Читать книгу Blut zu Blut - Janaina Geismar - Страница 13

Kapitel 11

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Als der Mond aufging, hörte Ryu die Wölfe heulen, bald näher, bald ferner. Ryu hatte sie total vergessen. Was würde geschehen, wenn sie diesen Bestien begegneten? Ryu hatte ihre Zweifel, dass diese grauen Monster die Freundlichkeit besäßen und ihnen den schnellsten Weg nach draußen zeigen würden. Sie schaute nach draußen. Dort, wo das Licht aus den Fenstern hinfiel, sah sie kleine Tiere durchs Gras huschen. Auf der Suche nach Nahrung verließen sie ihre Verstecke, in denen sie sich tagsüber verborgen hielten. Die meisten suchten wohl Samen und Früchte, andere Insekten, aber es gab bestimmt auch solche unter ihnen, die Menschen suchten, um sie zu vertilgen, glaubte Ryu. Jedenfalls erschien ihr das nicht mehr undenkbar und so unwahrscheinlich.

Dunkle Vorahnungen bedrängten sie. Und wenn es auch Hexen und Zauberer gäbe oder gar Götter? Vielleicht gab es ja wirklich einen wütenden Rachegott namens Thor, der seinen Hammer schwang und damit alles vernichten konnte. Oder Katzen in Ägypten mit übernatürlichen Fähigkeiten. Sie dachte über sämtliche mythologische Gestalten nach, die ihr in den Sinn kamen. War es nicht seltsam, dass sie sich daran erinnern konnte, nicht aber an ihre Eltern oder Freunde, die sie früher bestimmt gehabt hatte?

Sie blickte hinauf zum Mond, der riesig und rund am Himmel aufging. Er erschien ihr größer und näher, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Vielleicht kündigte er ja eine Nacht der Werwölfe an, denn wenn es schon Greife wie Kronos gab, dann bestimmt auch so blutrünstige Wesen wie Werwölfe. Und wenn es Werwölfe gab, dann bestimmt auch Trolle und Vampire.

Je mehr sie sich in diese Gedanken steigerte, desto größer wurde ihre Furcht vor der bevorstehenden Flucht. Wenn es in diesem Wald, den sie durchqueren mussten, nun wirklich Werwölfe gäbe, dann müssten sie aufpassen, dass sie nicht gebissen wurden.

Dann schlugen die Uhren in den Gängen und Fluren Mitternacht. Zwölf schaurige Glockenschläge hallten noch lange im Schulgebäude wider. Ryu seufzte tief, sie musste sich jetzt fertig machen, wenn sie pünktlich um ein Uhr am Treffpunkt sein wollte.

Sie nahm den Lageplan zur Hand und studierte ihn aufmerksam. Die Schule besaß vier Tore, Nord-, West-, Süd- und Osttor. Beim Nordtor lag der Sportplatz, dort war sie schon mal gewesen. Sie war sicher, dass sie den Weg zum Osttor finden würde, er war viel einfacher. Ryu warf einen letzten Blick durch das Zimmer. Es gab dort nichts, was ihr wirklich gefallen hatte. Sie hoffte, es niemals wiederzusehen.

Ryu steckte den Plan ein und schlich aus dem Zimmer. Die Gänge waren dunkel und die Stille ringsumher machte sie nervös. Jeder Schritt, den sie tat, erschien ihr laut wie ein Trommelschlag, und oft glaubte sie, dass sich vor ihr in den Finsternis Gestalten bewegten. Ab und zu huschte eine Maus davon, ihr Trippeln erschien ihr so laut, als trampele ein Elefant durch den Gang. Aus manchen Zimmern schallte lautes Schnarchen, aus anderen wüstes Grunzen und irres Quieken.

Dann gefror Ryu das Blut in den Adern zu Eis und sie duckte sich unwillkürlich. Grässliche Schreie schallten durch die Gänge. Ihr Echo geisterte noch lange umher. Es waren Schreie einer Frau in höchster Todesnot, qualvoll und herzzerreißend und so voller Angst. Zuerst wollte Ryu in die Richtung rennen, aus der die Schreie kamen, doch dann wurde sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst. Sie war ja bloß ein Mensch, und wen sie dort, woher die Schreie kamen, antreffen würde, waren Monster, die nicht zögern würden, auch sie umzubringen. Weil sie es nicht länger ertragen konnte, steckte sie sich die Finger in die Ohren und hastete weiter, doch die Schreie wurden nicht leiser, sondern immer lauter und bedrängender.

Ryu bekam fürchterliche Angst, denn egal, in welche Richtung sie lief, sie kam den Schreien immer näher. Ein letzter, unmenschlich hoher Schrei brach ab, dann herrschte wieder Stille ringsumher, Totenstille. Ryu atmete auf und lauschte. In der Ferne knarrte eine Tür, ein hohles Kichern wurde immer leiser. Ryu hielt den Atem an. Die Vorstellung, dass im nächsten Augenblick grässliche Monster aus dem Dunkel dringen und sich auf sie stürzen könnten, ließ sie zittern wie Espenlaub.

Doch es blieb still, keine Schritte, keine Monster. Sie musste weiter, denn es war schon fast ein Uhr. An jeder Kreuzung blieb sie stehen und versuchte, die Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Ihre größte Angst war, dass dieser Stan sich plötzlich vor ihr materialisieren würde und seine schrecklichen Drohungen wahr machte. Genau so schlimm war der Gedanke, Serpenta würde ihr den Weg verlegen, sie in eine Ecke drängen und sie bei lebendigem Leib verschlingen. Und sie könnte nirgendwohin fliehen.

Am Ende eines Ganges sah sie den fahlen Schimmer von Mondschein, der durch staubiges Glas fiel. Dann erkannte sie ein großes Tor. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie begann zu rennen, und es war ihr egal, wie laut ihre Schritte schallten. Ein einziger Gedanke beseelte sie: Nur weg hier! Weg aus diesen schaurigen Gängen, die nach Blut und Verwesung rochen.

Als sie das Tor erreichte, prallte sie mit jemandem zusammen. Ihr Herz stockte, doch dann erkannte sie den Federschopf. Es war Kronos. Er hatte Wort gehalten.

Kronos schien sich genauso schlimm erschreckt zu haben wie sie selbst. Er zitterte am ganzen Leib, seine Hände flatterten, als wollten sie von ihm weg fliegen.

„Du bist zu spät“, flüsterte er und rieb seine zittrigen Hände. „Ich habe schon befürchtet, du würdest nicht mehr kommen.“

Er hatte hier alleine auf sie gewartet und die schrecklichen Schreie ebenfalls gehört, das hätte Ryu an seiner Stelle auch ungeduldig gemacht. Sie versuchten das Tor leise zu öffnen, doch es knarrte so unerträglich laut, als sei es vor zweihundert Jahren das letzte Mal geölt worden. Hinter ihnen fiel es mit lautem Krachen ins Schloss.

Draußen goss der große runde Mond sein rötliches Licht über das Land. Es erschien Ryu wild und abschreckend. Hinter dem Osttor dehnte sich ein riesiges Moor aus. Tümpel schillerten ölig, vermoderte Baumstümpfe reckten ihre abgestorbenen Äste wie die Finger von riesigen Gespenstern in die Höhe. Ab und zu schüttelten knorrige Trauerweiden in Windstößen ihr welkes Laub zu Boden. Aus Pfützen und Morastlöchern stiegen Nebelschwaden.

„Müssen wir dort wirklich durch?“, fragte Ryu ängstlich.

„Wir versuchen es“, meinte Kronos. „Pass gut auf, dass du auf den großen Grasbüscheln bleibst und nicht ins Moor trittst.“

Die beiden wateten langsam durch das Moor, ihre Füße versanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln im sumpfigen Untergrund. Wenn sie die Füße daraus hervorzogen, schmatzte das Moor wie ein gieriges Tier. Sie kamen nur langsam voran, manchmal versperrten mehr als mannshohe Inseln aus Schilf ihren Weg, denen sie ausweichen mussten. Je tiefer sie ins Moor eindrangen, desto tiefer sanken ihre Füße im Morast ein. Oft erschraken sie zu Tode, wenn Frösche vor ihnen aufsprangen und mit lautem Platschen in ein Wasserloch sprangen.

Dann wälzte sich aus den Tiefen des Moores eine dichte Nebelbank heran. Ihre Ränder waren noch löchrig, Windstöße rissen Schwaden ab und wirbelten sie hoch hinauf in den nächtlichen Himmel. Dann war der Nebel heran. Er war klamm und kalt und so dicht, dass Ryu und Kronos ihre eigenen Füße nur noch mit Mühe erkennen konnten.

Ryu versuchte, nicht die Orientierung zu verlieren, was ihr immer schwerer fiel. Manchmal glaubte sie, an dieser oder jener Stelle schon mal vorbei gekommen zu sein und fürchtete, dass sie im Kreis gegangen wären.

Plötzlich hielt Kronos sie an der Schulter zurück. „Bewege dich nicht“, flüsterte Kronos und zog sie hinter einen niedrigen Busch..

Ryu hielt den Atem an und horchte in den Nebel hinein. Sie vernahm seltsame Geräusche, die sie nur schwer zuordnen konnte. Manchmal war es ein leises Rascheln, dann plätscherte etwas, ein trockener Ast knackte. Alle die Laute ließen darauf schließen, dass sich jemand anschlich. Plötzlich verstummten die Geräusche, entweder hatten sie sich alles nur eingebildet oder das Wesen dort draußen im Nebel war aus irgendeinem Grund stehen geblieben. Sie warteten noch eine Minute ab, bis sie das Gefühl hatten, dass dort im Nebel nichts Bedrohliches war. Sie wateten weiter durch das schmatzende und glucksende Moor und die einzigen Geräusche, die sie begleiteten, waren die von ihnen selbst verursachten.

Ryu stolperte über einen abgestorbenen Ast und fiel in den aufspritzenden Morast. Kronos, der sich dicht hinter ihr gehalten hatte, wäre um ein Haar von ihr mit zu Boden gerissen worden, konnte sich aber auf den Beinen halten. Ryu spürte, wie ihre Hände immer tiefer Moor versanken und war darauf bedacht, sie schnell wieder herauszuziehen. Kronos hatte das zum Glück bemerkt, packte sie unter den Achseln und zog sie in die Höhe.

Ryu atmete tief durch und streifte sich den Schlick von Armen und Händen. Dann duckten sich beide instinktiv, denn ganz in der Nähe vor ihnen erklang ein Plätschern, dann vernahmen sie hinter sich schmatzende Schritte, die immer näher kamen.

Ryu versuchte, den Nebel mit ihren Blicken zu durchdringen, konnte aber nichts Genaues erkennen. Dann entdeckte sie, dass der Nebel nicht mehr dicht über dem Boden waberte, sondern den Kontakt mit dem Boden verloren hatte. Sie hielt sich an Kronos' Hand fest und duckte sich, um unter dem Nebel hindurch zu schauen.

Sie musste so tief mit dem Kopf hinunter, dass ihre Wange schon den Morast berührte. Hier unten hatte sie eine Handbreit freie Sicht. Ihre Blicke glitten über das schwarze Moor, bis sie gegen etwas stießen, was zwei Stöcke sein konnten. Dann bewegten sich diese Dinger vorwärts und sie erkannte, dass es kein Holz, sondern behaarte Pfoten waren. Die Haare auf den Pfoten waren tief schwarz und glatt. Die Pfoten waren größer und dicker als Menschenhände und konnten unmöglich einem Wolf gehören. Ryu erschauerte. Was kam da auf sie zu und wie gefährlich war es?

Ryu zog sich an Kronos' Hand wieder in die Höhe und zeigte in die Richtung, in der sie dem anschleichenden Wesen entkommen konnten. Sie wateten weiter durch das Moor und versuchten, die Schritte schneller und größer zu setzen, doch es nutzte ihnen wenig. Die Schritte kamen immer näher, was sie in panischen Schrecken versetzte. Weil sie ihre Schritte zu hastig setzten und auf Hindernisse wie Wurzeln und abgestorbene Büsche und Äste nicht mehr achtgaben, stolperten sie und kamen immer langsamer voran.

Ryu vernahm ein tiefes heiseres Knurren, so laut, dass sich die Kopffedern auf Kronos' Schädel senkrecht stellten. Egal, was da hinter ihnen immer näher kam, wenn es solche grässlichen Töne von sich geben konnte, musste es riesig und ziemlich wütend sein. Sie fielen mehrmals hin, krochen durch Dornengebüsch und wateten durch knietiefes Wasser, doch sie konnten das Wesen hinter sich nicht abschütteln. Sein heiseres Knurren wurde zum dröhnenden Grollen, und das Moor wollte einfach kein Ende nehmen.

Dann wurde es wieder still, keine Schritte, kein Knurren, kein Grollen und die beiden Fliehenden atmeten auf. Sie gingen langsam durch das Moor und nach jedem Schritt hielten sie inne, um in den Nebel zu horchen.

Plötzlich war dicht vor ihnen ein lautes Klatschen zu hören. Ryu war vor Schreck abgelenkt, ihr Fuß verfing sich in einer Ranke und sie stürzte der Länge nach hin, der Matsch spritzte hoch auf. Sie konnte direkt unter die Nebelschwaden blicken. Dicht vor ihr starrten sie gelbe Augen aus einem schwarzen haarigen Kopf an. Der Kopf sah aus wie der eines Panthers, aber er war viel größer. Das Tier zog seine Lefzen hoch und bleckte seine riesigen gelben Reißzähne und knurrte laut und böse.

Ryu fühlte sich von Kronos hochgerissen, und als er in ihr Gesicht blickte, erkannte er, dass sie etwas Gefährliches gesehen haben musste. Er raffte einen dicken Knüppel auf und schlug damit in den Nebel, traf aber auf keinen Widerstand. Dann glaubte er, links von sich eine Bewegung im Nebel wahrzunehmen und schleuderte mit großem Schwung den Knüppel dort hin. Er hörte einen dumpfen Aufprall und ein wütendes Fauchen. Ryu fand einen Stein und warf ihn in die gleiche Richtung. Anschließend rannten sie in die Gegenrichtung.

Nach wenigen Schritten gerieten sie an eine Stelle, in der sie bis zu den Knien im Sumpf versanken und nur langsam und mit Hilfe von Ästen voran kamen, an denen sie sich vorwärts zogen. Die große Bestie, die ihnen folgte, hatte ähnliche Schwierigkeiten, denn ihre Pfoten versanken durch das enorme Gewicht noch tiefer im Moor, so dass sie immer mehr zurück blieb.

Nun hatten die beiden Flüchtenden jede Orientierung verloren. Sie wussten nicht mehr, aus welcher Richtung sie kamen und in welcher sie rennen mussten, um dieses schreckliche Moor hinter sich zu bringen.

Jetzt hatten sie wieder ein Stück festen Boden unter den Füßen und kamen schneller voran. Als Ryu einen Blick über die Schulter warf, schälte sich ein schwarzer Schatten aus dem Nebel, ein wildes Fauchen schallte dicht an ihrem Ohr und sie sah, wie Kronos zu Boden gerissen wurde.

Kronos schrie gellend, doch Ryu konnte vor Angst keinen klaren Gedanken fassen. Sie war starr vor Schreck, doch dann zwang sie sich, in Kronos' weit aufgerissene Augen zu blicken, in denen sie Todesangst las. Sie riss sich zusammen, packte Kronos' Hand und zog mit aller Kraft. Doch etwas Anderes zerrte an seinem Fuß, der schon vom Nebel bedeckt war, in die entgegengesetzte Richtung. Sie streckte sich und versuchte ein Bein von ihm zu fassen, fühlte dann aber etwas Nadelspitzes, das sich in ihren Arm bohrte. Der stechende Schmerz setzte erst mit Verzögerung ein, als spitze Krallen ihre Haut aufrissen. Die Welle der heißen Schmerzen war so stark, dass Ryu der Atem stockte. Sie spürte hartes widerborstiges Haar und roch fauligen Atem. Verzweifelt versuchte sie, die Bestie vor sich im dichten Nebel wegzudrücken, sie wollte nicht enden wie die anderen Opfer der Bestie, deren Verwesungsgeruch ihr aus dem Maul des Untiers entgegen schlug. In dieser Sekunde der höchsten Not hatte sie nur ein Verlangen: Ryu wollte weg, nach Hause, wo immer das auch sein mochte, sich mit Freunden treffen, normalen Unterricht haben, etwas lernen, das Sinn machte, und vor allem keine Angst mehr haben.

Doch die Realität sah anders aus. Eine furchtbare Bestie würde ihrem verworrenen kurzen Leben ein Ende setzen.

Ryu konnte die Tränen nicht mehr zurück halten. Sie schossen aus ihren Augen und mischten sich mit dem Blut aus ihrem Arm. Sie fühlte sich zu schwach für diese Welt der Monster, und der Einzige, der wusste, dass sie nicht dieser Welt angehörte, starb hier vor ihren Augen.

Ryu hatte also mit sich und ihrem kurzen Leben Schluss gemacht, als sie ein Fauchen und Brüllen zusammenzucken ließ. Es klang anders als das der Bestie im Nebel. Konnte es möglich sein, dass Kronos diese drohenden Laute ausgestoßen hatte?

Ryu musste zweimal hinsehen, um es glauben zu können, denn Kronos machte eine seltsame Verwandlung durch. Seine Kopffedern richteten sich steil auf und erschienen Ryu viel größer als zuvor, seine Schultern knackten und dehnten sich, dann wuchsen aus ihnen gewaltige Schwingen hervor, die wild zu schlagen begannen. Sein ganzer Schädel dehnte sich, wurde schmaler, seine Nase krümmte sich und wurde zum spitzen Schnabel, der wild um sich zu hacken begann. Seine Füße verwandelten sich ebenfalls und wurden zu messerscharfen Krallen. Dann war Kronos zum riesigen Greif geworden. Dieser Prozess musste für Kronos sehr schmerzhaft sein, denn die Schreie, die er dabei ausstieß, gingen Ryu durch Mark und Bein.

Dann fühlte sich Ryu von den Krallen des Greifen gepackt, er schlug mit den Schwingen, die den Nebel in wilden Wirbeln aufwallen ließen, und erhob sich mit Ryu in die Lüfte. Die Bestie mit dem Panterkopf versuchte die beiden mit einem gewaltigen Satz noch zu erwischen, doch sie sprang zu kurz.

Kronos hatte eine stattliche Gestalt, sein Gefieder war bläulich und sein Fell war goldbraun. Sein Adlerkopf war von einem Kragen aus Federn umgeben, dem sich ein dichtes seidiges Fell anschloss. Er hatte keinen Löwenschwanz, so wie sich Ryu einen Greif vorstellte, sondern einen Stoß wie der eines Vogels.

Kronos flog über dem Nebel, der wie eine weiße Suppe unter ihnen brodelte. Sie konnten weder das Schulgebäude noch das Moor unter sich sehen, nur den Nebel, der in seiner Endlosigkeit die ganze Welt zu bedecken schien. Selbst Kronos fand mit seinen scharfen Adleraugen nichts, an dem er sich orientieren konnte.

Er flog dicht über dem Nebel, in dem sich keine Lücke auftat, durch die er spähen konnte. Dann drehte er einen großen Bogen, um wenigsten von der Stelle wegzukommen, an der die Bestie ihnen aufgelauert hatte.

Der große runde Mond schien fahl und wie am Himmel festgewachsen, die Sterne glitzerten kalt und stumm. Von dort war auch keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil, aus der Höhe fauchten heftige Windstöße und drückten Kronos in die Tiefe. Erste Nebelfetzen griffen nach ihnen.

Nur nicht zurück in dieses teuflische Moor, dachte Ryu, als der Flug des Greifen immer instabiler wurde. Er taumelte im Flug, drehte sich erst auf die linke, dann auf die rechte Seite. In den Nebelfetzen, in die sie jetzt ganz eingetaucht waren, erkannte Ryu ein paar Fledermäuse, die ihre spitzen Zähne in Kronos' Fell schlugen. Es wurden immer mehr, sie bedeckten schon die Hälfte seines Leibes. Seine Schwingen schlugen immer kraftloser und Kronos versank im Nebel, aus dem ein grässliches Grollen schallte. Die Bestie, von der sie im Moor gejagt worden waren, hatte ihre Spur nicht verloren und erwartete sie, um ihr blutiges Werk zu vollenden.

„Flieg höher, unter uns ist die Bestie“, schrie Ryu, doch so sehr sich Kronos auch bemühte, er schaffte es nicht. Die kleinen Fledermäuse hatten sich auf seine Schwingen gesetzt und begannen, mit Klauen und Zähnen seine Federn auszureißen. Er versuchte sie durch heftiges Schlagen seiner Flügel abzuwerfen, doch die Fledermäuse ließen nicht locker.

Ryu baumelte an Kronos' Krallen. Ihre Füße streiften schon die Spitzen von abgestorbenen Bäumen und Büschen. Dann glaubte sie im weißen Nebel die gelben Augen der Bestie zu sehen.

Sie hatte schon zum zweiten Mal in dieser Nacht mit ihrem Leben abgeschlossen, als sie ein Geräusch wie elektrisiert zusammenzucken ließ. Es war ein lang gedehntes auf- und abschwellendes Geräusch, das schnell näher kam.

„Kronos, das Geheul die Wölfe, es kommt von dort“, rief sie und zeigte dem Greifen die Richtung an. Die Wölfe hatten ihr Revier nahe der Schule, jedenfalls dort, wo es kein Moor gab. Dort würden sie sich auskennen und ein Versteck finden, in dem sie vor der Bestie sicher waren.

In einer letzten großen Kraftanstrengung schwenkte Kronos in die Richtung, die Ryu ihm angezeigt hatte, der Nebel wurde lichter, und Ryu konnte die spitzen Dächer, die Brücken und Kamine des verwinkelten Schulgebäudes erkennen. Kronos musste nur noch kurz durchhalten, dann hätten sie das Schulgelände erreicht.

Zum ersten Mal war Ryu erleichtert, die Schule zu sehen, aus der sie vor noch nicht allzu langer Zeit geflohen war. Ryu atmete auf. Gleich würden sie in Sicherheit sein. Der Weg durchs Moor hatte sich als Irrweg herausgestellt. Sie würden es in einer anderen Richtung versuchen müssen.

Kurz vor der Schule wollte Kronos noch einmal in einer Steilkurve nach oben ziehen, denn die Fledermäuse schienen die Nähe der Schule nicht zu mögen und ließen von ihm ab, aber da geschah es. Mit einem gewaltigen Satz gelang es der Bestie, Ryus Füße zu packen. Kronos, der sie noch immer festhielt, geriet ins Trudeln, dann stürzte er ab. Seine Krallen gaben Ryu frei, die in der Luft einen Salto drehte und ziemlich unsanft auf einem Hügel landete. Neben ihr fiel Kronos auf die Erde, eine Wolke abgerissener Federn hüllte ihn ein.

Noch ehe Ryu wieder auf die Beine kam, schälte sich die Bestie aus dem Nebel. Ihre Augen glühten wie gelbes Feuer, weißer Schaum flog ihr vom Maul, sie scharrte mit den Krallen in der Erde, ihr mit spitzen Stacheln besetzter Schweif peitschte den Grund.

Kronos hatte sich auch wieder aufgerappelt, erhob sich zu voller Größe auf die Hinterbeine und stellte sich schützend vor Ryu. Dann schlug er mit den von den Fledermäusen arg gerupften Schwingen, wobei er spitze Schreie ausstieß, um der Bestie zu imponieren.

Zuerst wich die Bestie einen Schritt zurück, doch dann erwiderte sie das Gebrüll, senkte angriffslustig den gewaltigen Panterschädel und schlich näher.

Ryu blickte sich um, der Boden war fest, Erdhügel und Felsbuckel bildeten einen welligen Abhang zur Schule hin, deren Gebäude noch mindestens zweihundert Meter entfernt lagen. Wenn man das Moor mit seinem Morast und den öligen Tümpeln in Erinnerung hatte, sah es hier aus wie auf einem fremden Planeten.

Ein noch stärkeres Gebrüll schallte plötzlich aus dem unübersichtlichen Gelände. Die Bestie aus dem Moor duckte sich, legte die Ohren flach an den Hinterkopf und ihr aggressives Fauchen wurde zum kläglichen Maunzen. Sie klemmte den Schwanz ein, machte einen Satz zurück und rannte in den Nebel, dem sie entsprungen war. Was hatte dieser mächtigen Bestie solche Angst eingejagt?

Kronos wiegte seinen Kopf hin und her und äugte mit seinen scharfen Adleraugen durch die Nacht. Die Dächer des Schulgebäudes ragten hinter einer Barriere aus Felsbrocken und Geröll auf. Wenn sie diese überwunden hätten, könnten sie vielleicht in die Schule schlüpfen und sich vor der neuen Gefahr, die da auf sie zukam, verstecken.

Beide hatten wohl das Gleiche gedacht, aber als sie auf die Felsbarriere zu rannten, erhob sich auf ihrem Kamm ein gewaltiges Raubtier. Es hatte braunes Fell, einen eckigen, kantigen Schädel, aus dem große geschwungene Hauer hervor ragten. Ryu rieb sich die Augen und glaubte, ihre Phantasie hätte ihr einen Streich gespielt. Aber als sie wieder zur Spitze der Felsbarriere sah, stand da immer noch ein leibhaftiger Säbelzahntiger. Wie konnte das möglich sein, dass es noch ein lebendes Exemplar dieser längst ausgestorbenen Spezies gab? Denn dass es lebte, bewies es dadurch, dass es sich auf die Hinterbeine erhob, mit den Tatzen durch die Luft schlug und ein furchtbares Gebrüll ausstieß.

Der Säbelzahntiger griff nicht auf direktem Weg an, tat aber alles, um ihnen die Flucht zur Schule unmöglich zu machen. Wollten Ryu und Kronos rechts an ihm vorbeilaufen, bewegte er sich mit ein paar mächtigen Sprüngen nach rechts und verstellte ihnen den Weg, versuchten sie es nach links, war auch hier der Säbelzahntiger schon da und fauchte sie an.

Ryu wusste, dass Kronos keine Chance gegen dieses große Raubtier hatte. Er war vom Flug erschöpft, seine Flügel waren verletzt und er blutete aus vielen kleinen Wunden, die ihm die Fledermäuse gerissen hatten. Sie mussten eine andere Möglichkeit finden, um an dem gefährlichen Raubtier vorbei zu kommen.

Ryu nahm all ihren Mut zusammen und rannte geradewegs auf den Säbelzahntiger zu. Dabei schrie sie gellend und so laut sie konnte. Der Säbelzahntiger duckte sich, er schien verunsichert und wich zur Seite aus, aber nicht weit genug, dass Ryu gefahrlos an ihm vorbeigekommen wäre. Ryu drehte eine enge Kurve und rannte nun schreiend in die entgegengesetzte Richtung, aber sie war zu langsam und kam nicht am Raubtier vorbei.

Jetzt schlug Ryu eine andere Taktik ein, die der felsige Untergrund ermöglichte. Sie rannte durch Spalten und Rinnen, für die der Säbelzahntiger zu groß war. Aber auch dies half ihr nur wenig, denn das Raubtier sprang einfach über die Rinnen und Spalte hinweg und war, wenn die Hohlgänge endeten, wieder in ihrer Nähe und blies ihr seinen heißen Atem ins Gesicht. Ryu war verzweifelt, und fürchtete, dass sein nächster Tatzenhieb sie zermalmen würde.

Ryu flüchtete sich mit knapper Not in eine schmale Rinne, durch deren enge Öffnung nur wenig Mondlicht drang. Hier fühlte sie sich vor dem monströsen Raubtier einigermaßen sicher, doch hinter dem nächsten Vorsprung weitete sich der Spalt. Zu spät bemerkte sie, dass der große Schatten des Säbelzahntigers auf sie herab fiel, dann zuckte einer seiner breiten Pfoten in die Tiefe, seine Krallen rissen ihre Schulter auf. Ryu machte einen Hechtsprung in die Abzweigung vor ihr. Hier standen die Wände so dicht zusammen, dass die Pfoten des gewaltigen Räubers nicht hindurch passten. Das Adrenalin in ihrem Körper war so stark, dass Ryu keinen Schmerz spürte.

Sie kroch in die nächsten Spalte, die so schmal war, dass sie sich nicht frontal, sondern, die Schulter voraus, nur seitlich voran bewegen konnte. Am Ende dieses Spalts bemerkte sie den Schatten des Raubtiers, das sie dort erwartete. Ryu klaubte einen faustgroßen Stein mit einem langen spitzen Ende auf, der wie ein Dolch in der Hand lag. Er oder ich, dachte sie.

Das gewaltige Raubtier duckte sich zum Sprung, als Ryu das Ende des engen Spaltes erreichte, und flog knurrend auf sie zu. Ryu holte aus, rammte die lange Spitze des Steins in die Brust des Ungeheuers und ließ sich zur Seite fallen, damit der schwere Leib sie nicht unter sich begrub. Es brüllte vor Wut und Schmerz und schlug wild und ziellos mit den riesigen Tatzen. Dann knickten seine Vorderläufe ein, Blut spritzte in einer hohen Fontäne aus seiner Wunde. Dann wurde der Säbelzahntiger ruhiger, wälzte sich auf die Seite und starrte Ryu mit seinen gelben Augen an. Diese Augen waren so anders als die der Bestie aus dem Moor, fand Ryu. Gewiss, sie blickten wild und ungezähmt, aber es waren nicht die Augen einer Bestie, sondern die einer Kreatur, in denen sich Gefühle spiegelten, Gefühle, wie auch Ryu sie kannte.

Der Säbelzahntiger öffnete sein Maul und hervor schallten Laute, die kein Fauchen, kein Knurren, kein Maunzen waren. Es waren Worte, die dieses Wesen murmelte. Und in seinen Augen las Ryu die Todesangst, die Schatten über seine Blicke legten.

Nein, dachte Ryu, das Wesen, das sich dort vor ihr wälzte, war kein gewöhnliches Raubtier, es war ein Gestaltenwandler, der im Angesicht des Todes seine wahre Identität preisgab.

Sie wich mehrere Schritte zurück, und ein tiefes Bedauern bemächtigte sich ihrer Seele. Was hatte sie getan? Hatte es keine andere Möglichkeit gegeben als diesem Wesen den Tod zu bringen? Er war ein Jäger und handelte instinktiv, sie gab ihm nicht die Schuld für ihre Wunden. Dies war eine Welt, in der fressen und gefressen werden das Gesetz alles Lebens war. Und sie, Ryu, gehörte auch zu dieser Welt. Und wenn sie die Chance hatte, in einem solchen Kampf zu überleben, dann war Töten der Preis dafür.

Der Säbelzahntiger kam taumelnd wieder auf die Beine, er schüttelte sich, sein Blut spritzte auf die Steine, und als er nach Ryu tatzelte, tat er es mit erlahmenden Kräften. Aber Ryu wusste, er würde die Jagd erst verloren geben, wenn der Tod seine Blicke bräche.

Sie rannte zu Kronos, der sie mit einem freudigen Flügelschlagen empfing und beide machten sich daran, die Felsen hinauf zu klettern, hinter ihnen war ein Knurren zu hören, das in ein Fauchen und dann in ein klägliches Maunzen überging. Das Wesen hinter ihnen wollte etwas mitteilen, doch es konnte sich nicht verständlich machen. Als auch das klägliche Maunzen erstarb, blickte sich Ryu beim Klettern um. Der Säbelzahntiger hatte die Hälfte der Felsbarriere überwunden, doch jetzt verließen ihn die Kräfte. Seine gelben Augen brachen, als der Tod ihn erreichte, er streckte seinen Leib ein letztes Mal, dann kullerte er leblos den steilen Geröllhang hinab.

Kronos ging voran, das letzte Stück war das steilste, Ryu hätte es aus eigener Kraft nicht überwunden, doch Kronos zog sie auf die Krone der Barriere hinauf. Sie hatten es bald geschafft und brauchten auf der anderen Seite nur noch den Abhang hinunter und dann über ein Stück Wiese. Doch als Kronos den ersten Schritt in den Abhang setzte, gab der Boden unter seinen Krallen nach und er riss im Fallen Ryu mit sich in eine bodenlose finstere Tiefe.

Blut zu Blut

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