeit viel zu tun?«

»Der war gut. Nein, wie immer nix los. Ich langweile mich zu Tode. Und bin irgendwie depri.«

»Och, Kleine. Warum?«

»Dasselbe wie letztes Mal. Also wie immer. Ich weiß einfach nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Soll das hier alles sein? Langweilige Arbeit, keine Geldsorgen, aber nix wirklich zu tun. Und jetzt komm mir nicht wieder mit ›Such dir ein Hobby‹, das hab ich schon ein paar Mal probiert. Und nur Date an Date kann es auch nicht wirklich sein.«

Ein kurzes Zögern. »Hör mal, ich bin deine Freundin. Und so gut vorbereitet wie du geht keiner zum Rendezvous, das weiß ich. Aber zum einen hab ich dir schon hundertmal gesagt, dass man es mit dem Infos sammeln auch übertreiben kann, auch Überraschungen sind schön. Und zum anderen: Wenn du nur die Hälfte der Datensammel-Zeit im Fitnessstudio verbringen würdest, hätten deine Dates möglicherweise mehr Erfolg.«

Regina schaute an sich runter und zuckte mit den Achseln. »Ja, ich bin keine Pamela Anderson. Schon klar. Aber war da nicht mal was mit inneren Werten und so?«

»Trotzdem. Erster Eindruck und so. Aber ich will dich nicht ärgern. Anderes Thema: Deine Langeweile. Hast du denn irgendwas, woran dein Herz hängt? Politik? Umweltschutz? Tierschutz? Irgendwas, wo du dich engagieren könntest? Sowas frisst viel Zeit, ist sinnvoll. Und man lernt quasi nebenbei nette Jungs kennen.«

Reginas Blick strich durchs Zimmer und blieb an der Kiste mit ihren Jugendklamotten hängen, die sie aus nostalgischen Gründen nicht wegwarf. Und aus Faulheit nicht in den Schrank einordnete. Sie sah die Cordhose mit dem Sonnenblumenaufnäher fast vor sich.

»War früher mal bei der Jugend von Greenpeace.«

»Und warum nicht dabei geblieben?«

»Das übliche: Jungs, wenig Zeit durch Abi und Ausbildung. Etc.«

Gut zwanzig Sekunden Pause. Dann tauchte ein Link im Chatfenster auf.

»Die Greenpeace-Gruppe in deinem Stadtteil. Sitzung ist immer dienstags. Geh doch morgen mal hin.«

Regina lachte auf. Das tat gut.

»Dein Google-Fu ist stark, junger Padawan.«

»;-)«

»Ich überlegs mir.«

»Tue das. Dann geh ich mal so langsam ins Bett, muss morgen früh raus.«

»Tschö mit ö.« Susannes Chat-Blume erlosch. Regina legte den Laptop beiseite. Greenpeace. Sie seufzte. Nun gut, dann mal wieder auf zu den Ökos. Aber wenn irgendeiner der Müslifresser sich über ihren ökologisch inkorrekten Technikwahn beschwerte, würde sie ihre Erinnerungen an die Karate-Zeit ausgraben. Noch so ein Hobby, das sie ausprobiert und zu den Akten gelegt hatte. Aber zu einem herzhaften Tritt in die Eier reichte es immer noch.

Froststurm

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