Читать книгу Blut zu Blut - Janaina Geismar - Страница 9

Kapitel 7

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Ryu schlug die Augen auf, die eintönige Zugfahrt hatte sie müde gemacht und eingeschläfert. Jetzt hatte der Zug angehalten. Er stand an einem verlassenen Bahnsteig.zwischen dessen verwitterten Betonplatten hohe Gräser wuchsen. Ein Windstoß wirbelte vergilbte Papierfetzen hoch auf. Eine blecherne Automatenstimme gellte durch die Abteile: „Endstation! Endstation!“ Eine Tür des Zuges war geöffnet. Ryu stand auf, schleppte den Koffer durch den leeren Gang und stieg aus. Eine einsame Lampe, die an einem Kabel über dem Ausgang hing, schickte ihr fahles Licht, gerade hell genug, um zu erkennen, was auf dem Zettel stand, den sie aus der Tasche gekramt hatte. Darauf standen eine Wegbeschreibung und eine kleine Abbildung. Ryu mutmaßte, die Abbildung könne ein Wappen darstellen, die Kreatur in der Mitte des Wappen hielt sie für einen dreiköpfigen Hund, aus dessen Mäulern lange Flammenzungen ragten. Als sie sich umsah, entdeckte sie ein kleines Mädchen, das am Ende des Bahnsteigs wartete. Jetzt schien das kleine Mädchen Ryu entdeckt zu haben und winkte ihr mit seiner Puppenhand heftig zu. Dann setzte sich das Kind in Bewegung, zuerst wie in Zeitlupe und unendlich langsam, dann nahm es Geschwindigkeit auf und stand wie im Nu vor ihr, wobei die Luft rings um sie flirrte, als sei sie elektrisch aufgeladen.

Dieses Mädchen sah irgendwie putzig, aber auch furchteinflößend aus. Es hatte platinfarbene lange Haare, die Augen waren rotbraun und ungewöhnlich groß. Auf den ersten Blick fielen Ryu ihre langen, spitz gefeilten und stark gekrümmten Fingernägel auf. Es trug ein etwas altmodisches rotes Kleid mit weißen Rüschen, das sie komplett wie eine Puppe aussehen ließ. Ihre Haut war von extremer Blässe und ihr Mund war knallrot. In ihren Händen hielt sie ein Kuscheltier, das wie ein geflügelter Hund mit langen Ohren und gefletschten Zähnen aussah.

So, wie das Kind dort stand, machte es einen hilflosen und verlorenen Eindruck, doch seine lauernden Blicke sprachen von Heimtücke und Verschlagenheit. Das Mädchen setzte eine kleine Tasche ab, die es in der linken Hand gehalten hatte, und streckte langsam einen ihrer unnatürlich langen, schneeweißen Finger aus und berührte Ryu vorsichtig, als wolle es sich überzeugen, ob Ryu auch echt und kein Trugbild war. Eine Spur von einem triumphierenden Grinsen huschte über sein Gesicht, das etwas so Böses und Verderbtes ausstrahlte, dass Ryu unwillkürlich zurück zuckte.

Nun fiel Ryu auf, wie klein das Mädchen in Wirklichkeit war, jedoch bewegte und benahm es sich wie eine Erwachsene.

„Mein Name ist Larea Rot, nett dich kennen zu lernen“, sagte das Mädchen mit einer süßen, aber festen und fordernden Stimme und hielt Ryu ihre Hand mit den ungewöhnlich langen Fingern und den spitzen gebogenen Fingernägeln hin.

Ryu schüttelte die Hand, sie war angenehm glatt und kühl. „Ich heiße Ryu Etoile und bin froh, dass ich nicht ganz allein auf diesem öden Bahnsteig bin. Ähm... weißt du vielleicht, wo wir hier sind?“, fragte Ryu.

Larea legte ihren Kopf ein wenig zur Seite und schielte treuherzig zu Ryu hinauf wie ein Hund, der nicht genau weiß, was er anstellen soll. „Du weißt nicht, wo wir sind? Und doch hast du das Siegel der Schule dabei? Komisch, na ja, wir sind in Ostdeutschland. Genau in Nienhagen, die Schule, die wir besuchen werden, befindet sich im Geisterwald.“ Larea beugte sich zur Seite und wies mit einem ihrer unendlich langen Finger in die Ferne, in der man gegen den nachtblauen Himmel die düstere Silhouette eines Waldes erkennen konnte.

„Leider kann man sich in diesem Wald sehr leicht verlaufen und es ist für uns unmöglich, das Sicherheitssystem der Schule zu durchbrechen“, sagte Larea. Ryu fragte sich, was Larea mit der Schule meinte und warum eine Schule überhaupt so ein Sicherheitssystem brauche, doch sie traute sich nicht, dem kleinen Mädchen irgendwelche weiteren Fragen zu stellen, denn Lea hatte leise zu knurren begonnen und hieb wie selbstvergessen ihre spitz gefeilten Fingernägel in die Luft, wobei sie ihren Oberkörper hin und her wiegte. Mal wirkte sie auf Ryu wie ein ungeduldiges Kind, im nächsten Moment aber wie ein gefährliches kleines Monster. Ryu wartete ab und setzte sich auf ihren Koffer.

Nach einer Weile beruhigte sich Larea wieder, holte aus ihrer Tasche eine Aluminium- Trinkflasche hervor und nippte daran. Ryu fiel ein, dass sie das letzte Mal vor mehr als einem Tag etwas getrunken hatte, ihre Lippen waren schon spröde und eingerissen und ihr Rachen war ganz trocken und kratzte schlimm. Als könne sie Gedanken lesen, hielt Larea ihr die Flasche hin. Ryu lächelte sie an und nahm dankend die Flasche an. Schnell nahm sie einen kräftigen Schluck, um ihren Rachen zu befeuchten und zuckte voller Ekel zusammen. Die Flüssigkeit schmeckte metallisch und schleimig und als sie sich instinktiv über den Mund wischte, war ihre Innenhandfläche mit blutroten Schlieren bedeckt.

Hastig und mit einer Geste des Abscheus gab sie Larea die Flasche zurück, worauf das Mädchen sie ungläubig anstarrte.

Sie legte wieder ihren Kopf schräg auf die Schulter. „Weißt du, du benimmst dich ziemlich komisch“, sagte sie vorwurfsvoll und starrte Ryu kopfschüttelnd an. „Alle mögen mein Lieblingsgetränk und finden es köstlich.“

Ryu wandte sich ab und presste die Hand vor den Mund. Ihr war schlecht und sie brauchte ihre ganze Überwindungskraft, um sich nicht zu übergeben.

Ein fernes Donnergrollen kündete von einem Gewitter, Wetterleuchten geisterte über dem Wald, starke Windstöße jaulten um das düstere verlassene Bahnhofsgebäude. Ryu starrte zum Himmel. Der Mond hatte sich blutrot gefärbt, Sturmgewölk jagte herbei, in der Nähe schlug ein Blitz ein. Als der ohrenbetäubende Donnerschlag verhallt war, vernahm Ryu ein vielstimmigen Fiepen und unter dem Zug sprang eine Schar Ratten hervor und rannte auf sie zu. Larea machte ein paar Schritte auf die Nager zu und streckte ihre weiße Puppenhand mit den unendlich langen Fingern gegen sie aus. Die Ratten hielten inne und duckten sich. Dann machten sie kehrt und verschwanden wieder unter dem Zug.

Der Wind wurde zum Sturm, der die Wipfel der Bäume tief nach unten drückte. Dann setzte sich der schmutzstarrende rostige Zug quietschend und rasselnd in Bewegung und holperte auf den Gleisen davon. Als die Gleise frei waren, krabbelten unzählige Ratten über den Schienenstrang, der sich in Sekundenschnelle in einen Fluss aus pelzigem braunem Fell verwandelte.

Ein langgezogenes schauriges Geheul schallte vom nahen Wald herüber. Larea war genauso überrascht wie Ryu. Im gleißenden Licht der Blitze leuchteten Augen am Waldrand auf. Dann lösten sich drei dunkle Gestalten, drangen durch das Buschwerk und rannten auf den Bahndamm zu.

Als das fahle Licht der Lampe sie erfasste, entpuppten sie sich als drei schwarze Hunde. Es waren große Hunde, so groß wie Deutsche Doggen, und sie hatten rote Augen, was untypisch für Hunde ist. In einiger Entfernung blieben sie stehen und fixierten die beiden Mädchen, weiter schienen sie sich nicht heran zu wagen. Plötzlich spürte Ryu eine Berührung an ihren Arm. Larea hatte sich an sie gelehnt und ihre weit aufgerissenen Augen waren voller Angst. Mit einer furchtsamen Geste zeigte das kleine Mädchen auf die großen schwarzen Tiere.

Die Hunde hatten die Köpfe gesenkt, sie scharrten mit den Pfoten, ihr Nackenhaar sträubte sich, der Wind trieb Schaum und Seiber von ihren Lefzen. Ryu rechnete damit, dass diese Bestien im nächsten Moment los rennen und sie zerfleischen würden. Doch plötzlich spitzten sie ihre Ohren, sprangen herum und starrten gespannt in den Wald. Es dauerte eine Weile, dann teilte sich das Buschwerk, eine hohe vornüber gebeugte Gestalt trat ins Freie. Ihre Kleidung war schwarz, so dass man sie nicht genau erkennen konnte. Die Gestalt kam schnellen Schrittes näher. Als eine Kaskade von Blitzen ein gleißendes Spinnennetz über den Himmel warf, konnte man Einzelheiten erkennen. Es war ein großer knochiger Mann, er hatte eine Glatze, seine Augen waren wie große schwarze Löcher, so als würde die Pupille die ganze Iris und die Hornhaut bedecken.

Auf seiner linken Gesichtshälfte verlief eine große gezackte Narbe, die über das Auge reichte. Aus seinen breiten Schultern ragte ein kurzer, stiernackiger Hals, auf dem ein kantiger Schädel thronte. Die drei Hunde liefen zu ihm, sprangen um ihn herum und wedelten mit den Schwänzen.

„Man hat mich geschickt, um euch abzuholen“, grollte eine tiefe Stimme. „Mein Name ist Surebrez Gate, ich bin der Hausmeister eurer neuen Schule. Diese drei Wölfe hier sind meine Assistenten, ich rate euch, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Nun folgt mir, es ist schon spät und der Unterricht beginnt morgen schon recht früh.“

Ohne die Reaktion der beiden Mädchen abzuwarten, machte der seltsame Mann auf dem Absatz kehrt und schritt, gefolgt von den drei Wölfen, auf den Wald zu. So, als sei es eine Selbstverständlichkeit, nahm Larea ihre Tasche, kletterte vom Bahnsteig und folgte dem Mann.

Ryu war unschlüssig, bei dem Gedanken an den furchtbaren Mann, den grässlichen Wölfen und dem finsteren Wald schauderte sie. Aber die Alternative war, einsam und allein auf diesem öden Bahnsteig zu bleiben. Als die Ratten begannen, übereinander zu springen und so aus dem Bahngleis drangen, packte sie ihren Koffer und rannte Larea nach. Sie achtete nicht auf die hohen Disteln, die ihre Beine zerkratzen, denn sie wollte den Hausmeister und Larea noch vor dem Waldrand erreichen, was ihr in letzter Sekunde gelang.

Jetzt liefen die Wölfe voraus. Sie schienen jeden Meter des Waldes gut zu kennen. Ryu konnte keinen Weg, nicht einmal einen Trampelpfad erkennen. Die Stämme der Bäume waren nass und glänzten, wenn der rote Vollmond durch das Sturmgewölk am Himmel lugte, wie mit Blut besprüht. Als sie eine schmale Lichtung überquerten, hielt Ryu kurz an und starrte hinauf zum roten Vollmond. Sie war sicher, einen solch ungewöhnlichen Mond zuvor schon einmal gesehen zu haben, aber sie erinnerte sich nicht, wann und unter welchen Umständen.

Wenige Meter hinter der schmalen Lichtung, gab ihnen Surebrez Zeichen anzuhalten. Ryu bemerkte einen mehr als fünf Meter hohen Zaun, dessen Krone mit Stacheldrahtrollen behangen war. Eine Tür oder wenigstens einen Durchlass konnte Ryu nirgends entdecken. Der Hausmeister griff in seine Jackentasche und holte einen schwarzen, vielfach gezackten Stein hervor. Sobald er den Stein an den Zaun hielt, geschah etwas Merkwürdiges. Der Stein wurde hell und leuchtete wie weißes Feuer. Er ging den Zaun ab, bis der Stein aufhörte zu leuchten, und tippte dort gegen den Zaun.

Mit einem leisen Surren öffnete sich der Zaun. Ohne zu zögern und als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, ging der Hausmeister durch die Lücke. Dann winkte er den beiden Mädchen, ihm zu folgen. Als Ryu durch die Lücke ging, lief ein schmerzhaftes Kribbeln durch ihren ganzen Körper, und sie merkte, wie sich das Haar auf ihrem Kopf senkrecht stellte. Zum Schluss folgten die Wölfe. Sie machten sich ganz flach, legten die Ohren an und jaulten leise. Es war ihnen sichtlich unangenehm, die Lücke im Zaun zu passieren. Kaum waren alle hinter dem Zaun, als er im Bruchteil einer Sekunde zuschnappte und sich schloss, was Ryu an die Blüte einer fleischfressenden Pflanze erinnerte, wenn sie ein Insekt gefangen hat.

Der Platz hinter dem Zaun war neblig und der Boden bestand aus Schlamm, in dem die Füße tief einsanken und der das Vorankommen beschwerlich machte.

Sie marschierten eine gefühlte Ewigkeit und auf verschlungenen schmalen Wegen voran. Dann passierten sie einen See, dessen Steilufer mit übel riechenden schleimigen Pilzen bewachsen war. Eine Schaumspur und Wellenlinien durchzogen das schwarze Wasser, als würde etwas Großes darin schwimmen.

Wenig später hielten sie in den Schatten eines riesigen Gebäudes an. Es hatte die Form eines neugotischen Schlosses mit himmelragenden, spitzen Türmen, deren einzelne Teile mit abgründigen Brücken verbunden waren. Zwischen den Flügeln des Gebäudes waberten Nebelfetzen, so dass Ryu sich keinen Gesamteindruck verschaffen konnte. Aber was sie erblickte, war unheimlich und nicht gerade einladend.

An manchen Vorbauten hingen kleine zierliche Kreaturen herunter, die wie Fledermäuse aussahen. Dann huschte aus einer nahen hohen Wiese ein Dutzend Ratten hervor und beschnupperte ihre Schuhe. Sie ließen sich auch nicht stören, als die Mädchen nach ihnen traten, wichen ein paar Meter zurück und rannten sofort wieder auf sie zu, sobald sich die Mädchen ruhig verhielten.

Surebrez öffnete mit einem langen Schlüssel ein hohes Tor, das sich knarrend und nur schwer öffnen ließ. Hinter der Tür stand ein Mann, der in einen schwarzen Mantel gehüllt war. Ryu erkannte ihn sofort. Das war der Mann, der unter dem Baum vor dem Krankenhaus gestanden hatte. Sie starrte ihn mit Entsetzen an und bemerkte erst jetzt, wie groß er eigentlich war. Seine Augen waren gefühllos und grau und ohne jede Spur von Blau- oder Brauntönen. Auf seiner Schulter saß eine Ratte, die sich gerade putzte. Er starrte Ryu ins Gesicht und machte dann schweigend Platz, damit die Ankömmlinge passieren konnten. Surebrez betrat als Erster den Innenraum, Larea und Ryu folgten ihm. Die Wölfe blieben draußen und rannten davon.

Vor ihnen lag ein langer blutig roter Teppich, der eine breite Treppe nach oben bedeckte. Surebrez warf dem Mann im schwarzen Mantel einen bösen Blick zu und stieg ächzend die Treppe hinauf. Larea und Ryu folgten ihm. „Da hinein“, sagte Surebrez und zeigte auf einen schmalen dunklen Gang. „Dort ist euer Zimmer, es hat die Nummer 13, sie steht auf der Tür. Im Zimmer packt ihr eure Sachen aus, räumt sie in die Schränke, wascht euch und geht zu Bett. Morgen ist um fünf Uhr Wecken, es bleibt euch nicht viel Zeit, denn der Unterricht beginnt bereits um sechs Uhr. Lageplan der Schule und euer Stundenplan befinden sich auf eurem Zimmer. Ich würde mich beeilen, zu eurer Information, es ist bereits drei Uhr morgens.“

Ryus Augen weiteten sich, sie hatten nur zwei Stunden Schlaf? Was sollte denn das für eine Schule sein? Larea nahm es gelassen und schlenderte summend den Gang entlang. Ryu warf dem Hausmeister einen letzten Protestblick zu und rannte ihrer Zimmergenossin nach. In dem schmalen Flur war es fast dunkel, es roch muffig, von der Decke hingen Spinnweben und jeder ihrer Schritte wirbelte Staubwolken auf. Larea blieb an einer Tür stehen und starrte sie an. Auf die Tür war mit blutroter Farbe eine riesige 13 geschmiert worden. Sie öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Vor ihnen lag ein schmales Zimmer, an einer Wand ein Hochbett, ihm gegenüber zwei schmale Kleiderschränke, in einer Ecke war ein winziges Bad mit Dusche und WC abgetrennt. Sie gingen hinein, stellten ihr Gepäck ab und packten ihre Sachen in die beiden Schränke.

Larea wählte wortlos das obere Bett, kletterte hinauf und kroch sofort unter die Decke.

Ryu setzte sich auf das Bett, das bei der kleinsten Bewegung lautstark knarrte. Das Bettzeug war feucht und roch unangenehm. Überhaupt machte das ganze Zimmer einen lieblosen Eindruck wie das Zuhause für ungebetene Gäste, die man schnell wieder los werden will. Ryu war überhaupt nicht müde und versuchte erst gar nicht einzuschlafen, stattdessen nahm sie die Pläne zur Hand. Die Schule war riesig, sie hatte viele Nebengebäude, die durch endlose Flure miteinander verbunden waren. Sie würde sich niemals alles merken können.

Draußen ertönte lautes Geheul, die drei Wölfe schienen ganz in der Nähe herum zu streunen. Als nächstes studierte sie den Stundenplan, er war merkwürdig, da waren Fächer aufgeführt wie Artenkunde, Chi oder Klassenteilung. Fremdsprachen oder Mathe waren gar nicht aufgelistet. Aber eines nahm sie sich schon jetzt vor, sie musste den Direktor sprechen, hier lag eindeutig ein Missverständnis vor, denn sie gehörte ganz bestimmt nicht auf diese Schule. Schließlich war sie einfach so in einen Zug geschubst worden. Und nachdem sie ausgestiegen war, hatte sie keine andere Wahl, als den anderen zu folgen, sonst stünde sie immer noch auf dem gottverlassenen Bahnsteig. Bestimmt hatte man sich geirrt und jemand anderes erwartet. Das ließe sich gewiss leicht aufklären, sie brauchte nur zum Schuldirektor zu gehen, der in den Akten nachschauen würde. Danach würde sie dieser seltsame Hausmeister bestimmt wieder zum Bahnhof bringen. Aber so wirklich tröstete sie diese Vorstellung nicht, denn wo sollte sie dann hin? Trotzdem legte sie den Stundenplan wieder weg, denn den brauchte sie auf keinen Fall.

Stattdessen studierte sie erneut den Lageplan und suchte das Büro des Schulleiters, denn da wollte sie morgen früh als erstes hin. Draußen wurde es langsam hell und der Wecker fing an zu klingeln. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn überhaupt gestellt zu haben. Sie ließ ihn klingeln und sah Larea zu, die sich in ihrem Bett hin und her wälzte, aber keine Anstalten machte aufzustehen. Ryu dehnte und reckte sich, wusch sich das Gesicht und machte sich auf den Weg zum Büro des Direktors.

Das Büro war nicht weit weg, der Weg dorthin einfach, auf den Fluren begegnete ihr keine Menschenseele. Schließlich hielt sie vor einer blutrot gestrichenen Holztür, in der in steilen, gotischen Lettern stand: Schuldirektor Helios Lucifer. Ein eigenartiger Name für den Direktor einer Schule, dachte Ryu. Sie klopfte an die Tür und hatte nicht viel Hoffnung, dass der Direktor schon zu so früher Stunde anwesend war, aber zu ihrer Erleichterung bat eine tiefe Stimme sie hinein.

Als sie die Tür öffnete und den Raum betrat, hatte sie Bücherschränke, einen Konferenztisch und zumindest einen Computer erwartet. Nichts dergleichen fand sie vor. Statt dessen musste sie sich ihren Weg durch Stapel staubiger Akten, die den ganzen Boden bedeckten, zu einem blutroten monströsen Schreibtisch suchen. Dahinter saß ein großer alter Mann. Er hatte ein rotes und ein schwarzes Auge, was Riu irritierte. Vielleicht hatte der Direktor ja eine seltene Augenkrankheit, dachte Ryu. Der Direktor schien ihr uralt, vielleicht war er sogar der älteste Mensch, den Ryu je zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte langes eisgraues Haar, das in dünnen Strähnen bis auf seine Schulter hing. Sein schmales Gesicht war unendlich lang und lief in ein merkwürdig spitzes Kinn zu. Seine rechte Gesichtshälfte war von so vielen Fältchen und Runzeln durchzogen, wie es Ryu zuvor noch nie an einem Menschen gesehen hatte. Hingegen war seine linke Gesichtshälfte ganz glatt und von einem durchscheinenden Weiß, durch das ein Geflecht von schwarzen Adern schimmerte, die alle gebündelt in seinem schwarzen Auge mündeten. Seine Augen lagen einen fingerbreit tief in den Höhlen, was seinem Blick etwas Starres und Durchdringendes verlieh. Er trug einen schwarzen Anzug, darunter ein weinrotes Hemd. Der Direktor schlug ein großes schwarzes Buch zu, was einen ohrenbetäubenden Knall verursachte. Ein Staubwolke wirbelte hoch und hüllte den Direktor ein. Aus der Staubwolke stach plötzlich eine faltige Hand hervor, deren Rücken mit dicken feuerroten Borsten bedeckt war, ein langer Finger, dessen Nagel schwarz lackiert war, zeigte vor dem Schreibtisch auf einen winzigen Stuhl, der für Zwerge gemacht schien, und eine tiefe kehlige Stimme raunzte: „Setzen!“

Ryu setzte sich auf den winzigen Stuhl und schielte zum Schreibtisch hinauf, über dem die Staubwolke langsam zu Boden sank.

„Was ist dein Anliegen, Schülerin?“, grollte die Stimme von oben herab, wobei der Direktor hinter sich griff, ein Bündel staubiger Blätter von einem Stapel nahm und damit begann, sie in fliegender Hast umzublättern und danach jedes einzelne Blatt über die Schulter warf. Jetzt war Ryu absolut sicher, dass sie nie wieder einen so merkwürdigen Schuldirektor zu Gesicht bekommen würde.

Ryu riss sich zusammen und atmete tief durch, es war viel geschehen, aber nun würde alles wieder in Ordnung kommen. „Sprich“, raunzte der Direktor, beugte sich über den Schreibtisch vor und schaute sie mit seinem schwarzen Auge an, wobei er das rote zukniff.

„Also, ich wollte melden, dass ich an Ihre Schule überhaupt nicht hingehöre, man muss mich mit einer anderen Schülerin verwechselt haben, die man hier in der Schule erwartet hat. Es verhält sich nämlich so, dass ich ohne mein Zutun einfach in einen Zug geschubst wurde und der ist plötzlich losgefahren. Im Zug bin ich eingeschlafen. Als ich aufwachte, hielt der Zug. Ich bin ausgestiegen und weil außer einem kleinen Mädchen niemand auf dem Bahnsteig war, bin ich dem Hausmeister hierher gefolgt“, erklärte sie hastig.

„Unerhört!“, grollte der Schuldirektor. „An dieser Schule ist noch nie jemand zufällig gelandet. Nein, Sie müssen hier richtig sein, so unhöflich, wie Sie Ihr Gespräch begonnen haben!!“ Der Direktor beugte sich wieder weit über den Schreibtisch vor und funkelte sie diesmal mit dem roten Auge wütend an. „Verraten Sie mir zuerst Ihren Namen, den Sie schon am Anfang hätten erwähnen müssen.“

„Mein Name ist Ryu Etoile“, antwortete Ryu knapp und legte eingeschüchtert ihre zusammengefaltete Hände in den Schoß.

„Ryu Etoile“, wiederholte der Direktor, griff hinter sich, nahm ein in blutrotes Leder gebundenes Buch von einem Stapel und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Dann blätterte er mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit eine Seite nach der anderen um, bis er inne hielt. „Wie ich es mir gedacht habe, Sie sind in unseren Akten vermerkt, hier steht es! Ryu Etoile, Alter 17, Geburtsdatum 24.12.1997, Schulgebühren bezahlt.“ Er beugte sich so weit über den Schreibtisch zu Ryu hinab, dass sie fürchtete, er würde sie mit seinem spitzen Kinn durchbohren.

„Nein, das kann nicht stimmen, das ist völlig unmöglich“, stammelte Ryu.

„Sind Sie nicht Ryu Etoile?“

„Doch, die bin ich, aber ich habe kein Schulgeld oder dergleichen bezahlt!“, schrie Ryu und ein kalter Schauer rieselte ihren Rücken hinunter.

„Also, Frau Etoile, erstens habe ich sehr gute Ohren und Sie brauchen nicht zu schreien“, raunzte der Direktor wütend und sah Ryu mit einem durchdringenden Blick an. „Und zweitens steht hier, dass ein Herr Stan...“ Er stockte und blickte zur Tür, wobei ein tiefes Grollen aus seiner Kehle stieg. Die Tür wurde aufgerissen und der große Mann im schwarzen Mantel, stürmte ins Büro. „Stan Lucifer hat deine Schulgebühren bezahlt, und du, Ryu, du musst jetzt in den Unterricht“, sagte er, packte Ryus Arm und riss sie von ihrem Zwergenstuhl.

Der Direktor nickte ihm grimmig zu. „Ja, ja, Unterricht, Unterricht!“, grollte er und schlug mit der Faust auf den Tisch, worauf er in der Staubwolke verschwand, die sein Schlag aufgewirbelt hatte.

Der unheimliche Mann zerrte Ryu aus dem Zimmer des Direktors und warf die Tür krachend hinter sich zu.

„Moment, wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie doch gar nicht!“, schrie Ryu ihn an und versuchte sich von ihm loszureißen.

„Ich bin Stan Lucifer“, erwiderte der Mann knapp und drückte Ryus Arm so fest, dass es ihr Schmerzen bereitete.

„Aber wieso haben Sie mein Schulgeld bezahlt? Niemand hat Sie darum gebeten! Und meine Erlaubnis hatten Sie dafür auch nicht! Ich will auf keinen Fall in dieser Schule bleiben! Wenn Sie mich dazu zwingen, zeige ich Sie bei der Polizei wegen Freiheitsberaubung an!“, fauchte Ryu den Mann an. Der zog nur die schwarzen Augenbrauen hoch und lachte höhnisch und gellend auf. Im langen Flur öffneten sich einige Türen und bleiche Gesichter starrten zu ihnen hinüber.

„Kannst du dir vorstellen, dass es mir vielleicht einfach nur Spaß macht, dich leiden zu sehen?“, fragte er grinsend und seine grauen Augen bekamen einen roten Schimmer.

„Sie sind ja pervers, und verrückt sind Sie auch! Ich bleibe keinen Moment länger hier! Ich gehe!“, schrie Ryu, stampfte zornig auf den Boden und riss sich los.

Stan versperrte ihr den Weg. Er kreuzte die Arme über der Brust, das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, durch das ein Zucken lief, als verkrampften sich seine Gesichtsmuskeln. Ryu wich zurück, sie hatte in einen Abgrund aus Hass geschaut „Wenn du jetzt gehst, bringe ich dich um, und glaub mir, ich liebe es zu töten“, sagte er mit sanfter Stimme und schaute mit großem Ernst auf Ryu hinab.

Ryu war klar, dass sie sich entscheiden musste. Als sie dem Mann, der sich Stan Lucifer nannte, in die Augen blickte, erschauerte sie. Konnte es sein, dass dieser Mann wirklich meinte, was er gesagt hatte? Ihre Knie begannen zu zittern, eine namenlose Angst beschlich sie.

„Ich sehe, du hast dich entschieden“, sagte Stan Lucifer. „Dies ist nun deine Schule, hier wirst du lernen und wohnen.“ Er ergriff Ryus Hand, eine starke Kälte durchfloss sie und lähmte Ryus Willen. Wie eine mechanische Puppe folgte sie Stan durch die endlosen Flure. Nur eines stand ihr wie mit blutigen Lettern geschrieben vor Augen: Dieser Mann war gefährlich. Sie sog den Duft ein, den er absonderte, und erschrak. So roch der Tod....

Sie wollte später einen Weg finden, dieser grässlichen Schule und diesem sadistischen Aufpasser zu entfliehen. Stan Lucifer blieb vor einer offenen Tür stehen und schob sie in den Raum. „Viel Spaß und pass auf, dass du hier keinen Fehler machst, denn hier sind Fehler absolut tödlich. Also sei auf der Hut. Immer. Vor jedem“, sagte er und ging weiter, als wäre er ein unbeteiligter Gast und nichts geschehen.

Blut zu Blut

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