Читать книгу Blut zu Blut - Janaina Geismar - Страница 7

Kapitel 5

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Ryu schrak auf und fühlte einen grässlichen Schmerz in ihrem Arm, als sie ihn reflexartig zur Seite schlug, fiel etwas herunter.

Sie schaute auf den Boden und sah etwas Pelziges davon huschen, das schnell ins Bad rannte.

Sie fasste sich an den Arm und fühlte etwas Warmes, das über ihre Hand floss. Schnell sprang sie aus dem Bett und machte das Licht an.

Das, was sie sah, schockierte sie, ihr Arm blutete stark. Sie presste den Handballen auf die Wunde, doch das Blut sickerte unaufhörlich darunter hervor. Schnell lief sie ins Bad und legte ihren Arm, unter den Wasserhahn. Der Wasserstrahl wusch das Blut ab, das weiße Waschbecken färbte sich rot. Schließlich floss der Blutstrom nur noch langsam und verdünnte sich zum Rinnsal, und Ryu holte ein sauberes Handtuch aus dem kleinen Wäscheschrank und wickelte es um die Wunde.

Das kleine pelzige Tier musste sie wohl gebissen haben, hoffentlich war es nicht krank, dachte Ryu. Als sie das Handtuch wegnahm, fiel ein kleiner blutverschmierter Gegenstand zu Boden. Sie hob ihn auf und hielt ihn unter den Wasserhahn, um ihn zu säubern.

Das Ding sah wie ein kleiner grüner Chip aus mit goldenen angelöteten Drähten.

Ihr Arm hörte vollends auf zu bluten. Die Wunde war klein und lag genau an der Stelle, wo die Narbe gewesen war. Ryu konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie legte den Chip auf den Tisch neben ihrem Bett ab. Schlafen konnte sie nicht mehr, doch anstatt sich hinzulegen, um es wenigstens zu versuchen, ging sie ans Fenster. Der Nachthimmel war wolkenlos und zeigte Tausende strahlende Sterne. Dieser Anblick beruhigte sie. Als die Schmerzen in ihrem Arm ganz verschwunden waren, öffnete Ryu das Fenster, um mit der Nachtluft ihr heißes Gesicht zu kühlen. Sie genoss die frische Brise, die ihr Gesicht streichelte. Langsam wurde der Himmel heller, ein neuer Tag kündigte sich an. Sie streckte ihren verwundeten Arm durch das Gitter und griff ins Nichts. Gegen das fahle Licht des frühen Morgens hoben sich am Himmel schwarze Vögel ab. die in die Höhe flogen. Ryu betrachtete diese Vögel. Ihr Federkleid war matt schwarz. Sie stießen heisere Krächzlaute aus. Ryu nahm an, das die Vögel Krähen waren.

Einzelne dieser Vögel hätte man in diesem Zwielicht kaum bemerkt, aber in dieser Masse und bei dem Lärm, den sie veranstalteten, waren sie nicht zu übersehen. Ryu fasste an das Gitter, es war kalt, obwohl es draußen so angenehm warm war. Als sie zu dem Baum hinüber schaute, aus dem der Krähenschwarm aufgeflogen war, erschrak sie. Dort stand derselbe Mann, den sie gestern dort gesehen hatte. Erneut fühlte sie sich von seinem Blick fixiert. Sie ging einen Schritt zur Seite und die ausdrucksvollen grauen Augen des Mannes folgten ihren Bewegungen. Der Mann selber rührte sich nicht, an seinem schwarzen Hosenbein kletterte eine Ratte hinauf und immer höher bis auf seine Schulter. Seine schwarzen Haare streiften die Ratte im Wind. Seine Mundwinkel umspielte ein leichtes Grinsen, das Ryu Angst machte. Die Krähen stoben am Himmel auseinander und flogen panisch hin und her.

Voller Angst wich Ryu einen Schritt zurück. Hinter ihr flog die Zimmertür auf. Ryu wirbelte herum und erkannte Anna. Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen, es atmete schwer. Dann rannte Anna auf Ryu zu, packte sie am Arm und riss sie vom Fenster weg.

Anna zog Ryu hinter sich her und rannte nach draußen. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Ryu, doch Anna antwortete nicht. Das Mädchen hielt Ryus Handgelenk so fest, dass es schmerzte. Sie rannten durch die Flure des Krankenhauses, sie waren menschenleer, das Echo ihrer Schritte hallte gespenstisch von den gekachelten Wänden wider. Niemand ließ sich blicken. Auch die Pförtnerloge in der Eingangshalle war nicht besetzt.

Draußen angekommen bekam Ryu mit einem Schlag hämmernde Kopfschmerzen und fasste sich an die Stirn. Plötzlich saß sie auf der Rückbank eines Autos. Das Geschehen kam ihr bekannt vor, die Frau, die sich zu ihr umdrehte, das Gesicht, das sie nicht erkennen konnte, das alles hatte sie so oft gesehen. Doch plötzlich verschwamm das Bild und es wurde heller rings um sie her, immer heller, alles war weiß. Ein neues Bild erschien. Sie stand auf einer Wiese, ein bekannter Duft umhüllte sie.

„Ryu...“, flüsterte eine Frauenstimme, sie kannte diese Stimme, doch sie wusste nicht mehr woher. Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie von hinten umarmt wurde, doch es hielt nicht lange an und wurde von einer tiefen Trauer verdrängt. Eine beißende Kälte zog in ihr Herz ein, etwas brodelte um ihre Füße, die Wiese wurde mit Blut getränkt. Der Himmel verdunkelte sich, bis er schwarz war. Das Einzige, was sie vernahm, waren Schreie, fürchterliche Schreie. Es roch nach Tod, immer stärker, nur nach Tod!

Als Ryu wieder zu sich kam, war ihr klar, dass alle diese schrecklichen Dinge sich nur in ihrem Kopf abgespielt hatten. Sie war mit Anna draußen auf der Straße. Sie lag am Boden. Anna beugte sich über sie und schrie sie an. Zunächst verstand Ryu kein einziges Wort, als rede Anna in einer fremden Sprache, die wie Wurfgeschosse auf sie hinab prasselten. Dann ordneten sich die Wörter in ihrem Kopf neu und verständlich.

„Endlich bist du wach! Schnell, schnell, steh auf, wir müssen weiter“, rief sie.

Ryu wollte gerade protestieren, doch ihre Zähne knallten aufeinander, als Anna sie mit einem kräftigen Ruck auf die Füße zog, um sie weiter hinter sich her zu zerren.

In Ryus Gedanken spukten so viele drängende Fragen herum, dass sie das Gefühl bekam, ihr Kopf müsse zerspringen. Sie wusste nur eins, sie brauchte Zeit und Ruhe, um Antworten zu finden.

Sie versuchte sich von Anna loszureißen und stürzte, Anna riss sie mit zu Boden. Ryu verletzte sich am Knie, doch sie spürte keinen Schmerz, zu viel Adrenalin war in ihren Körper gepumpt. Als sie um sich blickte, erschrak sie, sie befanden sich auf einem großen Platz. Der ganze Boden vor ihr war schwarz, pechschwarz. Hunderte Krähen hatten sich dort niedergelassen und machten einen höllischen Lärm. Ryu stand mit Mühe wieder auf und machte einen Schritt auf die Vögel zu. Keiner der Vögel rührte sich von seinem Fleck. Sie sperrten die Schnäbel auf und kreischten sie an. Sie ging immer weiter bis sie in der Mitte der Horde Krähen stand. Sie fühlte kneifende Kälte, die an ihren Beinen empor kletterte. Ihre Pupillen erweiterten sich, sodass auch nur wenige Sonnenstrahlen sie blendeten. Anna stand am Rand des Krähenschwarms und schaute lauernd zu ihr hinüber, ihr Blick war starr und gefühllos. Als ein Kind kreischend auf die Krähen zu rannte, flogen alle mit doppelter Lautstärke in die Höhe. Die Sonne war komplett bedeckt von ihren schwarzen Leibern und ein riesiger Schatten breitete sich aus. Der Anblick ähnelte einer Sonnenfinsternis. Es regnete Krähenfedern hinunter, alle Menschen staunten und starrten in den Himmel. Ryu fürchtete, der riesige Schatten über ihr könne durch ihre Augen in sie eindringen, und tatsächlich fühlte sie wie dunkle Schleier der Angst in ihr umher waberten. Jede der schwarzen Federn, die über ihr zu Boden sanken, war wie ein schwarzer Blitz, der die Nacht in ihr durchzuckte.

Sie sah ein verzerrtes Bild vor ihren Augen, doch sie konnte es nicht erkennen, was es bedeutete. In einem kurzen hellen Augenblick erschien ihr Annas Gesicht sehr nah. Vielleicht war sie zu ihr gerannt. Anna bewegte ihre Lippen, als würde sie etwas sagen, doch Ryu hörte nichts. Sie wollte etwas zu Anna sagen, doch sie brachte nur von Schmerz zerfressene Laute zustande. Ihre Kopfschmerzen wurden immer unerträglicher und Ryu fing an zu schreien, sie fühlte noch nicht einmal den Aufprall ihres Kopfes, der unsanft gegen den Betonboden knallte. Sie litt wahre Höllenqualen und wünschte schon insgeheim, nicht länger am Leben zu sein. Dann glaubte sie, vor Schmerz verrückt zu werden.

Erst als die letzte Krähenfeder zu Boden gesunken war, verschwanden der pochende Schmerz und die schwarzen Blitze aus ihrem Kopf.

Ryu nahm die Hände herunter, ihre Haare waren zerzaust und schweißnass. Als sie aufblickte, sah sie, dass sich eine Menschenmenge um sie versammelt hatte. Die Leute steckten die Köpfe zusammen, tuschelten miteinander und starrten sie mit angstvollen Blicken an. Aber niemand machte Anstalten, ihr zu helfen.

Manche kicherten auch nur und grinsten vor Schadenfreude. Kleine Kinder starrten sie mit großen Augen an und registrierten jede Bewegung, die Ryu machte. Das Gedrängel um sie herum wurde an einer Stelle unruhig, die Menschen drehten sich um und gaben eine schmale Gasse frei. Ein Polizist versuchte sich durch die Menge zu schieben, er drückte und stieß die Menschen zur Seite, denn freiwillig gaben sie kaum Raum. Als er zu Ryu durchgedrungen war, guckte er ziemlich überrascht. Dann legte er den Arm um Ryus Schulter, um sie aus der Menge zu führen. „Geht es Ihnen gut? Soll ich einen Krankenwagen holen?“, fragte der Polizist. Doch Ryu schüttelte den Kopf, wohin sie auf keinen Fall wollte, war in ein Krankenhaus!

Der Polizist schaute sie misstrauisch an, dann zuckte er mit den Achseln und ging langsam davon, wobei er sich mehrmals nach Ryu umschaute. Ryu wollte sich gerade davon stehlen, doch schon stand Anna neben ihr, packte ihren Arm und zog sie von der Menschenmenge, die sich zu ihnen umgedreht hatte, weg und über den Platz davon.

Diesmal wollte Ryu wissen, wo es hingehen sollte, und schrie Anna an: „Was hast du vor? Wohin willst du mich verschleppen?“

Doch Anna zeigte keine Reaktion, sie liefen durch Büsche und und unter tief herabhängenden Ästen durch, die Ryu ins Gesicht peitschten und blutenden Kratzer hinterließen.

Später, als sie einen verlassenen Bahnhof erreicht hatten, hielt sie Anna fest, so dass sie ihren atemlosen Lauf stoppen musste. Ryu holte tief Luft und ordnete ihre Gedanken. „Also, noch mal, wo bringst du mich hin? Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. und du bist mir nun endgültig eine Antwort schuldig!“, schrie sie Anna an.

Anna zeigte keine Reaktion. Ryu zweifelte, ob sie ihr überhaupt zugehört hatte. Ihre Blicke waren völlig ausdruckslos und leer. Sie stand einfach nur da wie ein Elektrogerät, dessen Stecker man aus der Steckdose gezogen hatte. Ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung war schmutzig, sie machte einen ziemlich verwahrlosten Eindruck und nur wenig erinnerte an das ziemlich herausgeputzte Mädchen, das sie gestern zum ersten Mal in ihrem Krankenzimmer besucht hatte. Als Anna ihre Hand sinken ließ, fielen ein paar schwarze Federn aus ihrem Ärmel. Ryu wich erschrocken einen Schritt zurück, doch Anna packte sie wieder am Arm und zog sie mit. Wortlos gingen sie weiter. Als sie an einem der Bahnsteige ankamen, warf die herauf dämmernde Nacht schon lange Schatten. Auf den Gleisen wartete ein Zug, seine Waggons waren schmutzig, die Fenster blind vor Staub, die Eisenbeschläge rostig. Er machte den Eindruck, als habe man ihn aus dem Schuppen eines Eisenbahnmuseums geradewegs hier hin gebracht. Als sie sich den ersten Wagen näherten, bemerkte Ryu, dass in den Zugabteilen kein Licht brannte. Anna ging zur Einstiegstür eines der altertümlichen Waggons und drückte mit beiden Händen die große rostige Klinken hinunter. Die Tür schwang schwerfällig und knarrend auf.

Sie drückte Ryu wortlos einen Zettel in die Hand und schubste sie in den Zug. Ein Krachen wie ein Donnerschlag hallte durch den Zug, als hinter Ryo die Tür ins Schloss fiel.

Draußen auf dem Bahnsteig kam plötzlich Leben in Anna, erst schlug sie voller Panik die Hände vors Gesicht, dann hämmerte sie gegen die Waggontür und schrie etwas, was Ryu nicht verstand. Ihre Worte hallten seltsam verzerrt und zerhackt durch den Zug. Auch Annas Augen waren wieder voller Leben und sie schien wieder sie selbst zu sein. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht, die Einstiegstür zu öffnen. Dann gellte ein langgezogener Pfiff durch den Bahnhof, der Zug setzte sich ruckelnd und quietschend in Bewegung und nahm Geschwindigkeit auf. Die Waggons schlingerten auf den Schienen hin und her wie ein Boot in einer starken Dünung. Bald war der Bahnsteig nur noch ein schmaler Strich und Anna darauf ein winziger Punkt. Dann ging das Licht an, es flackerte erst, dann brannte es fahl und gleichmäßig.

Ryu bemerkte, dass neben ihr ein Koffer stand, sie nahm ihn, trug ihn in ein Abteil und setzte sich auf einem Viererplatz. Jede Kurve und jede Unebenheit der Schienen machten sich durch kreischendes Quietschen und heftige Stöße lautstark bemerkbar. Ryu wischte mit dem Ärmel etwas Staub vom Fenster, schaute hinaus an den Himmel und ließ sich vom Glitzern der Sterne durchrieseln. Kleine schwarze Flecke huschten durch den Himmel, als würden sie den Zug verfolgen.

Ryu schloss die Augen, das beängstigende Gefühl beschlich sie, in einer Falle zu sitzen. Sie ahnte, der Zug würde nicht eher anhalten, bis er sein Ziel erreicht hatte. Und dieses Ziel erschien ihr bedrohlich und voller Schrecken.

Blut zu Blut

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