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Wissenschaftlicher Vorsprung

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Eine Melange unterschiedlichster Gerüche schlug ihm entgegen, als Sebastian überpünktlich das indische Restaurant betrat. Es lag idyllisch in einer kleinen Seitengasse in einem Wohngebiet. Gegenüber ein fast winziger Park mitsamt Kinderspielplatz und ausreichenden Parkgelegenheiten vor der Tür. Zusammen mit dem multikulturellen Sprachenmischmasch aus den geöffneten Fenstern der Wohnhäuser – bei den Temperaturen derzeit kein Wunder – passte der Inder hier perfekt hin. Als er die ersten Schritte in das mit gedämpftem Licht ausgeleuchtete Innere machte, fühlte er sich gleich wohl. Neben den Gerüchen war es vor allem die geringe Anzahl an Tischen, die eine fast familiäre Atmosphäre aufkommen ließ. Und ein lächelnder Kellner war auch schon auf dem Weg, ein kleiner Inder mit schwarzer Hose und weißem Hemd. Also quasi ein Archetyp seiner selbst. Sebastian lächelte. Der Abend konnte wirklich noch etwas werden.

»Willkommen im Ramayana. Tisch für eine Person?« Indischer Singsang.

Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich bin verabredet. Die Dame wird auf ›Griesinger‹ reserviert haben.«

Der Inder lächelte in einem fort weiter. »Aber natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Der Kellner drehte sich um und strafte den Begriff »folgen« Lügen, als er nur wenige Schritte später schon auf eine Sitznische deutete. Kein Wunder. Wenn er nur zehn Schritte weitergelaufen wäre, hätte er sich schon mit einer Kettensäge durch die hölzerne Bar des wirklich winzigen Etablissements sägen müssen, um voranzukommen.

»Frau Griesinger hat übrigens vorhin angerufen. Wir sollen Ihnen ausrichten, sie komme ein paar Minuten später.« Der indische Akzent unterlegte die Worte wohlklingend. Sebastian nickte, woraufhin der Kellner hinter der Bar verschwand.

Sebastian ließ den Blick schweifen. Teppiche mit gestickten Tigermotiven an den Wänden, bronzene Skulpturen von freundlich lächelnden Gottheiten – oder was auch immer die Fantasiefiguren darstellen sollten – in Nischen an den Wänden. Er zählte zehn Tische. So ein kleines Restaurant konnte nur als Familienbetrieb gutgehen, sonst würden die Lohnkosten alles auffressen. Er schüttelte den Kopf. Hör endlich auf zu analysieren und genieß den Abend.

Bis auf einen älteren Mann, der in eine Zeitung vertieft war, vor sich einen leergegessenen Teller und eine volle Tasse eines dampfenden Getränks und den Kellner hinter der Bar war der Raum leer. Aus der Küchendurchreiche hinter der Theke hörte man es klappern, die übrige Geräuschkulisse wurde durch leise, orientalische Musik ohne Gesang gebildet. Sebastian entspannte sich, nur um kurz darauf das Geräusch der Türschelle hinter sich zu hören. Weiche Schritte, ein leichter süßlicher Geruch nach Kirschen und Sommer, dann stand Frau Griesinger auch schon neben ihm, woraufhin er sich erhob und ihr lächelnd die Hand schüttelte.

»Entschuldigen Sie die Verspätung. Wurde Ihnen mein Anruf ausgerichtet? Die Ausfallstraße war heute wieder die Hölle.«

Er bemühte sich, nicht auf die Uhr zu sehen, auch wenn er sicher war, dass sie Punkt acht durch die Tür gekommen war. Noch ein Mensch, der »exakt pünktlich« eigentlich schon als »zu spät« einstufte. Das Lächeln grub sich noch tiefer in sein Gesicht.

»Ich bitte Sie, ich habe zu danken, dass ich Sie schon so bald wiedersehen darf.«

Ein kurzes, keckes Lachen. Dann setzte sie sich ihm gegenüber.

»Ich kann mich nur wiederholen: Sie sind durch und durch ein Charmeur.«

Wärme breitete sich in Sebastians Magengegend aus. Ihre feuerroten Haare hatte sie zu einer netten Hochsteckfrisur geformt, die angenehm mit ihrem schwarzen Blazer über dem Hosenanzug harmonierten. Etwas förmlich für ein Essen, aber es stand ihr. Manche Menschen sahen in Business-Kleidung einfach am besten aus. Und mit ihrer niedlichen Stupsnase im zierlichen Gesicht nahm sie dem seriösen Outfit die Schärfe.

Dann stand der Kellner auch schon neben ihnen und reichte die Karte, die Frau Griesinger merkwürdigerweise direkt zurückgab.

»Nicht nötig, Apu. Ich nehme wie immer das Menü B3.«

Sebastian hob eine Augenbraue und schloss die Karte ebenfalls.

»Empfehlenswert?«, fragte er in Richtung der Dame.

»Absolut.«

Daraufhin gab er ebenfalls die Karte zurück.

»Dann nehme ich das Gleiche.«

Der Inder grinste. »Eine gute Wahl, die Dame, der Herr.«

Als der Kellner ging, um die ebenfalls bestellten Getränke zu machen, fragte Sebastian: »Auf was habe ich mich da eigentlich gerade eingelassen?«

»Oh, nur auf ein höllisch scharfes Ofengericht mit Hühnchen, Kartoffeln und Gemüse. Davor etwas indisches Fladenbrot und nachher gebackene Mango mit Honig und Sesam.« Ihr Gesicht zeigte, dass ihr die Situation Spaß machte.

»Scharf?«

»Indisch scharf. Also: Ja. Aber nicht sehr lange, wenn Sie Fladenbrot dazu essen.«

Wie aus dem Nichts tauchte der Kellner wieder neben ihnen auf und brachte das jeweils bestellte Mineralwasser.

Frau Griesinger hob ihr Glas an.

»Auch wenn das nicht ganz stilecht ist, mit Wasser anzustoßen, so möchte ich doch sagen, dass ich mich auf diesen Abend sehr gefreut habe.«

Die Wärme in Sebastians Bauchgegend zeigte sich in einem seligen Lächeln.

»Vielen Dank. Ich ebenfalls.«

Der Abend begann.

»Das ist nicht ihr Ernst«, fragte Frau Griesinger mit gespielter Empörung und wedelte mit ihrem Zeigefinger vor Sebastians Gesicht herum.

»Mein vollster! Er hatte meinen Witz derart lustig gefunden, dass er sich beim Lachen an der Milch verschluckt hat und die Reste auf die frisch ausgedruckten Forschungsunterlagen ausgehustet hat. Den Blick des wissenschaftlichen Leiters können Sie sich sicherlich vorstellen.« Er grinste.

»Was müssen Sie ihm auch mitten in einem Experiment einen Witz erzählen?«

Sebastian grinste weiter und zuckte mit den Achseln.

Frau Griesinger nahm einen Schluck ihres Weins, auf den sie nach dem Wasser gewechselt war.

Dann zwinkerte sie ihm zu. »Also gut, dann wollen wir mal. Ich habe Sie – neben Ihrem Charme – ja auch eingeladen, um über Ihre Forschungen zu sprechen.«

Seine Mundwinkel waren wohl etwas zu schnell nach unten gerutscht, denn sie hob überrascht die Augenbrauen. »Das hatte ich Ihnen am Telefon doch gesagt, oder nicht?«

Sebastian beeilte sich, ein »Natürlich!« zu entgegnen und das Lächeln auf sein Gesicht zurück zu bringen, aber es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Er war derart in der perfekten Atmosphäre des Abends aufgegangen, dass er den Charakter des Treffens im Geiste in Richtung eines Rendezvous verändert hatte. Sie offensichtlich nicht.

Frau Griesinger zögerte einen Moment, dann erschien ein schelmisches Lächeln in ihrem Gesicht.

»Machen wir einen Deal! Sie lassen mich an ihren wissenschaftlichen Gedanken teilhaben, dafür gehen wir zum Du über.« Sie nahm einen Schluck Wein und schaute ihn fragend an. »Einverstanden?«

Nun war es an Sebastian, das Lächeln zu erwidern und das warme Gefühl in der Magengegend verstärkte sich erneut und es kam nicht nur vom schweren Rotwein.

»Sehr gerne. Sebastian.«

»Melanie.«

Sie hoben ihre Gläser und stießen an.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens holte Melanie übertrieben deutlich Luft.

»Also.« Sie zog das Wort in die Länge. »In deinen Unterlagen behauptest du, dass der Klimawandel zwar vom Menschen gemacht, aber auch von diesem aufhaltbar ist. Glaubst du wirklich, dass er ›aufgehalten‹ werden kann? Nicht nur ›verlangsamt‹ wie die meisten Wissenschaftler glauben? Also das 2-Grad-Ziel durch die üblichen Programme, wie bessere Filter in den Fabriken, sparsamere PKW und so weiter?«

Sebastian nickte und war in seinem Element.

»Ja, absolut. Meine Forschungen haben gezeigt, dass diverse Einflussfaktoren – die ich ja auch in den Unterlagen genannt habe – dazu genutzt werden könnten, eine Gegenbewegung in der klimatischen Entwicklungsrichtung auszuformen. Oder, um es simpler auszudrücken: Der Erwärmung eine Abkühlung gleicher Intensität entgegenzusetzen, damit beide sich aufheben und der Status Quo gewahrt wird.« Er blickte hinter sich zur Tür, durch die Scheibe auf die Straße, wo zu dieser Zeit die Passanten nur leicht bekleidet schlenderten. »Oder, wenn es nach mir geht, das Wetter von vor zehn Jahren zurückgebracht wird. Wer nicht völlig blind ist, wird zugeben müssen, dass es in den letzten Jahren unentwegt zu warm war. Und die Daten zeigen, dass das erst der Anfang ist. Wenn nicht schleunigst gehandelt wird, ist es bald zu spät und die Erwärmung hat einen kritischen Moment erreicht, so dass so viel Eis an den Polkappen geschmolzen ist, dass wir zumindest diesen Punkt nicht mehr aufhalten können. Dabei ist es mir gleich, ob das auf der Basis meiner Empfehlungen oder der von anderen Wissenschaftlern passiert, die wie ich nicht nur die Hände in den Schoss legen und ›Empfehlungen‹ aussprechen wollen.« Sebastian grinste. »Wobei ich einen Aktionsplan auf der Basis meiner Daten natürlich vorziehen würde.«

Die Lachfalten in Melanies Gesicht vertieften sich.

»Natürlich.« Dann setzte sie hinzu: »Man merkt, dass diese Idee dein Ding ist. Mit welchem Nachdruck du von deinen Vorstellungen sprichst, ehrt dich. Ein Wissenschaftler mit Herz. Und Verstand. Die Fächerkombination aus Biologie und Meteorologie hebt dich eh aus der Masse ab. Jemand, der ebenso Ahnung vom Wetter hat als auch davon, was dies letztlich für alle lebenden Wesen bedeutet. Respekt!«

Das Blut schoss in Sebastians Wangen.

»Was wäre deiner Meinung nach denn der nächste, notwendige Schritt?«

Ohne zu zögern antwortete Sebastian voller Überzeugung: »Eine weltweite Forschungsallianz, die sich abseits der populären Empfehlungen ganz einer schnellen Lösung verschreibt. Egal, wie abstrus diese auf den ersten Blick auch lauten mag oder welche Mittel sie erfordert. Denn eines muss klar sein. Die Kosten dieser Forschungen können gar nicht so hoch sein wie die wirtschaftlichen Einbußen, die alle Länder erleiden werden, wenn es zur Klimakatastrophe kommt. Und das ist ein Fakt, keine Möglichkeit.«

Merkwürdigerweise schaute Melanie plötzlich zur Seite und Sebastian fiel auf, dass der alte Mann immer noch da saß, mittlerweile mit der x-ten Tasse Kaffee und nun ohne Zeitung. Und dann nickte sie dem Gast auch noch zu, der sich darauf erhob und die paar Schritte zu ihrem Tisch herüberkam.

Altersfurchen in einem gebräunten Endsechziger-Gesicht, schlohweiße Haare, zum Zopf gebunden, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh, konterkariert von einem nichtssagenden schwarzen Anzug mitsamt weißem Hemd, komplettiert durch einfache schwarze Lederschuhe. Der erste Eindruck war der eines Mannes, der sich im Alter nicht entscheiden konnte, ob er Altersgediegenheit oder den dritten Frühling ausstrahlen wollte. Dann lächelte der Mann und sein strahlend weißes Gebiss lieferte sich einen bizarren Farbwettstreit mit der unnatürlich gebräunten Haut.

»Ja?« Sebastian weigerte sich aufzustehen und schaute den Ankömmling von der Sitzbank aus an. Sein Herz machte einen irrationalen Satz, als der sich auch noch bückte, um Melanie einen Begrüßungskuss auf die Wange zu hauchen. Dann wandte sich der Alte ihm zu.

»Gestatten, Weihhausen. Alfred Weihhausen«, stellte er sich mit einer Bassstimme vor, die einem Soulsänger zur Ehre gereicht hätte. Die Hautfarbe hatte er jedenfalls, wenn auch deutlich künstlicher.

Sebastians Manieren griffen und er stand auf, schüttelte seinem Gegenüber die Hand.

»Sebastian Born.« Dann setzte er hinzu: »Darf ich fragen, warum Sie sich zu unserem Essen gesellen?«

»Sie dürfen, Herr Born, Sie dürfen.« Weihhausen zog sich einen Stuhl vom Nachbartisch herüber und setzte sich mitten in den Gang, an den Kopf des Nischentisches.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen die Möglichkeit verschaffen könnte, all das zu verwirklichen, wovon Sie Frau Griesinger heute Abend so euphorisch berichtet haben?«

Sebastian legte unwillkürlich den Kopf leicht schief, wie er es immer tat, wenn er etwas Unglaubwürdiges präsentiert bekam.

»Natürlich. Sicher.« Die Ironie tropfte förmlich auf den Tisch.

Weihhausen lachte laut auf.

»Na wenigstens sind Sie ehrlich. Und unter uns, ich würde mir auch nicht einfach so glauben.« Dann wurde er schlagartig ernst, seine Augen verengten sich. »Aber lassen Sie mich eines klarstellen. Ich meine das absolut ernst. Todernst.«

Sebastian schluckte und schaute zu Melanie herüber, die sich mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck zurückgelehnt hatte und ihm zunickte. Er war am Zug, es war allein sein Spiel.

»Okay, dann erzählen Sie mir mal so viele Details, dass ich Ihnen überhaupt Glauben schenken kann.«

Sein Gegenüber runzelte die Stirn, entschloss sich dann aber doch, zu sprechen. »Also. Als Vorgesetzter von Frau Griesinger spreche ich für ein internationales Forschungskonsortium, das unter der Flagge der UN nach Mitteln und Wegen forscht, die globale Erwärmung aufzuhalten.«

Sebastian konnte nicht anders, er schlug mit der Hand auf den Tisch und sein lautes Lachen übertönte jegliche andere Geräusche im Restaurant.

»Die UN?« Er hielt sich den Bauch vor Lachen. »Dieser Bürokratenverein, der selbst über die Farbe der Büroklammern Einstimmigkeit erzielen muss?«

»Nun, drücken wir es so aus, Herr Born. Es gibt nicht ›die UN‹. Es gibt verschiedene Ländercliquen, die mal mehr, mal weniger gut zusammenarbeiten. Und eine sehr einflussreiche Länderclique hat sich entschieden, Nägel mit Köpfen zu machen.«

Sebastian beugte sich nach vorne. »Und die Finanzierung?«

Es blitzte voller Freude in den Augen des alten Mannes. »Ist gesichert. Glauben Sie mir, die UN hat schwarze Kassen, die ausreichend gefüllt sind, um ein derartiges Projekt durchzuziehen.«

»Über welche Anlagen verfügen Sie?«

»Wir sind gerade dabei, die erste gemeinsame Anlage fertigzustellen. Wir haben uns absichtlich dafür entschieden, eine neue, ganz nach den Wünschen der Forscher aus dem Boden zu stampfen, anstatt auf bestehenden Strukturen aufzusetzen. Wir versammeln nur die Besten und die Engagiertesten.« Er machte eine kurze Pause. »Daher möchten wir auch Sie an Bord haben.«

Sebastian lehnte sich zurück, es arbeitete hinter der Stirn. Das klang zu gut, um wahr zu sein. Wenn man einen Forscher fragte, was bei Forschungsmöglichkeiten sein feuchtester Traum wäre, würde er nicht viel anders klingen. Unbegrenzte Mittel, internationale Experten, neuestes Equipment in einer Anlage, die neu entworfen wurde – perfekt. Zu perfekt.

Er wandte sich Melanie zu.

»Ganz ehrlich? Ich möchte euch glauben. Absolut. Es wäre mir eine Ehre, bei einem solchen Projekt mitmachen zu dürfen. Aber es klingt alles zu gut, zu glatt. Ich kann das nicht wirklich glauben.«

Weihhausen nickte.

»Ihr gutes Recht, Herr Born, Ihr gutes Recht. Aber bei allem Respekt vor Ihrem Sachverstand in Ihrem Fachgebiet – mit Politik und insbesondere den Möglichkeiten der UN kennen Sie sich wohl kaum so gut aus wie ich. Und ich sage Ihnen, das von mir Skizzierte ist nicht nur möglich, es wird gerade Realität.«

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen keiner etwas sagte. Das Brodeln einer Espressomaschine im Hintergrund dominierte die Szenerie.

Dann beugte sich Weihhausen vor. »Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Begleiten Sie mich zu unserer neuen Forschungsanlage und schauen Sie sich dort unser Projekt live vor Ort an. Wenn Sie dann dazustoßen wollen, würden wir uns ... würde ich mich sehr darüber freuen. Und wenn nicht, müssen Sie mir nur versprechen, diese Unterhaltung hier und alle späteren Informationen geheim zu halten.« Eine gebräunte Hand streckte sich Sebastian entgegen. »Also? Nehmen Sie diesen Deal an?«

Sebastian fummelte unwillkürlich an dem großen, schweren Kopfhörer herum, der seine Ohren vor dem Hubschrauberlärm schützen sollte. Unter ihnen zog ein dänisches Waldgebiet dahin und in der Ferne kam eine Kleinstadt in Sicht. Melanie neben ihm drehte sich zu ihm und zeigte durch das Seitenfenster auf die Häuseransammlung.

»Skagen. Nur ein paar tausend Menschen wohnen dort. Aber man hat von hier gute Verkehrsanbindungen, insbesondere per Schiff. Und hier wird wohl keiner eine solche Anlage suchen, daher haben wir uns für diesen Ort entschieden.« Ihre Worte kamen aus den Kopfhörern, ohne wären sie sicherlich schon lange taub.

Sebastian nickte und konzentrierte sich wieder auf die Landschaft. Die UN hatte ihm kaum Zeit zum Packen gegeben, alles musste wahnsinnig schnell gehen. Eine Verschwiegenheitserklärung mit ruinöser Vertragsstrafe hatte er noch im Restaurant unterzeichnen müssen. Dann war er schnell nach Hause gefahren, um Klamotten einzusammeln und jemanden für die ungewisse Zeit zu finden, der mal nach der Wohnung sah. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Sebastian atmete durch. Jetzt, diese Momente im Hubschrauber waren das erste Mal in den letzten zwei Tagen, dass er wieder durchatmen konnte. Er schaute hinunter auf die ruhig daliegenden Wälder, die wie ein dunkelgrüner Teppich das Land bedeckten, nur hier und da unterbrochen von Landstraßen. In der Ferne sah man das Meer und die schroffen Felsküsten, die mehr an Cornwall als an Dänemark erinnerten. Ihre Maschine gewann noch etwas an Höhe und Skagen, das gerade unter ihnen vorbeizog, wurde immer kleiner. Hinter der Stadt ließ ihr schweigsamer Pilot den Hubschrauber wieder sinken und sie flogen immer weiter Richtung Meer. Sebastian beugte sich vor und schaute an der Schulter des Piloten vorbei auf die Instrumente. Richtung Nordwest. Er zog seinen PDA heraus, blendete eine Karte des Gebiets ein und schaute, was ungefähr ihr Ziel sein konnte. Ein gespielt empörtes »tsts« aus seinem Kopfhörer unterbrach seine Gedanken. Melanie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Mr. Holmes, wenn Sie gestatten.« Mit diesen Worten nahm sie seinen digitalen Assistenten und kringelte etwas auf der Karte ein, bevor sie ihm das Gerät zurückgab. Ein roter Punkt war auf der Karte erschienen. Lag das nicht im Meer? Er zoomte heran und die Satellitenbilder flogen auf dem kleinen Display näher. Nein, es war eine Felsenspitze, direkt an der Küste.

Melanie tippte ihm auf die Schulter und zeigte nach vorne.

Sebastian steckte das Gerät weg und errötete leicht. Er war in die Analyse der Situation vertieft gewesen, dabei hätte es schon gereicht, aus dem Fenster zu schauen. Vor ihnen kam das Meer immer näher, die Wälder waren Dünen und freien Grasflächen gewichen. Und da vorne lag die Felsenspitze. Ganz in natura, nicht nur auf dem Display. Die Felsenküste sah hier aus, als ob sie ein Stück in das Meer hineingewachsen wäre, nur um sich mit einem Hügel wie ein thronender König vor das Land zu setzen. Der Hügel stach deutlich aus der Szenerie heraus, aber jetzt, wo der Pilot die Maschine tiefer fliegen ließ, kamen mehr Details in Sicht. Absperrungen, Zäune, Wachen, ein großer Parkplatz direkt vor dem Hügel, zu dem eine Auffahrt von der Küste aus hinauf führte.

»Bitte einen kleinen Rundflug«, funkte Melanie dem Piloten, der bestätigend den Daumen emporreckte.

Die Maschine kippte nach links weg und Sebastians Magen machte einen Satz. Die Felsen kamen immer näher und seine Hand verkrampfte sich im Sitzpolster, dann schoss der Hubschrauber über die Küste hinweg und es ging bestimmt zwanzig, wenn nicht dreißig Meter dahinter abwärts, bevor der Strand anfing. Der Felsenabbruch sah wirklich eindrucksvoll aus. Der Pilot zog den Hubschrauber tiefer bis sie nur noch gut zehn Meter über der Wasseroberfläche waren, dann flog er die große Felsnase entlang, hinaus aufs Meer. Dann wendete er und was Sebastian nun sah, verschlug ihm die Sprache. Betonröhren, die vom Meer aus in die Felsnase hineinführten, auf der sich der Hügel erhob.

Er zeigte nach vorne und wollte gerade etwas sagen, da kam Melanie ihm zuvor.

»Ein ehemaliger Nazi-U-Boot-Bunker, der im Krieg begonnen, aber nie fertiggestellt wurde. Ideal für unsere Zwecke. Wir haben ihn in den letzten Monaten von Grund auf ausgebaut.«

Ein U-Boot-Bunker? Sebastians Magen grummelte. Klang reichlich martialisch für eine UN-Forschungsmission.

Aber schon wieder kam Melanie ihm zuvor und legte ihre Hand beruhigend auf seinen Oberschenkel, was ihm einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Keine Sorge. Schau es dir von innen an.« Sie lachte. »Keine Hakenkreuze, kein Indiana Jones, keine magische Truhe.«

Das Lachen vertrieb sein Unwohlsein wenigstens halbwegs. Jedenfalls so lange, bis der Pilot den Hubschrauber steil in die Höhe über die Felsnase samt Hügel hinwegzog, und die Maschine dann schnell wie ein Expressaufzug in die Tiefe sacken ließ, direkt auf einen betonierten Landeplatz zu, der neben dem Parkplatz hinter den Einzäunungen lag. Als er im dritten Versuch den Gurt immer noch nicht aufbekam, kam ihm schließlich Melanie lächelnd zur Hilfe.

»Dein erster Flug?«

»Jedenfalls mit so einem Piloten ... und dieser Aussicht.«

Melanie lachte erneut und knuffte ihn in die Seite.

»Keine Sorge, wird schon schiefgehen.«

Genau das befürchtete er.

Sie schlenderten Seite an Seite durch den riesigen Komplex und Sebastian kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Eine solche Anlage! Solche Möglichkeiten! Sein Gepäck hatte ihm irgendein Assistent noch am Eingang abgenommen – nach einem obligatorischen Sicherheitscheck bei einem grimmigen Sicherheitsoffizier – und dann waren die schweren Stahltüren hinter ihnen ins Schloss gefallen und sie hatten in einem Betonflur gestanden. Grau wohin man sah, die alten Wände waren überhaupt nicht mehr zu sehen, überall neue Einheitsfarbe auf altem Untergrund. Ein paar Pfeile an den Wänden zeigten zu den wichtigsten Einrichtungen, kalte Neonröhren erhellten diese Minen von Moria.

Melanie zog an seinem Ärmel und er schaute vom Aufbauplan der Basis an der Wand hoch, der seine Aufmerksamkeit gefangen gehalten hatte. Wenn der Maßstab nur halbwegs passte, konnten hier hunderte Menschen völlig isoliert leben und forschen und hätten immer noch genug Platz für einen Fußballplatz gehabt. Er atmete zischend aus und bei seinem Gesichtsausdruck musste Melanie lachen.

»Ja, so habe ich beim ersten Mal auch reagiert. Vor allem, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen wir alle sonst so arbeiten müssen, oder? Die Wohnbereiche sind noch im Ausbau. Bis da alle wohnen können, dauert es noch eine Weile, der Rest der Anlage ist schon einen Schritt weiter.«

Sie hakte sich wieder bei ihm ein und es ging dutzende Gänge entlang. Etwas trostlos und ohne Plan war der Komplex ein einziges Labyrinth. Aber trotz seiner emotionslosen Kälte war er wegen seiner planerischen Durchdrungenheit eindrucksvoll.

Eine Gruppe in weißen Kitteln kam ihnen entgegen. Eine Asiatin diskutierte energisch auf Englisch über irgendeinen »Wirkungsfaktor der neuen Versuchsreihe« mit einem offensichtlich indischen oder pakistanischen Mann und ein hellhäutiger, älterer Mann hörte aufmerksam zu.

Sebastian nickte. Weihhausen hatte mit seiner Ankündigung »die besten Forscher, gleich welcher Herkunft« Recht gehabt.

Dann standen sie vor einer weiteren, massiven Stahltür und Melanie wedelte mit ihrem Sicherheitspass vor einem Scanner an der Seite. Ohne einen Ton zogen sich die Schotts in die Wand zurück und nun klappte Sebastians Kiefer endgültig nach unten. Eine riesige Halle kam zum Vorschein und ohne auf seine Begleiterin zu warten, ging er ein paar Schritte hinein. Die Decke erhob sich zig Meter über ihnen. Wie hoch war das? Zwanzig Meter? Mehr? Im Schätzen war er noch nie sonderlich gut gewesen. Eine Metallbalustrade zog sich auf halber Höhe über die Szenerie und formte mitsamt einigen Plattformen eine Metalllandschaft in luftiger Höhe, die jedem Science-Fiction-Film zur Ehre gereicht hätte. Aber der Bodenlevel war nicht weniger eindrucksvoll. Überall standen Kisten und Fässer wohlgeordnet in Arealen aufgeteilt, frischer Beton hob sich hellgrau von seinem älteren Pendant dort ab, wo früher wohl ein tiefes Becken gewesen war.

Melanie hatte zu ihm aufgeschlossen.

»Ein aufgegossenes Einlauf- und Wartungsbecken für U-Boote. Wir sind hier im Kern der Anlage angekommen, dem Herzstück. Wir sind leider noch nicht ganz fertig, daher stehen noch überall die Kisten herum, das dritte Labor wird erst in Kürze aufgebaut.«

»Das dritte?«

Sie nickte und zeigte nach links. Dort erhob sich eine Stahl- und Glaskonstruktion bis zur Decke empor und bildete dutzende Laborwürfel, die wie in einem großen Vier-gewinnt-Gitter angeordnet waren. Auf der riesigen Glasfront spiegelten sich die Deckenstrahler. Dahinter wuselten dutzende Wissenschaftler in den obligatorischen weißen Kitteln umher, wurden von kleinen Plattformaufzügen zwischen den Laborebenen transportiert oder forschten an diversen Anlagen in ihren Glas-Würfeln.

»Ein weiteres Labor, wenn auch etwas kleiner, befindet sich im Abschnitt Gamma.« Sie zeigte zum Schott zurück, aus dem sie gekommen waren. »Alpha«, zeigte auf den Hauptraum, »Beta«, und nickte nach vorne, zu einem weiteren Schott auf der gegenüberliegenden Seite. »Gamma, bisher halb fertig, und der noch nicht ausgebaute Bereich Theta«.

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Dann stell ich dich jetzt mal ein paar Leuten vor und danach zeig ich dir dein Appartement.«

Froststurm

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