Читать книгу Lydia - die komplette Reihe - Janine Zachariae - Страница 11

8. Das Leben geht weiter

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Die zweite Woche des Praktikums brachte Lydia hinter sich und war zufrieden mit ihren Leistungen. Sie wusste, dass sie nicht so gute Artikel und Berichte schrieb wie Steve, zum Beispiel. Aber sie war stolz auf sich. Und so konnte sie die anderen Jobs angehen. Noch immer aber hatte sie keinen Brief von Tom oder Steve erhalten und sie machte sich langsam Sorgen. Es war nun Juli und das Wetter war immer sehr schön.

Wenn sie nicht gerade Arbeiten war, saß sie viel draußen. Fast alle Bücher waren gelesen. Sie freute sich darauf, bald wieder ihre Eigenen hervorzukramen.

Im nächsten Schuljahr würde es vom Buchclub neuen Lesestoff geben und sie konnte es kaum erwarten.

Das war alles spannend. So schlecht fand sie ihre Situation nicht mehr. Sie hätte nie so viel gelesen, wenn sie nicht ins Internat gekommen wäre, oder die Ferien anders verbracht hätte.

Während Lydia lernte, las oder auf der Arbeit war, spürte sie ein Gefühl des Glücklichseins. So wie es war, war es gut.

Lesen, arbeiten und faulenzen war alles, was sie benötigte.

Sie brauchte keinen Luxus. Sie hörte ihre Musik und war einfach nur glücklich endlich das zu machen, was sie Interessierte. Ohne an Jungs zu denken, oder an all die Geheimnisse, die noch immer irgendwo verborgen waren.

Alles verlief so, wie es sein sollte. Natürlich war sie einsam und manchmal konnte sie auch nicht mal mehr lesen - dann guckte sie einfach TV (meist abends) oder DVD und schon war sie wieder irgendwo, nur nicht da, wo sie ihre Gedanken hinbrächten.

Ihre Alpträume verebbten auch alsbald. Zwar träumte sie hin und wieder immer noch sehr schlecht, doch schlichen sich überwiegend angenehme Themen in ihr Unterbewusstsein.

Nun schlief sie auch wieder gerne.

Zudem knüpfte das Mädchen einige Kontakte. Sie lernte viele Leute durch ihre Arbeit kennen.

Zwar unternahm sie nicht wirklich oft was mit ihren Kollegen, aber auf Arbeit war sie keine Einzelgängerin. Allerdings blieb sie nicht nur im Wohnheim. Sie ging ein paarmal ins Kino, sah sich einige Theateraufführungen an und ›rockte‹ auf einem Konzert.

Richtige Freundschaften wollte sie nicht schließen. Außer mit Daniel. Sie lernten sich im Theater kennen. Er war sehr nett und überredete Lydia auch mal nach Feierabend was zu unternehmen. Daniel war 20 und machte gerade seine Ausbildung. Zu zweit verbrachten sie am Nachmittag Zeit miteinander und sie freute sich immer, ihn zu sehen.

Kurz vor der vierten Ferienwoche erhielt Lydia endlich einen Brief von Thomas.

*

»Hallo, Lydia!

Du wunderst dich sicherlich, dass ich dir nicht schon eher schrieb. Aber, wie du ja von Steve erfahren hast, ist bei mir einiges passiert. Ich habe eine Freundin. Du kennst sie ja schon. Ich weiß, dass du sie nicht leiden kannst, aber sie ist wirklich wunderbar, wenn sie nicht mit den anderen zusammen ist. Nach einer Prüfung kam sie auf mich zu und wir haben uns lange unterhalten. Danach sind wir noch spazieren gegangen. Irgendwann hat es dann gefunkt. Ja, ich hatte gemeint, dass ich mich sicherlich nicht so schnell verlieben werde, aber das Herz macht, was es will. Du kennst es ja. Wie sieht es bei dir aus?

Mittlerweile geht es mir sehr gut. Svenja hat mich wieder aufgemuntert. Wir sind uns auch schon sehr nahegekommen und sie übernachtet oft bei mir. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, dass ich mein erstes Mal mit ihr verbracht habe. Im Grunde geht es dich ja auch nichts an. Ich wollte es dir nur erklären. Steve hat gemeint, dass du viel arbeitest. Somit wirst du ja eh keine Zeit haben. Wenn du Lust und Zeit hast, kannst du mir ja antworten. Tom.«

*

Lydia saß an ihrem Lieblingsplatz, während sie den Brief las.

Stifte und einen Schreibblock hatte sie immer bei sich. Also konnte sie direkt antworten, wollte gar nicht zu viel schreiben, denn irgendwie hätte sie wahrscheinlich nur etwas Falsches geschrieben. Der Brief klang einfach merkwürdig distanziert.

Allerdings, so musste sie sich eingestehen, kehrten ihre Alpträume vermehrt zurück. Ihre Vermutung, einfach vergessen worden zu sein, verstärkte sich. Ja, sie meinte, sie bräuchte eine Auszeit. Aber würden sich wahre Freunde nicht einfach manchmal erkundigen, wie es einem geht? Eine SMS, eine Mail - mehr brauchte sie nicht.

Als Tom ihren Brief erhielt, erzählte er nebenbei Sam von Lydias Freund und dieser plauderte es weiter. Tom und Sam wurden gute Freunde. Und auch Steve befreundete sich mit Lydias Zwillingsbruder an und mit dessen Stiefschwester.

Doch von all der Harmonie spürte Lydia nichts.

Wenige Tage später war sie wieder im Theater und musste ein paar Sachen erledigen.

»Hi, Lydia!«

»Hi, Daniel, wie geht’s?«

»Gut, danke. Sag mal, hast du heute Abend Lust, mit auf eine Feier zu kommen?«

»Du weißt doch, ich kann nur bis 20 Uhr wegbleiben.«

Ja, auch in den Ferien musste sie sich an die Hausordnung halten. Nur mit Ausnahme konnte sie auch mal länger wegbleiben - wenn ein Konzert war oder sie ins Kino wollte.

Nur mit Genehmigung also. Wobei sie allerdings abends länger wach bleiben konnte, solange sie niemanden störte.

»Stimmt ja«, sagte Daniel und schlug sich gegen die Stirn.

»Und was ist, wenn nur wir zwei was unternehmen? Die Feier fängt erst spät an.«

»Klar. Von mir aus. Was hast du denn geplant?«

»Wir könnten ins Freibad gehen«, schlug ihr Kollege vor.

»Oh, ich weiß gar nicht, ob ich einen Badeanzug habe«, meinte sie nachdenklich.

»Mmh. Wir können gleich einkaufen gehen?«

Sie musste lachen.

»Ja, ich wollte mir eh einen kaufen. Dann lass uns doch einen Shoppingtag hinlegen. Sieh mal aus dem Fenster!« Es regnete und sah ungemütlich aus.

»Ich soll dir dabei zu sehen, wie du dir verschiedene Klamotten anziehst?«, schmunzelte er.

»Ja, du kannst mich ja beraten. Vielleicht brauchst du ja auch neue Sachen.« Sie sah ihn von Kopf bis Fuß an und musste lachen.

»Du bist gemein«, grinste Daniel.

Sie mochte es, sich mit ihm etwas zu necken. Sie fand ihn zudem sehr niedlich. Verliebt war sie aber nicht.

Lydia trug gerne einen sommerlichen Hut und so störte der Regen auch nicht, war aber froh, als sie einen Laden erreichten - der tolle Klamotten hatte, aber nicht teuer war. Sie verdiente ja ganz gut Geld, dafür dass sie kaum Ausgaben hatte. Ihr Vater überwies ihr zudem monatlich eine Summe auf ihr Konto, die nicht zu verachten war, aber sie wusste mittlerweile, dass das Leben nicht vorhersehbar war und von jetzt auf gleich alles anders sein könnte.

»Lydia, wie kommt es eigentlich, dass du nie von deiner Familie redest?«, wollte Daniel plötzlich wissen.

»Das stimmt nicht. Ich hab schon von Tom und von Stephen erzählt!«, konterte Lydia.

»Ja, du hast gesagt, dass Tom eine bescheuerte Freundin hat und dass sich Stephen kaum noch meldet oder gar nicht mehr.«

Sie zuckte mit den Schultern und wollte nicht darüber nachdenken.

»Mmh, lass uns gleich mal in die Badeabteilung gehen«,

lenkte sie - wie immer bei dem Thema - ab. Natürlich mied sie es darüber zu reden. Es schmerzte sie zu sehr.

Manchmal überrannte sie eine so enorme Welle der Einsamkeit, dass sie sich festhalten musste.

In ihrem Herzen klaffte ein gewaltiges Loch. Doch sie wollte definitiv keinen Lückenfüller. Sie wollte niemanden ausnutzen, nur um wieder ein Gefühl zu bekommen. Nur, um zu spüren, dass sie gemocht wird. Das konnte und wollte sie keinem antun - schon gar nicht Daniel. Alles, was sie wollte, war Freundschaft.

Sie sahen sich beide um und er reichte ihr einen Bikini:

»Der würde dir stehen!«, meinte er.

»Schon klar, da ist ja gar nichts dran. Das sind ja nur Fäden!«

Daniel musste lachen.

»Ja, ich dachte mir, dass du so reagieren würdest. Wie ist es hiermit?«

»Oh, der sieht gut aus.« Er gab ihr einen schwarzen Bikini mit heißen Schnörkeln. Sie probierte ihn an und war überrascht, dass die Größe stimmte.

»Und? Hast du ihn schon an?«

»Ja.«

»Darf ich gucken?«, fragte er vorsichtig.

»Ja.«

Er schob seinen Kopf durch den Vorhang und ihm blieb ihm fast die Luft weg:

»Und? Was sagst du? Kann ich so was anziehen?« Sie drehte sich. »Wie sieht mein Hintern aus?«

»Knackig!«, sagte er schelmisch.

»Daniel!«

»Sieht gut aus. Der Bikini passt zu dir.« Sie fummelte noch etwas am Oberteil herum.

»Mmh, ich weiß nicht so recht.«

»Dreh dich noch mal.« Er ging in die Kabine und schaute es sich genauer an. Sie verschränkte die Arme vor sich.

»Daniel, ja ich sehe toll hier drin aus. Ich hab’s kapiert.«

»Oh, entschuldige. Ich wollte nicht so starren. Mmh, ich geh mal zu den Badehosen.«

Nachdem Lydia sich umgezogen hatte, gesellte sie sich zu Daniel.

»Also du meinst, ich soll den nehmen?«, hakte sie nach und hielt den Bikini in der Hand.

»Ja, das meine ich. Er steht dir.«

»Okay. So schlimm sah es auch nicht aus und das Oberteil hat nicht gestört.«

»So was kann stören?«, erkundigte sich Daniel irritiert.

»Klar! Es kann drücken, kratzen, zu eng sein oder zu weit. Bei manchen quillt alles raus, bei andren hält es so, wie es sollte.« Sie antwortete ihm in einem Ton, der ihn etwas aufziehen sollte. Er wurde nicht einmal rot, aber trotzdem wirkte er etwas verunsichert. Er lächelte nun und hielt ihren Blick stand. Seine blauen Augen bohrten sich in ihre und sie musste sich abwenden.

»Also, hast du schon was gefunden?«, erkundigte sie sich nun bei ihm.

»Ja. Wie findest du die?«

»Das ist nicht dein Ernst. Sie ist pink!«

»Und?«, fragte er schulterzuckend.

»Warte mal, Daniel.«

Sie stöberte etwas und fand eine, die Ideal war. Sie war blau-gelb gestreift. Also bunt, aber nicht zu knallig. Er probierte sie an und signalisierte ihr, dass sie ruhig schauen sollte.

»Sieht gut aus. Dreh dich mal. Hübscher Arsch!« Sie pikste ihn und musste lachen. Das T-Shirt hatte er dabei natürlich anbehalten.

»Du ziehst mich ja nur auf!«

»Meinst du, nur Männer kennen Machosprüche?« Sie hob eine Augenbraue und lächelte ihn an.

»Und die Moral von der Geschichte: Sei nett zu allen Frauen«, erwiderte Daniel.

»Genau, eine Frau ist schließlich kein Objekt. Wie dem auch sei, die Hose ist dennoch gut. Sie steht dir.«

Sie verbrachten noch einige Stunden so und probierten nach und nach immer irgendwelche Sachen an und machten einen auf Models. Sie lachten viel und scherzten oft. Beide hatten wirklich Spaß und am Ende waren ihre Einkaufstüten vollgepackt. Er überzeugte sie, dass sie ruhig auch Kleider tragen könnte und da gerade einige im Angebot waren, schlug sie zu. Sie holte sich fünf Sommerkleider, weitere Mützen, Hosen, Tops, Blusen, T-Shirts und Röcke. Insgesamt 100 Euro gab sie aus. Sie war zufrieden und brauchte sowieso neue Sachen, da ihr vieles nicht mehr passte.

»Magst du noch Schuhe kaufen gehen?«, wollte er wissen. Sie blickte auf ihre Treter und war mit dem Vorschlag einverstanden. Drei Paar holte sie - mit Absatz und auch Sandalen waren dabei. Sie passten zu den Outfits. Dann schaute sie auf die Uhr.

»Ich muss langsam los. Es war ein wirklich schöner Nachmittag!«, bemerkte sie.

»Ja, fand ich auch.« Daniel beugte sich zu ihr, seine Haare kitzelten sie bereits und gerade, als er sie küssen wollte, klingelte sein Handy.

Oh, wie naiv sie doch war.

SO unglaublich leichtsinnig.

Sie verabschiedete sich zügig von ihm und er ging schnell ran.

Erleichtert atmete sie durch. War es abzusehen? War zu erahnen, was er im Sinn hatte?

Als sie wieder im Haus war, bekam sie gleich einen Brief überreicht. Sie ging zum Essen in den Speisesaal und las ihn, während sie aß.

*

»Hi, Lydia!«, begann er.

›Hi Lydia? Das passt nicht zu Steve!‹ Sie wunderte sich.

Zuerst war Toms Verhalten anders und nun noch Steves? Was war nur los? Wurde sie zur ›Bekannte‹ degradiert?

Sie las weiter:

»Nun möchte ich dich nicht länger auf eine Antwort warten lassen.

Die Bücher habe ich fertig gelesen und die Antwort lautet:

›Stolz und Vorurteil‹, eine der Schwestern heißt Lydia und ›Mansfield Park‹, der Vater von Edmund heißt Thomas und auch der ältere Bruder heißt so, wird aber eher Tom genannt. Ich habe mir noch mal deinen letzten Brief genommen, es ist ja schon sehr lange her. Den hattest du noch im Zug geschrieben.

Warum ich es so peinlich fand, dich im Bad versehentlich nackt gesehen zu haben, ist leicht zu beantworten: Ich wusste ja schon von Anfang an, dass du nicht meine Schwester bist.

Aber ich durfte nie etwas sagen.

Du hast dich in den letzten Monaten sehr verändert, besonders äußerlich, und so konnte ich nicht mehr so tun, als wäre ich dein großer Bruder. Du bist zu einer jungen Frau herangewachsen.

Wir sind immer stolz auf dich gewesen. Und haben uns nie für dich geschämt. Tom hat mir erzählt, dass du einen Freund hast. Stimmt das?

Wenn ja, freue ich mich für dich ...

Ansonsten gibt es nichts Neues. Was soll ich jetzt noch schreiben? Sammy genießt die letzten Tage in Freiheit, wie er es immer wieder nennt. In einigen Wochen geht sein Studium los. Michael und Maria erwarten ein Baby! Das ist doch klasse, oder? Vater ist offener geworden und erzählt uns nun mehr. Er hat auch jemanden kennen gelernt. Er meinte, solange wie du nicht die Wahrheit kanntest, wollte er niemanden mit nach Hause bringen.

Aber er scheint glücklich zu sein. Viel Spaß weiterhin bei deinen vielen Jobs. Dein Freund.«

*

Nachdem Essen ging Lydia in ihr Zimmer und setzte sich an den Computer. Sie wollte eigentlich gleich antworten, doch suchte sie erst einmal eine schöne Karte für Michael und Maria. Sie gratulierte beiden und schickte noch ein kleines Geschenk mit. Es war nicht sehr persönlich, aber sie hoffte, Michael könnte das verstehen.

Sie wollte ihm so schnell wie möglich beglückwünschen.

Als sie ins Internet ging, öffnete sich auch ihr Chatprogramm.

Und sie wurde direkt angeschrieben:

»Ach Hallo, du bist ja mal online!« - Stephen

»Hi, Steve. Ja, ich wollte gerade Michael und Maria etwas zum Nachwuchs schicken. Danke für deinen Brief!« - Lydia

»Der ist schon da?« - Stephen

»Ja. Ich hab ihn aber vorhin erst bekommen, ich bin vor einer halben Stunde rein.« - Lydia

»So lange zu tun gehabt?« - Steve

»Nein, ich war schon um 15 Uhr fertig mit der Arbeit. Ich hab aber noch was mit Daniel unternommen.« - Lydia

»Oh«, las sie nur. Merkwürdig!

»Lass uns mal über deinen Brief reden, Steve!« - Lydia

»Oje. Was ist denn damit?« - Steve

Sie lächelte und blickte kurz aus dem Fenster, bevor sie mit dem Tippen anfing:

»Er klang nicht nach dir. Toms letzter Brief war auch eher kühl, aber bei ihm liegt es an Svenja. Nur bei dir hab ich noch nie so was gemerkt. Er war total anders.« - Lydia

»Ich war vielleicht nur müde von der Arbeit, wollte dir aber endlich antworten.« - Steve

»Der klang nicht so als wärst du müde.« - Lydia

»Wie denn?« - Stephen

»Steve, der hörte sich eher an, als seist du beleidigt oder gar eifersüchtig ...« - Lydia

Nichts. Keine Reaktion.

Stephen saß auf seinem Stuhl und starrte auf den Bildschirm.

»Es ist schön, dass du die Bücher fertig gelesen hast!«, schrieb sie nach einigen Minuten. »Welches fandest du am besten?« - Lydia

»Mmh. Mal überlegen. ›Mansfield Park‹ fand ich sehr klasse. Ich mag ›Fanny‹ und ›Edmund‹. Du?« - Steve

»Fanny ist wirklich klasse. Es ist eine sehr schöne und romantische Vorstellung.

Aber eigentlich finde ich ja ›Überredung‹ und ›Stolz und Vorurteil‹ genial. In beiden gibt es jemanden, der beeinflusst wird. Zuerst können sie nicht ihre Liebe offen zeigen, oder gar ehrlich sein. ›Bingley‹ wird von ›Darcy‹ beeinflusst und ›Anne Elliot‹ von dieser einen Frau«, tippte sie.

»Dann kannst du aber auch ›Emma‹ mit einbeziehen. Sie versuchte ja auch, ›Herriet‹ diesen Typen auszureden und ihr dafür jemand anderes einzureden.« - Steve

»Genau!«, schrieb sie und freute sich. Er hatte wirklich seine Hausaufgaben gemacht und verstand scheinbar, worum es ging. Das freute sie sehr.

»Wie meinst du das mit ›schöne und romantische Vorstellung‹?«

An dieser Stelle tippte das Mädchen etwas, um es dann wieder zu löschen. Was sollte sie nur darauf antworten?

»Wenn aus Freundschaft Liebe wird.« - Lydia

Gelesen, darüber nachgedacht, erneut gelesen.

»Würdest du denn immer wollen, dass dir ehrlich jemand seine Gefühle sagt?«, schrieb er stattdessen.

»Lass mich mal überlegen.« Sie tippe dies und sendete es ab. So konnte sie einige Sekunden überlegen, was sie sagen konnte.

»Wenn es niemanden verletzt, ja. Wenn aber eine

Freundschaft darunter leidet, nicht.« - Lydia

Doch kaum hatte sie das geschickt, bereute sie es.

»Ich meine«, versuchte sie nun, das zu retten, was sie angerichtet hatte, »es ist immer schön, zu hören, wenn man gemocht wird. Doch wenn man sich selbst nicht sicher ist, wie der andere reagieren könnte, dann sollte man sich darüber erst wirklich sicher werden. Es gibt zu viele Menschen, die unbedacht damit umgehen. Sie flirten, was das Zeug hält. Sie geben Körbe, ohne an die Gefühle anderer zu denken. Wenn mir jemand sagen würde: ›Ich mag dich, mehr als nur einen Freund‹.

Doch meine Gefühle nicht annähernd so sind, wie seine, würde ich vielleicht antworten:

›Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es schmeichelt mir. Doch derzeit möchte ich einfach keine Beziehung.‹

Erst einmal die Freundschaft ausbauen, abwarten. Derjenige könnte schneller seine Meinung ändern, als mir dann lieb wäre. Und dann wäre ich es, die verletzt wird.

Wer weiß, womöglich ändert sich ja bald was und ich denke anders. Aber für diesen Moment brauche ich einfach nur einen lieben Freund, der mich so nimmt, wie ich bin und mit dem ich lachen kann. Und ich denke mal, dass es eine Antwort ist, die zuerst wie ein Schlag wäre, aber die nicht so lange nachhallen würde.« - Lydia.

Sie las sich ihren Text noch einmal durch und hatte absolut keine Ahnung, ob das alles überhaupt Sinn ergeben würde. Aber ihre Gedanken überschlugen sich einfach.

»Dann möchtest du gar keine Beziehung?« - Steve

»Nein. Ich hatte dir doch bereits vor Monaten geschrieben, dass ich mich wohl so schnell nicht wieder verlieben werde. Und so wankelmütig bin ich nicht.« - Lydia

»Und was ist mit Daniel?« - Steve

»Daniel ist ein lieber Kerl, ein Freund. Aber mehr nicht.

Allerdings denke ich, sieht er es etwas anders. Wir waren heute shoppen und ich habe einen Bikini anprobiert. Er wollte schauen, wie er an mir aussieht.« - Lydia

»Aha«, tippte Steve und ignorierte alles um sich herum. Er starrte nur noch auf den Schirm.

Sie erzählte vom Nachmittag und wie sie auf seine ›Anmache‹ reagierte.

»Ja, das kannst du gut. Du konntest immer kontern.« - Steve

»Warum sollte ich denn solche Sprüche dulden?« - Lydia

»Manche machen das und wollen diese Aufmerksamkeit« - Steve.

»Das sind die, die wirklich nur Busen haben und nichts anderes.« - Lydia

»Was ist denn noch wichtig?« - Stephen

Sie schmunzelte bei dieser Frage.

»Köpfchen und Verstand und so was. Also ich möchte keinen Freund, der nur auf Äußerlichkeiten Wert legt.« - Lydia

»Und das macht Daniel?« - Steve

»Ich glaube eigentlich nicht. Er hat nur Spaß gemacht. Die restliche Zeit über hab ich ihm ein Kleidungsstück nach dem andren vorgeführt und da kamen keine dummen Kommentare mehr. Als wir uns dann verabschiedeten, wollte er mich übrigens küssen.« - Lydia

»Wie bitte?« - Stephen

»Er beugte sich zu mir vor und dann klingelte sein Handy!« - Lydia

»Gut«, schrieb er sofort. Schlug sich aber selbst vor die Stirn.

»Gut?« Lydia musste erneut dabei lächeln.

»Na, äh. Egal. Hättest du den Kuss erwidert?« - Steve

»Weiß ich gar nicht. Daniel sieht schon gut aus. Aber er löst jetzt keine Schmetterlinge in mir aus. Ab August ist er eh nicht mehr hier. Er geht woanders hin.« - schrieb sie schnell.

»Ah okay.« - Steve atmete erleichtert aus.

»Ja, deshalb sehe das auch locker mit ihm. Wir machen unsere Witze und ziehen uns gegenseitig auf. Das ist schön, macht Spaß. Da ich das vermisst habe, mit jemandem ausgelassen zu lachen.« - Lydia

»Mmh, und wenn er dich als Sommerflirt sieht? Er wird das garantiert und sicherlich mehr von dir wollen.« - Steve

»Was soll’s, dann flirtet er eben ein wenig. Vielleicht hab ich ja auch schon versehentlich geflirtet. Aber was sollte da schon passieren? Was sollte er denn sonst wollen?«

Ihre Wangen wurden warm und sie war froh, dass sie alleine war und sie niemand so sah.

»Was alle Jungs wollen«, stellte er fest.

»Steve, du solltest mich besser einschätzen!«- tippte Lydia empört und biss sich auf die Unterlippe.

»Wir haben uns so lange nicht gesehen, so lange nicht miteinander geredet. Du bist auf dem Internat und lernst durch die Arbeit viele Menschen kennen. Vielleicht reden die anderen Mädchen, wann sie ihr erstes Mal hatten und wie oft und wer weiß was.« - Stephen

»Und du meinst, ich würde mich davon leiten lassen und mit dem Nächstbesten ins Bettchen springen? Du solltest mich wirklich besser kennen und als nicht so naiv einschätzen.« - Lydia

»Du hast also noch nicht?« - Steve

Lydia war geschockt:

»Nein! Und ich hab auch kein Bedürfnis danach.«

»Dann bin ich ja zufrieden. Tom hat mir das von sich erzählt und ich dachte, vielleicht läuft es bei dir ja ähnlich mit diesem Daniel.«

»Wenn Tom mit seinen 16 Jahren das machen will, soll er.

Aber ich finde, dass es noch zu jung ist. Zudem will ich auf den Richtigen warten.« - Lydia

»Und wenn du ihn morgen schon triffst?« - Steve

»Dann bin ich immer noch 16!«, erwiderte sie und war schockiert.

»Ja, klar. Aber wenn du dich wirklich Hals über Kopf verliebst?« - Stephen

»Das reicht mir nicht. Ich will nicht nur verliebt sein. Es soll Liebe sein und nicht nur das Gefühl, dass es dazu kommen könnte.« - Lydia

Steve war verblüfft über diese Antwort und war erleichtert.

»Wie läuft es eigentlich bei dir in der Zeitung?« Wollte Lydia nach einer kurzen Pause wissen.

»Gut, danke. Die Auflage ist gestiegen. Ich bin nun für die Kritiken und Reportagen zuständig.« - Steve

»Sehr schön. Dann hat es sich ja gelohnt, dass du so hartnäckig warst.« - Lydia - freute sich richtig für ihn.

»Ich denke mal, das lohnt sich immer. Egal bei was.« -

Stephen

Sie überlegte kurz, ob sie darauf eingehen sollte.

»Hast du eigentlich mal wieder jemanden kennen gelernt?« - Lydia

»Du meinst eine Frau?« - Steve

»Jupp, oder ein Alien oder was sonst noch so umspringt«, schrieb Lydia und kicherte dabei.

»Witzig! Nö, eigentlich nicht.« - Steve

»Bist du denn zur Zeit verliebt?« Schon wieder eine Frage, die sie kurz darauf bereute.

»Ja. Nein. Ja. Ach, nein. Ja, ich weiß nicht.« - Steve

»Was denn nun, Stephen?«

Es dauerte etwas, bis er antwortete.

»Ich weiß es eigentlich nicht.«

»Ach so. Aha, verstehe. Nein, eigentlich nicht, aber du hattest immer deine Gründe, wenn du etwas nicht erläutern wolltest. Aber du kannst ruhig ehrlich zu mir sein!« - Lydia

»Zu dir?« - Stephen

»Ja, klar!« - Lydia

»Ich glaube nicht.« – Steve

»Stephen?«, tippte Lydia.

›Der Nutzer kann Ihre Nachricht erst lesen, wenn er wieder online kommt‹, las sie.

*

Steve hatte sich ausgeloggt. Er fuhr seinen Laptop runter und raufte sich die Haare.

Etwas sehr Schweres lastete auf ihm. Nur war er noch nicht so weit, es Lydia zu erzählen. Seine Familie war empört.

Sascha war regelrecht ausgerastet. Doch noch war nicht der richtige Zeitpunkt.

*

›Eigenartig. Na klar, weiß ich, was er meint‹ , dachte sie unterdessen.

Am nächsten Tag ging Lydia gleich früh zum Musikladen, in dem sie nun drei Tage lang arbeiten würde. Sie räumte die Regale ein und machte überall sauber. Sortierte CDs und DVDs ein und schleppte viele Kisten im Lager umher. Sie arbeitete nur vier Stunden pro Tag, so dass sie hinterher noch im Theater weiter machen konnte.

Es machte ihr sehr viel Spaß und Lydia war froh, dass sie auch an den restlichen Tagen dort tätig sein durfte.

»Du solltest eine Ausbildung hier anstreben!«, hatte man ihr oft gesagt.

Sie half im Sekretariat aus und bekam gutes Geld - allgemein verdiente sie in den drei Wochen bei ihren Jobs sehr gut.

»Hey, Lydia!« Daniel begrüßte sie freudig, als er sie bemerkte. Er war gerade dabei einige Elemente in der Dekoration zu erneuern.

»Hallo! Ich hatte gestern sehr viel Spaß.«

»Ja, ich auch. War ein lustiger Nachmittag. Normalerweise hasse ich es zu Shoppen!«, gestand er.

»Ja, so geht’s mir auch.«

»Das Kleid steht dir«, bemerkte er und sah sie von oben bis unten an.

»Danke. Ja, ich dachte mir, ich probiere gleich mal, wie es so ankommt.«

»Sieht gut aus. Wie war’s im Laden?«, fragte Daniel.

»Habe immer gutzutun. Die vier Stunden gehen so schnell vorbei!«

»Hattest du das da auch schon an?«

»Nein. Ich war ja zwischendurch bei mir und hab mich umgezogen. Mach ich immer so, wenn ich noch mal weggehe. Da ich schon ins Schwitzen komme«, gestand sie.

»Ja, klar. Geht mir ja auch so.«

»Wie war die Feier gestern?«

»Lustig. Wir haben aber nicht so lange gemacht. Wir mussten ja früh wieder raus.«

»Ach na ja, die meisten von euch fangen nicht vor Mittag an zu arbeiten«, bemerkte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie war es eigentlich gar nicht gewohnt, ein Kleid zu tragen, aber es war angenehmer, als sie glaubte. Das Blumenmuster auf dem eigentlich blauen Untergrund fand sie zudem sehr schön.

»Das ist doch früh.« Lydia musste lachen. Sie half Daniel mit der Deko und freute sich immer, wenn sie auch hier behilflich sein konnte. Es war toll. Hinter den Kulissen von einem Theater blicken zu können hatte sie schon immer gereizt.

»Was hast du noch gemacht?«, erkundigte sich Daniel.

»Ich hab einen Brief von Stephen erhalten.«

»Deinem Bruder?«

»Stiefbruder, oder so. Ich will ihn nicht mehr als Bruder betrachten. Er ist ein Freund.«

»Warum nicht mehr als Bruder?«

»Ach Mist.« Sie hätte sich beinahe in etwas hineingeredet.

Dabei wollte sie nicht darüber reden. Ihr Herz schmerzte.

»Was?«, er hielt mitten in seiner Bewegung inne und musterte sie. In diesem Moment spürte sie, wie sich ein Holzsplitter in ihren Finger bohrte und sie funkelte den blöden Holzbaum böse an, ehe sie an ihrem Finger umher fummelte und versuchte, den Splitter rauszukommen. Daniel erkannte ihre Zwickmühle und wollte ihr behilflich sein, doch sie schüttelte nur den Kopf und nahm ihren Finger kurzerhand in den Mund, ehe sie den kleinen Span zwischen den Zähnen spürte. Sie runzelte die Stirn, als sie merkte, dass Daniel sie eigenartig betrachtete. Sie betrachte ihren Finger, saugte kurz den letzten Blutstropfen weg und wischte ihn an einem Taschentuch trocken. Um wieder auf andere Gedanken zu kommen, erzählte sie kurz etwas von dem Brief.

»Ach, du chattest?«, fragte er schließlich verwundert.

»Ja. Wenn ich im Internet bin, lass ich das auch mitlaufen.«

Sie erklärte ihm welches Portal.

»Ja, und da hab ich mit ihm sehr lange geredet.«

»Worüber?«

»Über Jane Austen«, erzählte Lydia.

»Die Schriftstellerin?«

»Ja, genau«, sagte sie strahlend. »Kennst du ihre Bücher?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich hab ein paar Filme gesehen, aber mehr nicht«, meinte Daniel.

»Steve hat sich die Bücher kürzlich alle durchgelesen und darüber haben wir uns unterhalten.«

Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit und sagte dann: »Ich wollte dich gestern küssen.«

»Ich weiß.« Sie mied seine Blicke, während sie es sagte.

Beide knieten gerade am Boden und er zeichnete etwas auf ein Blatt, während sie alles fotografierte.

»Oh. Was hättest du gemacht?«, wollte er wissen und sah ihr in die Augen.

»Ich bin mir nicht sicher.« Er wartete. »Lass uns nichts überstürzen. Wenn wir uns küssen und das ändert dann alles, wäre es nicht gut. Wir arbeiten zusammen und haben viel Spaß. Aber wir sollten nichts eingehen, was vielleicht nicht lange halten würde. Ein Kuss kann so vieles ändern.« Sie sah, wie er traurig wurde.

»Ich dachte, das da was wäre«, seufzte er.

»Daniel, du bist ein wirklich lieber Freund. Sei mir nicht böse. Aber ich hab zu viel durchgemacht, und ich möchte noch keine Beziehung eingehen. Ich würde dich nur enttäuschen.« Er lächelte.

»Was ist?«

»So nett hat mir noch niemand einen Korb gegeben.«

»Das war auch kein richtiger Korb. Ich mag dich, wirklich, sehr gerne. Aber wir beide sollten ehrlich sein und daran denken, dass du ja auch bald weiter ziehst. Und du kennst mich nicht gut genug«, sagte Lydia.

»Das ist auch kein Kunststück. Du erzählst ja auch nichts von dir!«

»Na gut. Du hast drei Fragen frei, du darfst alles fragen, was du willst.«

Sie standen auf und machten eine Kaffeepause.

»Da ich drei Fragen frei habe und ich alles fragen darf, was ich will, lautet meine erste Frage: Warum erzählst du nichts über deine Familie?«

Sie trank etwas von der schwarzen Flüssigkeit und antwortete bedacht:

»Weil es, ehrlich gesagt, wenig darüber zu erzählen gibt«, begann sie und riss kurz das Wesentliche an, aber nicht zu detailliert.

Er machte große Augen.

»Wow. Wie wurde dir das Herz gebrochen?«

»Du stellst Fragen, die mich ja dazu bringen, weit auszuholen. Ich habe noch niemandem davon erzählt. Es wissen nur jene, die davon betroffen sind«, meinte sie bedächtig.

»Okay.«

Lydia ging auf und ab und überlegte, ob sie es ihm wirklich erzählen sollte. Er wirkte wirklich interessiert und sah sie neugierig an.

»Also«, begann sie und holte Luft, »solange ist es noch gar nicht her. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich adoptiert bin, ich es aber erst kürzlich erfuhr.« Er nickte. »... und dann platze die Bombe und alles war in Scherben«, beendete sie ihre Erzählung, die sie mehr mitgenommen hatte, als gedacht.

»Verstehe«, sagte er nachdenklich und fuhr sich mit der Hand durch seine dunklen Haare. Daniel hatte ein eher markantes Gesicht und sie sah, wie sich sein Unterkiefer anspannte.

»Verstehst du nun, warum ich keine Beziehung will?«

»Nein, eigentlich nicht. Klar, du bist enttäuscht. Aber du hast ihn nur zwei Tage, im Prinzip, gekannt. Du warst nur verknallt.«

Lydia zuckte zusammen.

»Wer weiß. Vielleicht ist es auch nur der Schock gewesen oder ich bin einfach nicht bereit für eine Beziehung. Ich bin ja auch erst 16!«

»Mmh.« Er wollte seine dritte Frage für später aufheben.

Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus, ein Loch, welches ihr die Luft zu rauben schien.

Nein, es war nicht wegen des Kusses. Sie wollte nie mehr das Spüren, was sie fühlte. Nie mehr diese unendliche Leere im Inneren wahrnehmen.

Doch der Tag neigte sich dem Ende. Es war schon fast 19 Uhr, als sie endlich Feierabend machen konnte. So lange war sie noch nie dageblieben.

»Ich begleite dich noch etwas«, schlug er vor. Sie gingen zusammen aus dem Gebäude.

»Daniel, hör mal, was ich dir erzählt habe, geht keinem was an.«

»Keine Sorge. Ich erzähl es niemandem.« Ihr Sommerkleid flatterte etwas im Wind. »Was ist eigentlich mit diesem Steve?«, war nun die dritte Frage.

»Was soll mit ihm sein?«

»Empfindest du was für ihn?« Sie schaute ihn an und ihr war unwohl. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und ihr Magen zog sich zusammen.

»Nein.«

»Wirklich?«

»Wir sind miteinander aufgewachsen. Über 15 Jahre hab ich geglaubt, er sei mein Bruder. Was soll ich da anderes empfinden?«, erklärte sie sich.

»Stimmt auch wieder und wenn es anders wäre, wäre es auch irgendwie eklig.«

»Warum?«

»Na ja, er ist ja eigentlich noch immer dein Bruder.«

So hatte sie es noch nie gesehen. Klar, er war ja noch immer ihr Bruder - wenn auch nicht mehr Fleisch und Blut und auch nicht mehr so, wie sie dachte.

»Lydia?«, sagte er nun sehr sanft.

»Ja?«

»Ich würde dich gerne küssen!« Daniel hielt ihren Blick fest, und seine blauen Augen schienen sie herausfordern zu wollen. Sollte sie ihn lassen? Einfach, um zu sehen, wie es ist und ob sie was fühlte?

»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd.

»Es ist nur ein Kuss. Er muss nichts weiter bedeuten«, hauchte er so leise, dass sie eine Gänsehaut bekam.

»Für dich würde er etwas bedeuten. Und wenn die Gefühle, die du erhoffst, dann bei mir nicht vorhanden sind, könnten wir nicht mehr so unschuldig einkaufen gehen.«

»Unschuldig?« Daniel schmunzelte und zog eine Augenbraue dabei hoch.

»Ohne Hintergedanken.«

Daniel sah sie nun so eindringlich an, dass sie sich nun total leichtsinnig vorkam. Die Schamröte stieg ihr ins Gesicht.

»Okay. Da war schon vorher was bei dir. Ich wusste es nicht, tut mir leid. Ich denke mal, in dieser Hinsicht bin ich total blind. Dabei bin ich ja mit Jungs aufgewachsen.«

Sie lachte, aber irgendwie klang es etwas zu nervös.

»Trotzdem, wenn wir uns küssen, würde vielleicht etwas Beklemmendes zwischen uns entstehen.«

»Ist denn zwischen dir und deinem Bruder etwas

Beklemmendes?«

»Am Anfang, aber das war eher der Schock«, meinte sie kopfschüttelnd.

»Siehst du.« Er schaute sie so eindringlich an, dass sie ihn für einen Moment nicht mehr ansehen konnte. »Aber auch nur, weil ich direkt am Tag darauf abgehauen bin - sozusagen«, stammelte sie. Er lachte. Lydia ging weiter, doch er hielt sie an der Hand fest und zog sie zu sich. Er küsste sie. Der Kuss hielt lange.

Vielleicht etwas zu lange. Sie war benommen davon.

»War das jetzt so schlimm?«, hakte er nach.

Lydia schüttelte den Kopf. War aber wie gelähmt.

»Äh, ja. Ich muss dann wirklich los.«

»Wie ist das eigentlich, darfst du auch Besuch auf deinem Zimmer haben?« Seine Stimme war nur ein Flüstern, aber sehr eindringlich.

»Eine Schülerin wurde kürzlich rausgeschmissen, weil sie Sex mit einem Jungen in ihrem Bett hatte. Das beantwortet deine Frage hoffentlich.« Sie wusste, dass er darauf hinaus wollte und riss sich von ihm los. Irgendwie fühlte sie sich sehr unwohl. Sie beschleunigte ihre Schritte, ohne zu rennen. Atmete tief durch, als sie im Haus war.

In ihrem Zimmer angekommen, schaltete sie sofort den Computer an und hoffte, Stephen zu erreichen. ›Gott sei Dank!‹

Dann legte sie eine CD ein und hörte über Kopfhörer Musik - laute Musik.

»Hi, Steve! Du warst gestern so schnell weg.« - Lydia

»Oh, Hi. Ja, ich hatte Internet-Probleme. Ich bin auch gerade in meinem Büro, nur für den Fall, dass ich nicht sofort antworte.« - Steve

»Okay.«

Sie war total verwirrt und wollte unbedingt mit ihrem besten Freund reden. Zitternd saß sie da. Daniel machte ihr Angst. So, wie er sie ansah, wie er sprach und alles, war beängstigend.

»Ist alles in Ordnung?« - Steve.

»Ich habe dir doch von Daniel erzählt«, begann sie und erzählte ihm alles, was passierte - na ja, fast.

»Okay und weiter?«

Steve las aufmerksam, er saß total gerade und ließ alles andere links liegen.

»Als wir dann mit der Arbeit fertig waren, gingen wir noch ein Stückchen zusammen den Weg lang. Er wollte wissen, was ich für dich empfinde.« - Lydias Herz hämmerte. Sie war so durcheinander.

»Was hast du gesagt?« - Steve

»Das wir zusammen aufgewachsen sind, du und ich, und dass es für mich seltsam ist, dich mit anderen Augen zu betrachten.

Zu wissen, dass du nicht mein Bruder bist ...«

Sie schickte das ab. Dann tippte sie weiter:

»Er meinte dann: ›Aber im Prinzip ist er noch dein Bruder.‹ Er hat noch was gesagt.« - Lydia

»Was denn?«, wollte er wissen.

»Das kann ich dir nicht sagen.« Sie wollte ihn nicht verletzen und war immer noch total irritiert.

»Hey, ich bin es doch nur: Steve, dein bester Freund.«

»Es sei ›eklig‹, wenn ich was andres empfinden würde«,

schrieb sie.

»Wie bitte?« - Steve. Er wäre fast von Stuhl gefallen. Er nahm seine Tasse in die Hand, um etwas Kaffee zu trinken.

»Und da wurde es mir wieder bewusst: Eigentlich sind wir Bruder und Schwester. Wir haben nicht dieselbe Blutlinie, aber wir wuchsen gemeinsam auf.« - Lydia

»Wie ging es weiter?«, tippte Stephen, der sich an seinem Kaffee verbrannte.

»Ich wollte gerade weiter gehen, da zog er mich zu sich und küsste mich. Wir blieben irgendwie lange so stehen. Als wir uns wieder lösten, wollte er scheinbar auf mein Zimmer. Ich weiß nicht, ob er es so meinte ...« - Lydia

»Der Typ ist echt dreist«, schrieb er wütend.

»Er wollte halt wissen, ob ich Besuch im Zimmer bekommen kann. Ich habe nur geantwortet, dass erst kürzlich ein Mädchen raus flog, weil sie Sex mit jemandem im Zimmer hatte.

Irgendwie eklig, da sie es in meinem Bett machten.« Lydia spähte zu ihrem Bett und verzog das Gesicht. Zum Glück hatte sie ihre eigene Bettwäsche gehabt und die Matratze auch etwas gesäubert.

»Wow. Bei dir passiert ja einiges. Wie war der Kuss?« -

Steve.

»Es macht mir eher Angst, dass er mich küsste, obwohl ich es absolut nicht wollte. Und nun werde ich morgen mit einem eigenartigen Gefühl ins Theater gehen.« - Lydia

»Musst du denn da wieder hin?«, Steve sorgte sich um sie.

»Ich habe nicht mehr lange und ich brauche das Zeugnis davon.« - Lydia.

Es dauerte eine Weile, bis er antworten konnte. Er musste sich selbst erst einmal sammeln. Das, was sie schrieb, verletzte ihn.

»Empfindest du denn jetzt anders?«

»Für Daniel? Ich weiß, dass unsere unbeschwerte Freundschaft vorbei ist. Aber nicht, weil ich mich plötzlich in ihn verliebte. Sondern weil er mich enttäuscht hat.« - Lydia

»So wie ich dich enttäuschte?« - Stephen.

»Nein. Ich dachte, ich sei von dir enttäuscht, aber das stimmte nie.« Und genau das entsprach der Wahrheit.

»Das freut mich. Denkst du eigentlich auch, dass es eklig sei?« - Steve.

»Was?«, fragte sie verwundert.

Er schrieb ihr, was er meinte und nach einer kurzen Pause:

»Ich ziehe die Frage zurück!« - Steve

»Das kannst du nicht mehr!« - Lydia

»Nicht?«, fragte er.

»Wir können aber meine Antwort, die ich dir gleich gebe, einfach so stehen lassen - ohne etwas hinzuzufügen. Deal?« In der Zwischenzeit konnte sie darüber nachdenken.

»Deal!« - Steve.

»So und jetzt mach dich auf die Antwort gefasst ...

Theatralische Pause ... Nein, auf keinen Fall.«

Sie schickte das so ab. Steve war glücklich über diese Antwort.

Zugleich aber bekam er ein schlechtes Gewissen.

»Ach übrigens, ich hab das Foto von dir in der Zeitung gesehen und auch alle Artikel von dir gelesen!« - Steve.

»Wirklich? Cool, daran hab ich gar nicht mehr gedacht! Wie fandest du es?« - Lydia.

»Das Foto ist echt schön und die Artikel sind sehr gelungen«, lobte er sie.

»Danke. Sagst du das jetzt als Freund oder als Journalist?«, hakte sie allerdings nach.

»Als Journalist muss ich gestehen, merkt man, dass du noch Anfängerin bist, aber als Freund finde ich sie ziemlich gut. Das haben übrigens die anderen auch gesagt!« - Steve

Sie strahlte. Doch dann brauchte sie trotzdem noch einmal seinen Rat:

»Was würdest du mir, zum Abschluss unseres Gespräches, wegen Daniel raten?« - Lydia.

»Kannst du nicht doch die Arbeit wechseln?« - Steve.

»Nein. Ich finde es ja da wunderbar. Es macht sehr viel Spaß. Ich brauch ja morgen nur wenige Stunden arbeiten und auch Freitag sollte möglichst schnell vorbei gehen. Nächste Woche nur noch hin.« - Lydia.

»Du hast dann noch eine Woche, oder?«, erkundigte sich Stephen.

»Genau« - Lydia

»Was machst du da?« - Steve

»Die Sonne genießen! Schwimmen gehen und viel lesen. Mal nichts von den Büchern, die ich für die Schule lesen muss. Sondern den neuen Sparks, der ist ja bereits erschienen. Den will ich mir bald holen und dann ausgiebig CDs einkaufen gehen. Ich habe gut Geld verdient.« - Lydia

»Freut mich. Schickt dir mein Vater eigentlich auch Geld?« - Steve

»Ja. Aber ich weiß eigentlich nicht, ob ich es überhaupt annehmen soll.« - Lydia

»Warum nicht? Wie viel ist es?«- Steve.

Sie schrieb, dass es 400 Euro sind.

»Okay.« - Steve.

»Viel, oder?« - Lydia.

»Geht. Mach dir keine Gedanken! Er hat ja nur noch für Sammy und dich zu sorgen. Michael und ich verdienen ja nicht schlecht. Aber schön, dass du trotzdem deine Ferien mit Arbeiten verbringst und denke dran, deine leiblichen Eltern haben ja auch einiges zurückgelegt«, erinnerte Steve sie.

»Klar! Ich wollte das ja unbedingt. Und mal ehrlich, was hätte ich denn sonst mit mir anfangen sollen? Die meiste Zeit bin ich alleine im Internat - sind ja fast alle weggefahren. Meist sind nur die Kleineren hier, mit denen ich aber nichts zu tun habe.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Lydia von jemand anderen angeschrieben wurde.

»Rate mal, wer noch online ist ...« - Lydia

»Dieser Daniel?« - Steve.

»Bingo. Er hat mich grade angeschrieben.« Lydia erzählte ihm, was er von ihr wollte. Er entschuldigte sich, fand aber den Kuss wirklich gut. Er wollte wissen, ob sie mit Steve gerade schreiben würde und was sie sonst noch machte. Ihre Antworten fielen knapp aus.

Am nächsten Tag war sie in diesem Laden für Medien und sie räumte wieder auf. Die Arbeit war anstrengend, wie sie fand, aber sie war auf interessant.

Sie musste sehr viel laufen, besonders viel tragen und saubermachen.

Dennoch war sie auch nach diesen vier Stunden sehr zufrieden mit sich. Bevor sie ins Theater ging, hatte sie eine Stunde Zeit zwischendurch. Duschen, umziehen - Jeans und T-Shirt mit Rollkragen und etwas essen.

Möglichst viel Abstand zu Daniel versuchte Lydia zu halten und sah ihn auch selten. Sie meldete sich freiwillig für jegliche Arbeit, die alle anderen nicht gerne machten. Säuberte die Toiletten und räumte den Pausenraum auf. Eine richtige Reinigungskraft war nicht eingestellt und jeden Tag wurde jemand dafür gewählt. So zeigte sie sich auch in diesen Bereichen engagiert. Dann sollte sie noch das Lager aufräumen. Da ab Freitag ein neues Stück gezeigt wurde, musste alles, was vom Vorherigen war, weggeräumt werden. Und da verbrachte sie den restlichen Nachmittag. Sie hatte nicht mehr viel zu tun. Bis jemand neben ihr auftauchte - quasi aus dem Nichts, wie sie empfand und sich total erschreckte. »Ach, du bist es«, sagte sie, ihre Stimme zitterte leicht.

Lydia - die komplette Reihe

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