Читать книгу Froststurm - Jan-Tobias Kitzel - Страница 4

Bio-Logisch

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Eine nichtssagende Seitengasse in der Innenstadt. Schlüsseldienst, Friseur, Asialädchen. Die Straßenlaterne war hier das einzige, was etwas Leben in die Straße brachte. Niemand auf den Straßen, kein Wunder bei dem Wetter. Regina hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, um dem fiesen, warmen Nieselregen der Vorweihnachtszeit zu entkommen. Unter dem Wintermantel schwitzte sie, da sie ihn aus Gewohnheit angezogen hatte.

Wo war Hausnummer 33? Ah, neben dem kleinen Asialädchen. Das unscheinbare Schaufenster mit den Sonnenblumen. Klischeehafter ging es wohl kaum. Erinnerte sie direkt an ihre Jugenderfahrungen mit Greenpeace. Idealistische Zeit. Und völlig wirkungslos. Sie blieb stehen. Sollte sie wirklich wieder mit dieser Organisation etwas anfangen? Sie atmete tief durch. Machte einen Schritt zurück. Ballte die Faust in der Tasche. Und drückte auf die Klingel.

Es dauerte einen Moment, dann wurde der Laden erleuchtet. Eine ältere Frau im ökologisch korrekten Grobleinenoutfit kam an die Tür und lächelte fragend durch die Glasscheibe der Tür. Dann zuckte sie mit den Achseln und öffnete die Tür.

»Ja?«

»Ist heute keine Sitzung der Ortsgruppe?«

»Oh, ein neues Gesicht.« Greenpeace-in-persona machte den Weg frei, legte wie selbstverständlich den Arm um Regina und geleitete sie durch das Dritte-Welt-Lädchen in das Hinterzimmer. Die Perlenkette sandte helle Töne durch den erstaunlich großen Raum. Ein gutes Dutzend Weltverbesserer saßen auf human hergestellten Rattanstühlen, natürlich im demokratisch korrekten Stuhlkreis. Das konnte ja lustig werden. Die Runde wurde komplettiert durch einen kleinen Tisch an der Seite mit einer Mini-Stereo-Anlage, Reissnacks und stillem Wasser. Sphärische Musik bemühte sich, den Raum zu erfassen, scheiterte aber bereits an den Billig-Lautsprechern aus dem Baumarkt und quäkte vor sich hin. Der Geruch nach grünem Tee und Minzplätzchen lag in der Luft.

Regina nickte in die Runde, nahm sich einen Stuhl und reihte sich in den Stuhlkreis ein. Ein rundlicher Mittvierziger im dunkelbraunen Anzug mit hellgelber Krawatte stand auf und ging er zu Regina, schüttelte ihr die Hand. »Wir kennen uns noch nicht. Ich bin David, Leiter der Ortsgruppe. Und du bist?«

»Regina. Wollte mal wieder reinschnuppern, meine letzte GP-Sitzung ist allerdings schon ein paar Jahre her.«

»Um die Welt zu retten, ist es nie zu spät«, sagte David, lachte mit dunkler Stimme und schüttelte sich ein paar Schuppen von der Schulter. Dann setzte er sich auf einen der Stühle und eröffnete die Sitzung.

»Es freut mich, mal wieder ein neues Gesicht begrüßen zu dürfen. Und nochmal einen Dank an alle, die ihr an diesem herrlich-verregneten Tag euren Weg zu unserer Wochenrunde gefunden habt. Thema heute, wie ich ja über unseren Newsletter schon bekannt gemacht hatte, ist der sechsstreifige Ausbau der A42, der vom Landesbauministerium vor gut zwei Wochen bekannt gegeben wurde.«

Echt? Hatte sie offensichtlich verpasst. Gut, etwas mehr Staus in der Bauphase, aber danach käme sie wenigstens schneller zur Arbeit.

»Ich brauche euch allen wohl nicht zu sagen, was mit dem herrlichen Wäldchen an der Strecke passieren soll.« Im Stil eines schlechten Komikers ahmte David eine Kettensäge nach. Als er auch noch brummte wie der dazugehörige Motor, wünschte sich Regina einen Schirm, der sie vor dem Speichelregen beschützt hätte.

»Da müssen wir etwas tun.« Die Begrüßungsdame war aufgestanden und ballte die Faust.

Zustimmendes Gemurmel.

»Unterschriftenaktion in der Innenstadt? Vorbereitete Mails an die Landtagsabgeordneten?«, warf eine Studentin im viel zu weiten Norwegerpulli in die Runde.

»Klingt gut«, meinte David.

»Wie finanziert sich der Ausbau?«

Die Köpfe drehten sich zu Regina.

David schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich denke mal Landesmittel. Ist das deiner Meinung nach wichtig?«

Regina verdrehte innerlich die Augen.

»Absolut! Das klingt nicht gerade nach Portokasse, sondern eher danach, dass die Landesregierung etwas aus dem Berliner Topf dazubekommt. Vielleicht etwas aus den Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft, die nach dem Börsenvollcrash ins Leben gerufen wurden. Macht sich sicherlich gut, wenn man den Haushaltsausschuss des Bundestages mal mit ein paar Details belästigt, dass für Arbeitsplätze hier ein ganzer Wald sterben muss.«

Anerkennendes Nicken aus der Runde.

Ein Klingeln aus dem Verkaufsraum unterbrach die Runde und kurz darauf kam ein Mann in das Hinterzimmer. Regina schluckte. Nicht irgendein Mann. Der Mann. Wasser perlte von den lockigen, schulterlangen Haaren und dem kantig-markanten Gesicht. Die Züge wirkten wie gemeißelt, die Augen wach und eisblau. Eine Jeansjacke wanderte auf einen freien Stuhl. Enger, heller Pulli, ebenso körperbetonte Jeanshose. Regina nahm zügig einen Schluck Wasser. Der musste wirklich nichts verbergen. Ein muskulöser Körper zeichnete sich unter der Kleidung ab. Und ein Knackarsch. Sie grinste in sich hinein und musterte ihn genüsslich.

»Ah, Benjamin. Schön, dass du noch kommen konntest.« Eine Spur Ironie in der Stimme des Redeführers.

Der Neuankömmling nickte kurz in die Runde. Eine gewisse Abfälligkeit gegenüber David konnte er dabei kaum verbergen. Interessant.

»Und? Wie retten wir heute die Welt?« Benjamin ließ sich auf seinem Stuhl nieder.

»Die Welt ist erst nächste Woche dran.« Die letzten Worte zog David gekünstelt lang. Hier konnte sich wer wirklich nicht leiden. »Diesmal kümmern wir uns um den Ausbau der Autobahn, dem ein Wald zum Opfer fallen soll. Und Regina hatte gerade einen interessanten Ansatz offenbart.« David nickte ihr zu. Regina spürte, wie ihre Wangen erröteten, als Adonis zu ihr herüberschaute und sie nach einem kurzen, musternden Blick anlächelte.

Und dann sprach er sie auch noch direkt an!

»Was ist denn dein Plan?«

»Ich ... ich meine ... wir sollten bei den Finanzen ansetzen. Beim Geld, ja«, stotterte sie. Innerliche Ohrfeige, ihr wurde heiß und kalt. Mach dich nicht lächerlich! Du bist kein kicherndes Schulmädchen mehr!

»Ich würde vorschlagen herauszufinden, mit welchen Mitteln der Ausbau finanziert wird und die dazugehörigen Haushaltsausschüsse mit ein paar dreckigen Details über den abzuholzenden Wald zu konfrontieren.«

Ben wog den Kopf hin und her, seine nassen Locken schwangen im Takt mit. Regina lief ein Schauer den Nacken hinunter. Warum hatte sie den nicht schon früher kennengelernt?

»Könnte funktionieren. Ist mir aber noch zu lasch.«

»Zu lasch?«, platzte es aus ihr heraus. »Immer noch besser als Flugblätter verteilen oder für den Weltfrieden beten.« Ihre Stimme bebte.

Ben runzelte belustigt die Stirn.

»Na wenigstens bin ich hier nicht der Einzige, der mal etwas Pep in die Diskussionen bringt.« Er schnappte sich einen Keks vom Tisch und schob ihn sich genüsslich in den Mund.

»Ben, bitte!«, wies ihn der Ortsgruppenleiter empört zurecht. »Wir ziehen hier alle an einem Strang.«

»Tun wir das wirklich?« Ben erhob sich betont langsam.

»Meine Kumpels und ich haben mit unseren direkten Aktionen tausendmal mehr Erfolg als ihr mit euren Unterschriftenaktionen in der Innenstadt.«

»Dafür stehen wir aber auch nicht ständig mit einem Bein im Gefängnis«, murmelte die Ladenbesitzerin so laut, dass es alle hören konnten.

Ben stand auf, drehte sich zu ihr um. Für einen Moment sah es so aus, als ob er ihr eine runterhauen wollte. Die Frau duckte sich unwillkürlich weg.

Doch Ben entspannte sich von einem Moment auf den anderen und fing lauthals an zu lachen.

»Oh Mann, jetzt weiß ich wieder, warum ich mich hier ewig nicht mehr hab blicken lassen. Lächerlich.« Er lachte erneut auf. »Ihr seid so unglaublich lächerlich.« Eine schwunghafte Geste in die Runde. »Meint ihr wirklich, ihr würdet irgendetwas bewegen? Nein. Oh nein. Ihr habt es euch bloß so gemütlich gemacht im Konsumtempel Deutschland, dass ihr keine Lust habt, irgendetwas zu riskieren. Erbärmlich.«

Mit diesen Worten drehte er sich um, schnappte sich seine immer noch nasse Jacke vom Stuhl und ging zum Ausgang. Er hatte ihn fast erreicht, da drehte er sich noch einmal um. Über das empörte Gemurmel hinweg sah er Regina direkt an und streckte seine Hand aus.

»Willst du wirklich etwas bewegen? Oder hier bei der Müslifraktion Unterschriftenzettel vorbereiten?«

Ein Angebot, dass man …

Schmerzen. Ein Wummern im Schädel. Irgendetwas Kühles auf seiner Stirn. Hochgelegte Beine. Sebastian öffnete langsam die Augen. Ein ihm unbekannter Raum. Ein Büro. Schwerer Schreibtisch, Aktenschränke. Schäbiger Teppich. Und eine junge Frau auf einem Stuhl, die ihn belustigt ansah. Ihre spöttisch hochgezogenen Augenbrauen harmonierten gut mit ihrem feuerroten, langen Haar über dem schwarzen Business-Kostüm.

»Starker Auftritt, Herr Born. Etwas zu theatralisch für meinen Geschmack und es hätte genauer ausformuliert sein können, insbesondere weniger umgangssprachlich, um auch in den Elfenbeintürmen gehört zu werden. Aber nichtsdestotrotz eindrucksvoll.« Sie stand auf, kam langsam auf ihn zu, füllte sein Blickfeld aus. Unbewusst glitten seine Augen über ihren vom Kostüm dezent betonten Körper. Netter Anblick. Sie schien es gemerkt zu haben und lachte auf.

»Naja, so schlecht kann es Ihnen offenbar gar nicht gehen.«

»Ich ... ich wollte nur«, haspelte er, was sie noch weiter belustigte.

»Lassen Sie es gut sein. In Ihrem Zustand verzeihe ich Ihnen fast alles.«

»Wo bin ich? Und wer sind Sie?« Er richtete sich langsam auf, was die Schmerzen hinter der Stirn rapide verschlimmerte und ihm ein Stöhnen entlockte.

»Im Büro eines Bundestagsabgeordneten. Nachdem Sie umgekippt sind, wollte ich Sie ungern auf dem Boden liegen lassen. Auch wenn Sie es nach Meinung einiger Konferenzteilnehmer verdient gehabt hätten. Mindestens.« Sie zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche und gab sie ihm in die Hand. Ihre Finger berührten seine Handinnenfläche. Warme, weiche Haut. Als sie sich zu ihm bückte, wehte etwas Luft zu ihm. Ihre. Der Duft nach Kirschen, süßlich, ohne schwer zu sein.

»Mein Name und die Kontaktdaten stehen hier drauf. Tun Sie mir bitte einen Gefallen, sobald es Ihnen wieder besser geht. Rufen Sie mich an.«

Hoffnung stieg in ihm auf, um sofort wieder zunichte gemacht zu werden.

»Ich bin interessiert an Ihren Forschungsergebnissen, die Sie zu dieser Rede animiert haben. Und nicht nur ich.«

Sie ging zur Tür, schaute noch einmal über die Schulter.

»Warten Sie nicht zu lange mit Ihrem Anruf.«

Und ging.

Sebastian ließ sich wieder auf das Sofa sinken, machte die Augen zu. Eine seltsame Ruhe hatte ihn erfasst. Er hatte seine Rede gehalten. Die seine Karriere beendet haben dürfte, wenn er sich nicht täuschte. Ein gewisser Stolz kam in ihm hoch. Er hatte zwar noch keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Aber er hatte das Richtige getan. Sebastian machte sich keine falschen Illusionen. Seine Worte würden keine allzu große Wirkung entfalten. Es war eine nette Anekdote für die Konferenzteilnehmer, nicht mehr. Aber etwas hatte sie bewirkt: Er konnte sich selbst wieder ins Gesicht sehen. Das erste Mal nach langer Zeit, in der er an seinen Möglichkeiten im Forschungsministerium fast verzweifelt war, war er mit sich selbst im Reinen. Und arbeitslos.

Die Tasse Glühwein in der Hand spendete Wärme. Sinnlos bei zwanzig Grad im Schatten. Aber in der Adventszeit war das Getränk in seiner Familie immer nette Tradition gewesen. Eine Möglichkeit, sich gesellschaftlich anerkannt einen hinter die Binde zu kippen und albern zu kichern. Sogar für seine sonst nur zu ernste Mutter. Sebastian schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken. Und klappte den Laptop auf. Eine Dachterrassensitzung im Winter. T-Shirt. Glühwein. Verrückte Welt. Er stöpselte das Kabel des Headsets ein, rief die Dateien mit seinen Forschungsergebnissen auf und tätigte den Anruf, vor dem er sich nun seit zwei Tagen beharrlich drückte. Es klingelte. Ein Montagnachmittag. Vorweihnachtstag. Nichtsdestotrotz hatten die Entlassungspapiere noch am selben Morgen in seinem Briefkasten gelegen. Man hatte sich eines Boten bedient, um sicherzugehen, dass er die »guten Nachrichten« noch rechtzeitig vor der Bescherung erhielt. Seine langen Jahre der harten Arbeit im Ministerium hatten nicht gereicht, seine Rede zu egalisieren. Er war raus. Was ihm diesen Anruf erleichterte. Die Schiffe am Strand brannten. Nun konnte er auch in den unbekannten Dschungel hineinmarschieren.

»Ja.« Ihre samtweiche, undeutbare Stimme.

»Born.«

»Ach, Herr Born. Schön von Ihnen zu hören. Endlich.«

Sebastian lächelte.

»Hätte ich am Wochenende anrufen sollen? Kurz vor Weihnachten?«

»Ich hatte darauf gehofft, ja. Und, sind die Papiere schon angekommen?«

»Woher...?«

»Ich bitte Sie, Herr Born. Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz. Oder meine Kontakte.«

Er nahm die Visitenkarte vom Terrassentisch. Melanie Griesinger. Eine Nummer. Eine nichtssagende Emailadresse. Kein Titel, keine Berufsbezeichnung. Eine schlichte, bei ihren Worten aber eher beeindruckende Geste.

»Gut, hätten wir das also auch geklärt. Also, wie kann ich der unbekannten Schönheit helfen?«

Sie lachte. Ein angenehmes Geräusch.

»Ein echter Charmeur der alten Schule. Gefällt mir. Seien Sie nur nicht so kess zu meinem Boss.«

»Ihr Boss? Ich dachte, Sie seien Ihre eigene Chefin.«

»So in der Art. Dennoch habe auch ich eine Hand, die mich füttert. Es kommen harte Zeiten auf uns zu, Herr Born. Da sollte man sich seinen Futterspender warm halten.«

»Weiß Ihr Chef, wie Sie über ihn reden?«

»Alles andere würde mich verwundern. Aber lassen Sie uns zur Sache kommen. Sie haben mit Ihrer Rede Aufsehen erregt. Bei den richtigen Leuten. Wenn Ihre Forschungsergebnisse jetzt noch aussagekräftig sind und Ihre Expertise untermauern, hätte ich einen Job für Sie.«

Unterbewusst wischte sich Sebastian die feucht gewordenen Hände an der Hose ab.

»Für wen würde ich dann arbeiten?«

»Tststs, immer einen Schritt nach dem anderen. Versorgen Sie mich erst mal mit Ihren Dateien. Dann sehen wir weiter.«

»Ich kenne Sie doch gar nicht. Warum sollte ich Ihnen das anvertrauen, woran ich Jahre gearbeitet habe?«

Eine kurze Pause in der Leitung.

»Offensichtlich ist meine Anfrage nicht nur ein Test Ihres professionellen Könnens, Herr Born. Sondern auch Ihrer Menschenkenntnis. Es ist Ihre Entscheidung. Meine Mailadresse haben Sie ja. Ich erwarte Ihre Dateien. Andernfalls werde ich das ebenfalls akzeptieren und Sie nicht erneut kontaktieren. Es ist Ihre Entscheidung.« Dann legte Sie ohne jede Verabschiedung auf.

Sebastian nahm einen Schluck seines nun nur noch lauwarmen Glühweins. Er hatte noch nicht genug getrunken, um ohne Nachzudenken auf den Senden-Knopf zu drücken. Er kannte die Frau nicht, wusste nicht, ob seine Forschungsergebnisse bei ihr in guten Händen waren.

»Sei kein Idiot«, murmelte er vor sich hin. Er war arbeitslos, hatte seinen Ruf in der Szene für Jahre verbrannt. Und seine Dateien waren kaum zu missbrauchen. Wetterforschungen, Klimavoraussagen. Nichts für aufrüstungswillige Dritte-Welt-Diktatoren. Er ließ seinen Blick über das Umland schweifen, von der Dachterrasse seiner Eigentumswohnung hatte man einen netten Blick über sein Berliner Wohnviertel. Nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Lage. Er musste Arbeit haben, um die Wohnung abbezahlen zu können. Aber er wollte sich nichts vormachen. Mehr als das Geld reizte ihn, herauszufinden, für wen er bei Frau Giesinger arbeiten könnte. Und das Wiedersehen mit ihr. Er lächelte, nahm einen weiteren Schluck, zögerte einen Moment. Dann sendete er die Dateien.

Der Duft nach Kaffee und Kuchen lag in der Luft, untermalt von leiser Jazz-Musik und dem vielstimmigen Gemurmel der Starbucks-Besucher. Sebastian nahm einen kräftigen Schluck seines Kaffees – nein, er korrigierte sich, seines »Grande Tall Latte Irgendwas mit Vanille« – und genoss, wie die warme Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann.

»Kaum zu glauben, oder?« Seine Mutter sah ihn erwartungsfroh an und Sebastian bemühte sich, schnell zu nicken. Mist, nicht aufgepasst.

Sie lächelte ihm zu, beugte sich über den kleinen Couchtisch, der zwischen ihren Ledersesseln stand und streichelte ihm über die Wange. Sebastian musste sich bemühen, die Hand nicht wegzustoßen. Nicht in der Öffentlichkeit!

»Was hast du eigentlich mit deinen Haaren gemacht? Du hattest doch so schöne Locken, wenn du sie halblang trägst. Ist kurz jetzt angesagt im Ministerium?«

Sebastian schüttelte den Kopf. Die »Frisur«, wenn man die paar Millimeter mit der Maschine geschnitten so überhaupt nennen wollte, war wirklich gewöhnungsbedürftig. Aber sein Ding. »Nein, ist morgens einfach nur schneller.« Ein weiterer Schluck Kaffee gesellte sich zu seinen Brüdern und Schwestern im Magen. »Du weißt ja.«

»Jaja, du hast keine Lust auf lange Bad-Sessions wie deine Schwester. Wann hast du eigentlich das letzte Mal mit ihr telefoniert?« Seine Mutter zögerte einen Moment und ein Ausdruck der Sorge schlich sich auf ihr bereits von einigen Altersfalten gezeichnetes Anfang-Sechziger-Gesicht. Wenigstens hatte sie die Haare heute vernünftig und nicht wieder diesen Topfschnitt mit »angesagten« lila Strähnen wie beim letzten Mal, als sie zusammengesessen hatten. Wie lang war das her? Ein halbes Jahr? Immer noch zu kurz. Nur in seinen wirklich guten Momenten konnte er sie an den Füßen haben. Ihre überfürsorgliche Art, ihre überschwängliche Freude über Kleinigkeiten. Sebastian krampfte sich ein Lächeln zurecht, das selbst ihm künstlich vorkam.

»Letzte Woche, Mum.« Was sogar der Wahrheit entsprach. Mit Marie konnte man deutlich vernünftiger als mit Mutter sprechen. Beide hatten sich früh von den Eltern emotional abgenabelt. Bei dem ständigen Kleinkrieg im Elternhaus war das die einzige Methode gewesen, nicht allzu emotional vernarbt durchs Leben zu gehen. Dennoch hatte er manchmal das Gefühl, dies nicht vollständig genug getan zu haben. Oder zu spät. Manche Wunden brauchten lange, um zu verheilen.

»Letzte Woche«, wiederholte er und seine Mutter beugte sich vor und tätschelte sein Knie.

»Das ist schön. Ihr müsst Kontakt halten. Auch wenn es jetzt ein paar Kilometer sind, nach ihrem Umzug nach München!«

»Ja, Mum, keine Sorge.« Wie kam er bloß aus der Angelegenheit halbwegs zügig raus? Was hatte ihn geritten, diesem Kaffeeplausch zuzustimmen? Ach ja, die unausgesprochene Androhung, ihm sonst täglich mit Emails oder Anrufen auf dem Anrufbeantworter ein schlechtes Gewissen einzujagen. Sebastian unterdrückte ein Seufzen und wischte sich die schwitzigen Handinnenflächen an der Jeans ab.

»Und wie läuft es auf der Arbeit?«

Sebastian hielt sich am Pappbecher fest und genoss die Hitze, die sich scharf in seine Haut brannte. Er zögerte den Moment des Abstellens hinaus, immer weiter und stellte den Becher erst weg, als seine Hände zu zittern begannen. Er sog den Schmerz auf, leitete ihn in sein Innerstes, hielt sich daran fest. Sein treuester Begleiter. Der, der ihm half, klar zu denken in bestimmten Momenten.

»Mach dir keine Sorgen. Läuft.« Dass er arbeitslos war, hatte er ihr natürlich nicht erzählt. Auf ihr Mitgefühl konnte er verzichten.

Das Klingeln eines altmodischen Telefons. Er sah den Apparat aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts beinahe vor sich und musste grinsen. Nichts passte weniger zu einem modernen Handy, darum hatte er den Ton gewählt. Zügig zog er das Mobiltelefon aus der Hemdtasche und nahm den Anruf an, was ihm einen missbilligenden Blick seiner Mutter einbrachte.

»Born.«

»Griesinger hier, Herr Born. Schön, dass ich Sie erreiche.«

Sebastian lächelte erneut. Der Tag endete vielleicht doch nicht so beschissen, wie er bisher gelaufen war.

»Für Sie jederzeit.«

Ein freundliches Lachen auf der anderen Seite der Leitung schickte ein warmes Kribbeln in Sebastians Magen.

»Immer noch ein Charmeur. Ich mag Menschen, die sich vom Schicksal nicht entmutigen lassen. Wussten Sie, dass auf lange Sicht das Karma alles ausgleicht?«

Nun war es an Sebastian, ein Lachen durch den Äther zu schicken, auch wenn es vielleicht etwas zynischer ausfiel, als gewünscht.

»Ist dem so?«

»Auf jeden Fall. Ich werde es Ihnen beweisen. Hätten Sie heute Abend Zeit für ein Treffen? Nur ein Wort der Warnung vorab. Es wird ein Gespräch über Ihre Forschungen. Wenn auch bei einem Glas Wein.«

Da musste er nicht lange überlegen.

»Jederzeit gern, Frau Griesinger. Jederzeit gern.«

»Wunderbar.« Ehrliche Freude lag in ihrer Stimme. »Dann sagen wir heute Abend um acht bei Ramayana, einem kleinen Inder in der Berghofstraße. Einverstanden?«

»Wie ich bereits sagte: Für Sie jederzeit gern.«

»Das fasse ich als ein Ja auf. Bis dann«, sagte sie und legte auf.

Sebastian lächelte, steckte das Handy voller Genugtuung weg und verabschiedete sich knapp bei seiner Mutter, der er im Gegenzug versprechen musste, sich nächste Woche zu melden. Ein kleines Opfer für einen zügigen Abgang.

Als er vor die Tür des Starbucks trat und die warme Mittagsluft der Berliner Innenstadt ihn umgab, atmete er durch. Der Tag schickte sich ja doch noch an, angenehm zu werden.

Froststurm

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