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Kapitel 10

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Der Sportunterricht war vorbei und es folgte wieder eine Pause von zwei Stunden während der sich die Schüler von den Anstrengungen des Sportunterrichts erholen sollten. Ryu und Kronos mieden die Gesellschaft der anderen und wanderten in den endlosen Gängen auf und ab. Sie wollten allein und ungestört sein, damit sie beratschlagen konnten, wie sie die Flucht von der Schule bewerkstelligten. Immer wieder tauchte an den Kreuzungen der Flure und Gänge Kitsune auf und guckte immer misstrauischer. Schließlich fragte er rundheraus: „Vor wem wollt ihr euch eigentlich verstecken?“

„Vor wem wohl?“, fauchte Kronos. „Vor Schmeißfliegen wie dir! Vor wem sonst?“

Kitsune schien ernstlich beleidigt, vor allem, als Ryu keine Anstalten machte, Kronos zu widersprechen.

Ryu war wenigstens für diesen Moment glücklich, denn sie fühlte sich nicht mehr allein. Es gab endlich jemanden, dem sie nichts vorspielen musste, der sie so nahm, wie sie war, und dieselben gefährliche Ziele hatte wie sie. Die zwei Stunden gingen schnell vorbei und sie begaben sich auf die Suche nach dem Klassenzimmer, in dem der Philosophie-Unterricht abgehalten wurde.

Sie schlugen einen Weg ein, der über eine der zahllosen Treppen in das unterirdische Gewölbe führte, und fanden weitere Gänge und weitere Treppen, die sie immer tiefer in die hallenden Gewölbe vordringen ließen. Sie blieben einfach nicht stehen, hielten sich an der nächsten Weggabelung mal links, dann rechts, und Ryu und Kronos hätten sich längst schon hoffnungslos verirrt, wäre nicht plötzlich und wie aus dem Nichts Kitsune aufgetaucht, der ihnen den richtigen Weg wies.

Schließlich standen sie vor einem Klassenraum, der keine Tür besaß. Es führten nur drei kleine Stufen hinein. Die gewölbte Decke war niedrig, so dass alle aufpassen mussten, dass sie sich nicht die Köpfe stießen. Es gab nur eine Lampe, die den riesigen Raum erhellte. Unaufhörlich flogen unzählige Motten gegen die Lampe und fielen bewusstlos zu Boden, rappelten sich wieder auf, drehten sich auf dem Boden im Kreis und flogen dann erneut gegen die Lampe.

Alle Schüler hatten sich schon auf ihre Plätze gesetzt, und Ryu stellte verblüfft fest, dass sogar ihre Zimmergenossin, die kleine Larea, anwesend war.

Ryu teilte sich mit Kronos einen Tisch, Kitsune setzte sich an den Nebentisch. Voller Erwartung starrten alle auf den dunklen Eingang zum Klassenzimmer, aus dem ein trockenes Rascheln ertönte und sich eine Staubwolke hervor wälzte. Ein uralter Mann schlurfte in das Gewölbe, bei jeder noch so kleinen Bewegung wallte Staub von seiner Kleidung auf. Er hatte eine Glatze, seine Haut war faltig, seine Augen trübe und er schwankte beim Gehen, als könne er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Bekleidet war er mit einem langen alten und von Motten zerfressenden braunen Mantel, aus dessen Ärmel immer neue Motten krochen und ihre Beißwerkzeuge in den Mantel schlugen. Auf seiner Nase saß eine Brille mit dicken runden und staubigen Gläsern, sie rutschte ständig auf seiner Knollennase bis ans Ende hinunter, so dass er sie im Sekundentakt mit seinen knochigen Fingern hochschieben musste. Als er seine Tasche auf das Pult legte, staubte es erst hoch auf, dann stiegen Wolken von Motten torkelnd in die Höhe, um sich kurz darauf wieder auf die Tasche zu setzen.

Der alte Mann wischte mit dem Handrücken ein paar Motten von seinen staubigen blutleeren Lippen. „Mein Name ist Zeller Malinellus“, sagte er mit einer raschelnden leiernden Stimme, hüstelte trocken, wobei eine große Motte aus seinem Mund flatterte, und zupfte an seinem Mantelkragen, der dabei immer mehr einriss. „Ich bin euer Philosophielehrer“, fügte er unter Mühen hinzu, dann versagte seine Stimme und er brach in ein solch infernalisches Husten aus, als würde er mindestens drei Packungen Zigaretten am Tag rauchen, und das schon seit mehr als 200 Jahren. Bei seinem nicht enden wollendem Hustenanfall, der seinen faltigen alten Leib auseinander zu brechen drohte, stieben die Motten auf und umschwärmten ihn in ihrem torkelnden Flug.

Ryu schaute sich um und war erleichtert, als sie die Schlangenfrau auf der anderen Seite des Klassenzimmers entdeckte. Sie schien aber andere Sorgen zu haben, als sich mit Ryu zu beschäftigen, denn vor ihr saß eine junge Frau, die ebenfalls eine schwarze gespaltene Schlangenzunge besaß. Die beiden Frauen mochten sich offensichtlich nicht, sie zischten sich permanent an, als wollten sie sich gegenseitig vertreiben.

Schließlich artete das Gezänk der beiden so aus, dass es selbst dem Philosophielehrer nicht verborgen blieb. Unter trockenem Husten schlurfte er zu ihnen, wobei die Motten aufstoben und um die beiden jungen Frauen flatterten. Sie fingen mit ihren gespaltenen langen Zungen etliche der Motten und verspeisten sie mit großem Appetit, was Herrn Malinellus ziemlich erboste.

„Wie heißt ihr beide?“, fragte er und wurde von einem seiner heftigen Hustenanfälle durchgeschüttelt.

„Serpenta Montana“, erwiderte die Schlangenfrau, die Ryu im Zelt bedroht hatte.

„Und ich bin Mia Mogala“, sagte die andere.

Dann zischten die beiden sich wieder an und ihre Köpfe bewegten sich in blitzschnellen Pendelbewegungen.

„In meinem Unterricht werden keine Rangkämpfe ausgetragen“, hüstelte der Philosophielehrer und ließ aus den Staubwolken seines Mantels wieder große Mengen Motten auf die beiden jungen Frauen regnen. „Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, werden euch die Motten auffressen!“

Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht, Serpenta und Mia hörten auf sich anzuzischen und starrten sich nur noch an. Der Kampf mit Blicken schien den Lehrer nicht zu stören.

Dann begann er mit seinem Unterricht. Kaum jemand verstand auch nur einen einzigen Satz von dem, was er sagte, denn der Lehrer unterbrach sich ständig selbst mit seinen gewaltigen Hustenanfällen. Manchmal waren sie so heftig, dass es ihn von den Beinen riss und er sich in Schwärmen von Motten unter dem Lehrerpult wälzte.

Einen dieser Hustenanfälle nutzte Kronos , stupste Ryu in die Seite und beugte sich zu ihr. „Hey“, flüsterte er. „Lass uns schon heute Nacht abhauen, ich werde sonst hier noch verrückt! Wir treffen uns um ein Uhr am Osttor. Geht das in Ordnung?“

„Okay, ich bin dabei“, erwiderte Ryu und freute sich schon auf die Nacht.

Der Unterricht zog sich quälend in die Länge. Die Stimme des Lehrers wurde immer leiser, die Beleuchtung immer schwächer, die Luft hier unten immer stickiger. Alle Schüler hatten gegen eine anwachsende Müdigkeit zu kämpfen, aber immer, wenn ihnen die Augen zufielen, schwirrten Schwärme von Motten herbei, krabbelten in Augen und Nasenlöcher, so dass die Schüler niesen mussten und aus ihrem Halbschlaf hoch schreckten.

Nur eine Schülerin blieb hellwach und ließ ihre Blicke aufmerksam durch die Bankreihen wandern, wobei sie sich ständig die Lippen leckte und nervös auf ihrem Stuhl rutschte. Es war die kleine Larea. Ryu wunderte sich nicht, dass ausgerechnet Larea nicht müde wurde, sie hatte ja schließlich den ganzen Tag geschlafen.

Als Ryu auf die staubige Uhr an der Stirnseite der Klasse blickte, musste sie zu ihrem Erschrecken feststellen, dass erst zwanzig Minuten von dem dreistündigen Unterricht vergangen waren. Mittlerweile hing der alte Lehrer halb über dem Pult, Kopf und Arme baumelten herunter, seine Stimme war so schwach, dass man kein einziges Wort verstand. Um nicht einzuschlafen, ließ Ryu ihre Blicke durch die Klasse wandern.

Einer der Schüler kaute intensiv an seinem Bleistift, bis er zerbrach. Galo, der Megalodon und Gestaltenwandler, fraß seine Stifte sogar auf, und als er keine mehr hatte, bediente er sich an den Stiften seines Banknachbarn. Serpenta führte immer noch ihren Blickkrieg mit Mia.

Jetzt hatte es der Lehrer vom Pult bis zur Tafel geschafft, doch ihm fehlte die Kraft, etwas darauf zu schreiben. Er klammerte sich mit beiden Händen an ihr fest, seine Stimme war nur noch ein feines Raunen.

Ryu beobachtete, wie der Junge, unter dessen Füßen das Feuer ausgebrochen war, einen Stift in die Nase steckte und damit seinen Kopf auf der Tischplatte abstützte, damit er unauffällig schlafen konnte. Die junge Frau, die in der nächsten Bank links von ihr saß, hieb sich ständig, damit sie nicht einschlief, mit der Handkante gegen den Kehlkopf. Schräg vor ihr bemerkte sie eine Schülerin, die gegen den Schlaf ankämpfte, indem sie sich mit der Nadelspitze ihres Zirkels blutige Rillen in die Stirn ritzte.

Die Motten flogen noch immer gegen die Lampe. Sie schienen Ryu nicht besonders intelligente Wesen zu sein. Genau wie Megalodons, denn Galo hatte mittlerweile auch die Stifte seines Banknachbarn vertilgt, und kaute nun auf seinem Schreibmäppchen herum, dass er schließlich ziemlich frustriert verschluckte. Auch Kronos hatte neben ihr den Kampf gegen die Müdigkeit verloren, bettete den Kopf auf die Tischplatte und begann wie viele andere auch leise zu schnarchen.

Von alledem bemerkte der uralte Lehrer nichts und flüsterte leise mit der schweigsamen Tafel, die anscheinend die einzige war, die ihm überhaupt noch zuhörte. Ryu nahm an, dass man dem Lehrer mit einem Presslufthammer die Schädeldecke hätte öffnen können, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte.

Einer der letzten, den die Müdigkeit übermannte, war Kitsune. Den Kopf auf dem Tisch, streichelte er im Halbschlaf noch sein Mäppchen und flüsterte verliebt mit ihm, als könne er nie und unter keinen Umständen zu flirten aufhören. Larea starrte intensiv die Gewölbedecke an, als würde sich dort einen Fernseher verstecken. Ryu fragte sich, wie wohl die Tests in solch einer Klasse ausfallen würden. Wahrscheinlich würde die Klasse nur aus Mitleid hochgestuft werden, damit die Schüler nicht noch als Omas und Opas im Unterricht sitzen müssten.

Als Ryu wieder zur Uhr schaute, war erst eine Stunde vergangen, obwohl sie das Gefühl hatte, schon eine ganze Nacht in diesem Dämmerlicht verbracht zu haben. Schließlich konnte sie nicht anders und schloss die Augen bis auf schmale Sehschlitze. Doch das hielt die Motten nicht davon ab, sich auf sie zu stürzen und in ihren Nasenlöchern zu kitzeln.

Kitsune ließ sich von den kleinen Insekten, die mittlerweile schon seinen ganzen Kopf bedeckten, im Schlaf nicht stören. Bei Kronos stellten sich im Schlaf in regelmäßigem Abstand die Kopffedern senkrecht und die Motten flogen von ihm auf, so dass er wenigstens frei atmen konnte.

Als Ryu erneut auf die Uhr schaute, waren es nur noch zehn Minuten bis Unterrichtsende. Der Philosophielehrer mobilisierte all seine Kräfte, und es gelang ihm, ein großes P an die Tafel zu schreiben. Das hatte ihn so erschöpft, dass er auf seine Knie sank und minutenlang seinen Kopf zu den Seiten pendeln ließ.

Ryu stupste Kronos in die Seite, doch das zeigte keine Wirkung. Daraufhin rüttelte sie seine Schulter. Kronos schnarchte weiter. Nun wurde Ryu ungeduldig, packte seine Kopffedern und riss aus Leibeskräften an ihnen. Das zeigte endlich Wirkung. Kronos zuckte aus seinem Tiefschlaf in die Höhe und verschluckte vor Schreck eine Handvoll Motten. Ryu zeigte auf die Uhr und flüsterte in sein Ohr: „Los, bleib wach, es ist gleich Schluss!“

Doch ihre Worte erzielten nicht die erhoffte Wirkung. Kronos klimperte nur ein wenig mit den Wimpern und glotzte Ryu verständnislos an, dann sank sein Kopf zurück auf die Tischplatte. In den verbliebenen Minuten versuchte sich Ryu einen langweiligeren Unterricht als diesen vorzustellen, aber so sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, es gelang ihr nicht.

In weiser Voraussicht hatte der Hausmeister die Gong-Anlage hier unten so laut eingestellt, dass ihr Dröhnen selbst Tote wieder zum Leben erweckt hätte. Der Gong hallte wie Donner durchs Gewölbe und ließ es so stark erzittern, dass der Putz von den Wänden fiel.

Die Schüler sprangen aus ihrem Tiefschlaf senkrecht in die Höhe, doch ihr Schreck verwandelte sich sofort in Freude, als sie realisierten, dass der Unterricht zu Ende war. In Windeseile packten sie ihre Schulsachen zusammen und stürmten in wilder Flucht aus dem Klassenzimmer. Alle schienen heilfroh, dieser tödlichen Langeweile entronnen zu sein. Nur die kleine Larea saß noch auf ihrem Platz. Sie starrte gedankenverloren die Decke an und leckte sich die Lippen. Auch der Philosophielehrer hatte den Gong nicht vernommen. Er flüsterte mit der Tafel und schien die Hoffnung nicht aufzugeben, dass sie ihm endlich Antwort gäbe.

Nach einer Weile betrat der Hausmeister das Gewölbe. Er packte die kleine Larea und warf sie in hohem Bogen aus dem Klassenzimmer. Dann ging er zur Tafel und lud den Philosophielehrer in eine mitgebrachte Schubkarre und schob sie aus dem Gewölbe.

Währenddessen taumelte Kronos wie im Halbschlaf neben Ryu durch die Gänge und Flure, und wäre Kitsune nicht gewesen, der ihr ein paar Mal den richtigen Weg zeigte, hätte sich Ryu hoffnungslos verlaufen. Unterwegs trat Ryu absichtlich mehrmals mit dem Absatz Kronos auf die Zehen, damit er etwas wacher wurde, und sie befürchtete, dass er zu müde war und ihre Verabredung verschlafen könne.

„Vergiss nicht, was wir vorhaben“, flüsterte Ryu zum Abschied.

„Keine Sorge, ich werde pünktlich sein“, versprach Kronos.

Ryu betrat ihr Zimmer und blickte sich um. Larea war nicht anwesend. Bestimmt trieb sie sich die halbe Nacht irgendwo in der Schule herum und wäre am nächsten Morgen wieder so müde, dass sie im Bett bliebe und den Unterricht verschliefe. Ryu dachte, dass ihr dies nur recht sein könne, denn so würde Larea ihren mitternächtlichen Aufbruch nicht mitbekommen. Ryu bemerkte, dass ihr Koffer immer noch unausgepackt in einer Ecke stand, er wäre ihr auf der Flucht bestimmt nur hinderlich, sie würde ihn einfach hier lassen. Sie setzte sich auf die Bettkante und stellte sich ein normales Leben vor, ein Leben ohne Bedrohungen wie auf dieser Schule. Sie schaute auf die Uhr. Es blieben ihr noch drei lange Stunden. Dann meldete sich der Hunger immer quälender, schließlich hatte sie seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken über den Hunger hinweg, draußen, in der normalen Welt, sich etwas zu essen zu organisieren, vor dem sie sich nicht ekeln würde und bei dem eine schwere Magenvergiftung nicht vorprogrammiert war.

Blut zu Blut

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