Читать книгу Lydia - die komplette Reihe - Janine Zachariae - Страница 7

4. Gewissheit und Angst

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Lydia wollte gerade wieder ansetzen zu lesen, als Tom plötzlich aufschrie.

»Nein! Das darf nicht wahr sein! Nein, oh nein, nein, nein, nein.« Verwirrt über diesen Ausbruch, schaute sie ihn lange an.

Er raufte sich die Haare, ging im Zimmer hin und her.

»Lydia, wann hast du Geburtstag?«, wollte er wissen.

»Am 7. April.«

»Jahr?«

»1993.«

»Ach. Du. Scheiße!«, sagte er betont langsam. »Nein, nein, nein. Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen? Ich bin so bescheuert«, stammelte Thomas.

Fünf Minuten später stürmte Lydia Schaf in die Küche:

»Ich bin ein Zwilling?« Alle mussten schlucken und tief Luft holen. Michael war in der Zwischenzeit auch angekommen.

»Lydia, woher?«, fragte ihr Vater.

»Tom!!«, meinte Steve erschrocken.

»Dieser Bengel«, schrie Sascha.

»Also stimmt es? Tom und ich sind Zwillinge? Aber wie? Wie ist das möglich? Wolltet ihr keinen weiteren Jungen mehr? Wolltet ihr meinen Bruder nicht mehr hier haben?«, fragte sie hysterisch und fluchte dabei.

Sie waren alle geschockt, so kannten sie das Mädchen gar nicht und ihr Vater meinte nur:

»Lydia beruhige dich!«

Als es an der Tür klingelte, nutzte Michael die Gelegenheit, um kurz durchzuatmen. Familie Hafe ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und Michael murmelte nur »Küche« und schlurfte ohne Elan hinter ihnen her.

»Die Kinder sind klüger, als wir dachten, Sascha.«

»Was geht hier vor? Tom?«, wollte Lydia wissen und musste ein paar Mal blinzeln, da Tränen ihr die Sicht verschleierten.

»Ich bin zu meinen Eltern hin, um zu wissen, was Sache ist, und plötzlich sind sie aufgestanden und na ja, hier sind wir.« Er sah selbst mitgenommen aus, hatte rote, gequollene Augen. Lydia atmete tief ein und aus. Als sie merkte, dass ihre Stimme nicht mehr so wackelte, sagte sie:

»Tom und ich haben ein Recht auf die Wahrheit! Wenn ihr uns nichts sagen wollt, seid ihr Feiglinge! Alle, wie ihr da steht!«

»Was willst du wissen?«, wollte Herr Hafe wissen.

»Gehen wir ins Wohnzimmer, da riecht es nicht so nach Essen und wir haben mehr Platz«, schlug Herr Schaf vor.

Alle, bis auf Tom und Lydia, setzten sich aufs Sofa und in die Sessel. Sie sah zu Tom. Er wirkte sehr blass und niedergeschlagen.

»Wir werden euch jetzt Fragen stellen, die uns nach und nach einfallen und ihr werdet sie offen und ehrlich beantworten! Aber wehe einer lacht, weil ich mich vielleicht nicht ordentlich ausdrücke.« Alle nickten. »Tom und ich sind Zwillinge?«

»Ja!«, bestätigten sie etwas zögernd. Lydia nahm ihren neuen Bruder an die Hand, um ihm Mut zu machen. Sie drückte diese sanft und er lächelte sie kurz an, ehe sie weiter fragte: »Seit wann wisst ihr das?« Sie richtete die Frage an die drei Brüder. Steve ergriff das Wort:

»Michael und ich haben es eigentlich gleich gewusst. Ich hab es nicht sofort verstanden, aber Michael wusste genau, was los war. Sam haben wir es erst vor einigen Jahren erzählt.«

»Ihr habt mich die ganze Zeit über angelogen?«, stieß sie empört und verletzt aus.

Es war, als würde sich ein Loch unter ihr auftun und sie verschlingen. Ihr ganzes Leben war eine Lüge?

Sie sah Steve in die Augen und ließ nicht zu, dass er sich abwandte. Nein, sie musste wissen, was in ihm vorging. Dabei vertraute sie ihrem Bruder alles an. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Plötzlich fühlte sie sich verraten. Eine Stimme in ihrem Kopf sprach leise: ›Du hast es doch immer geahnt.‹Ahnte sie es wirklich? Tief im Inneren? Aber wer würde schon auf solche Gedanken kommen? Ja, sie war irgendwie schon immer anders als ihre Geschwister, aber auf eine so absurde Idee zu kommen ... Das übertraf ihr Vorstellungsvermögen.

»Es war eine Lüge, die in deinem Interesse war. In eurem Interesse.«

Tom funkelte alle böse an und fragte nun, wer adoptiert wurde.

»Wie meinst du das, mein Schatz?«, hakte Franziska nach. Lydia zitterte. Tom merkte das und nun hielt er ihre Hand fester.

»Na, ganz einfach: Wer brachte uns zur Welt? Wer wurde weggegeben, wer blieb?«

Überall wurde es still, keiner rührte sich. Dann sagte Jochen Hafe: »Ihr seid beide adoptiert.«

Den Teenagern wurde schwindlig. Steve bemerkte es und ging in die Küche, um beiden ein Glas Wasser zu holen.

»Danke«, murmelten sie.

»Natürlich! Ihr seid ja alle dunkelhaarig und keiner hat die gleiche Augenfarbe. Ihr habt auch eine andere Kinnpartie, die Nase ...«, bemerkte Tom aufgebracht.

»Ja, so ist es bei meinen auch«, bestätigte Lydia. »Ich verstehe das alles nicht. Das passt nicht zusammen.« Lydia versuchte, das Puzzle zu vervollständigen. Eine andere Haarfarbe machte noch lange nicht den Unterschied, aber auf einmal kam sie sich einfach nur lächerlich vor.

»Was denn?« Sie lächelte Steve an, sah dann aber wieder zu den Eltern.

»Also: Ihr habt uns beide adoptiert. Gut. Wer ist dann aber die Mutter von Michael, Steve und Sam und warum ging sie?«

»Der Mutter, von deinen Brüdern, ging es nicht mehr gut.«

Die Jungs sahen sich an, als wäre es auch für sie etwas Neues.

»Drei Mal im Jahr schickt sie mir ein Päckchen für die Jungs. Darin sind Kleinigkeiten und Geld. Eure Mutter will keinen Kontakt mehr zu euch. Sie hat euch lieb, aber sie konnte einfach nicht mehr.«

»Was hat sie?«, wollte sie wissen.

»Sie ging, weil sie sich neu verliebte. Sie hat wieder geheiratet, ihr Mann ist reich. Sie ist noch immer verheiratet. Hat eine neue Familie gegründet.« Das war zwar ein Schlag für alle, aber deutete nicht auf eine Krankheit hin. Im Gegenteil. »Lydia, du bist mit keinem von uns verwandt und Tom, du mit keinem aus deiner Familie«, fügte Sascha zu seiner Erklärung hinzu. Noch immer waren alle Kinder verwirrt.

»Warum wurden wir getrennt und wie kommt es, dass wir so weit weg von einander aufgewachsen sind?«

»Franziska und ich waren die Paten von euch. Shannon und James, eure Eltern, wollten, dass ihr in gute Hände kommt, sollte ihnen etwas passieren. Wir wuchsen im Grunde alle zusammen auf, gingen auf die gleiche Schule und auf dieselbe Uni.«

»Shannon und James«, flüsterte Tom leise.

»Ihr wart erst wenige Wochen alt, als sie bei einem Autounfall starben. In ihrem Testament war vermerkt, wer wen bekommt. Sie hinterließen euch eine Menge Geld, so dass eure Ausbildung abgesichert ist«, beendete Sascha seinen Satz. Und wieder an die Brüder gerichtet: »Eure Mutter war noch da. Daher war es kein Problem.

Doch Lydia war keine zwei Monate bei uns, als sich meine Frau veränderte. Nina suchte bei mir Rat. Sie war verzweifelt, wollte mich nicht alleine lassen, war aber depressiv. Also ließ ich sie gehen. Sie brauchte Abstand. Ich nahm an, dass der Verlust ihrer besten Freunde sie so mitgenommen hatte.«

Das war zu viel für alle. Nachdem jeder sich wieder etwas gefasst hatte, wollte Steve wissen, warum Familie Hafe überhaupt in ihr Nachbarhaus gezogen sind, wenn sie es doch geheim halten wollten. Das leuchtete nicht ein, denn sie hätten doch ahnen können, was es auslösen würde.

»Wir dachten, es wäre gut, wenn sie sich langsam kennen lernen. Die Zeit war eigentlich reif dafür. Wir haben schon lange nach Arbeit hier Ausschau gehalten. Sascha und Michael fanden es auch eine gute Idee«, erklärte Herr Hafe.

»Michael, du wusstest davon? Du wusstest, wer sie sind?«

Er nickte und meinte: »Versteht mich nicht falsch. Aber ich dachte, es wäre gut für alle, wenn es langsam raus kommt. Aber dass es sich so entwickelt, konnte keiner ahnen.«

»Wie entwickeln?« Lydia war komplett fertig.

»Ihr wart gerade dabei, euch in einander zu verlieben, habt euch geküsst«, sprach der Ältere behutsam.

Lydia, die noch immer die Hand von Tom hielt, ließ sie augenblicklich los.

»Mir wird schlecht«, murmelte sie, hielt sich eine Hand vor ihren Mund und lief ins Bad. Tom folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Lydia erbrach sich, kaum dass die den Toilettendeckel hochgeklappt hatte.

»Lydia, rede mit mir!« Er klang verzweifelt und als er sein Spiegelbild erblickte, erkannte er sich selbst nicht darin. Zerzauste Haare, verwirrter und verängstigter Blick, glasige Augen.

»Wir haben uns geküsst! Zweimal! Einmal mit Zunge! Oh mein Gott. Das gibt es nicht.«

»Dein Vater muss uns beobachtet haben! Nachdem du in den Laden gegangen bist, hab ich ihn gesehen.«

Sie fasste sich an ihre Stirn, die eiskalt war und ihr wurde erneut schummrig und schlecht. Sie musste würgen, aber es kam nur noch Gale mit hoch, was in ihrer Speiseröhre brannte.

»Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie.

Tom musste sich irgendwo festhalten und schüttelte immer wieder den Kopf. »Oh Gott. Ich darf gar nicht daran denken, was noch passiert wäre.« Sie wusste, was er meinte, doch konnte sie es nicht in Worte fassen.

»Tom, sag so was nicht. Du darfst nicht mal daran denken.« Er schämte sich, boxte mit der Faust gegen die Fliesen im Bad. Er haute so stark drauf, dass er sie kaputt schlug und sich schnitt.

»Ach herrje. Warte.« Sie holte eine Creme, Verband und verarztete ihn.

»Danke, Schwesterchen.« Sie lächelten beide. »Es tut mir leid.«

»Was denn, Tom?«, fragte sie irritiert und schaute ihn wieder an.

»Das ich dich geküsst habe!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir haben uns geküsst.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Es sollte nicht sein. Wir haben zu gut zusammen gepasst, verstanden uns gleich auf Anhieb.«

Er nahm sie in den Arm. So blieben sie noch eine Weile stehen und gaben sich einfach nur selbst Halt. Sie spülte ihren Mund mit Mundwasser aus, damit sie diesen ekelhaften Geschmack los wurde.

»Wir sollten wieder nach unten gehen«, schlug sie schließlich vor und vermied es, in den Spiegel zu schauen, obwohl er genau vor ihr war. Sie wollte nicht wissen, wie sie aussah. Es war ihr egal. Alles schien plötzlich von einem Nebel, um sie herum verschlungen zu werden, und hinterließ nichts weiter als ein Gefühl der Leere.

»Hast du dich schon beruhigt?«

Tapfer lächelte sie ihn an und öffnete die Tür.

Steve stand nervös an der Treppe.

Er wusste nicht, ob er ins Bad gehen sollte. Also wartete er. Er wollte sie doch nur beschützen. Sie vor all den Schmerzen bewahren, die sie nun erlitt. Die Wahrheit brannte sich seit vielen Jahren in sein Inneres. Er konnte nichts sagen. Deshalb rackerte er hart und wollte nicht mehr in ihrer Nähe sein.

Er erkundigte sich nach Toms Hand, dann umarmte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Kumpelhaft sollte er wirken. Schließlich ging er etwas in die Knie, um Lydia direkt in die Augen zu schauen. Er versuchte zu lächeln und nahm sie einfach in die Arme. Sie hörte seinen Herzschlag, schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Wenigstens den kannte sie noch.

»Das ist echt Horror!«, sagte sie leise zu Steve.

Er zog sie sanft an sich und meinte: »Alles wird wieder gut.« Sie blickte auf und hoffte, er würde recht behalten.

»Geht es euch gut?« Im Wohnzimmer warteten alle gespannt auf sie und schienen etwas in Deckung zu gehen.

»Ja. Wir haben über alles geredet«, meinte Lydia Träge.

»Konntet ihr eure Gefühle klären?«, wollte Sam wissen, der mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster stand und sie mitleidig betrachtete. Nachdem die Wahrheit vor wenigen Minuten ans Licht gekommen war, konnte er endlich wieder durchatmen.

»Da gab es nichts zu klären. Tom ist mein Bruder, fertig.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

»Ganz schön viel passiert heute. Bis zum Mittag war mein Leben wunderschön. Jetzt ist es einfach nur noch Chaos. In meinem Kopf schwirrt es und da Tom mir so unglaublich ähnlich ist, wird es ihm nicht anders gehen. Selbst Sam und Steve sind verwirrt. Ob Michael alles wusste, glaub ich nicht.

Jedenfalls sah er auch sehr geschockt aus, als es um eure Mutter ging. Es ist komisch. Plötzlich sind wir Zwillinge und im Grunde Waisen. So sollte unser Geburtstag, den wir in wenigen Tagen haben, nicht aussehen. Der Sechzehnte sollte was Besonderes sein. Um aber nicht noch mehr Schmerz zu verbreiten und Trostlosigkeit in euren Augen sehen zu müssen«, sie blickte sich um und blieb bei Steve hängen, »werde ich morgen ins Internat gehen.

Ich werde mein Abitur machen, um später zu studieren.

Vielleicht werde ich Verlegerin oder Journalistin.« Sie lächelte Steve an. »Ich bin froh, dass Shannon und James uns zu euch gebracht haben. Dass wir getrennt wurden, beschert es uns nun eine so große Familie, wie sie toller kaum sein könnte.«

Tom stimmte dem zu, war aber traurig über ihre Entscheidung.

»Ich möchte nichts mehr davon hören. Die Entscheidung wegzugehen, ist die einzig Richtige. Ihr hattet es von vornherein geplant. Steve ist sicherlich hergekommen, weil ihr alle wusstet, dass so was passiert und Michael kam, um sein Gewissen zu erleichtern. Ihr werdet mir fehlen. Ich hoffe, wir können trotzdem Kontakt halten?

Und ich hoffe, ihr verbietet Tom und mir nicht, dass wir uns kennen lernen. Er ist mein Bruder. Und, wie es aussieht, mein einziger Verwandter«, sie beendete ihren Monolog und ging nach oben. Wortlos und perplex lief Tom nach Hause, seine Eltern entschuldigten sich und folgten ihrem Sohn.

»‹Shakespeare‹ lässt grüßen«, stammelte Sam, der in seiner Schulzeit viel über den Engländer lesen musste. Ja, auch beim Barden gab es sehr häufig monologische Erklärungsstränge.

»Sam, sie hat ein Recht sich Luft zu machen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang angelogen.«

»Ich weiß, Steve. Aber endlich ist die Katze aus dem Sack und wir brauchen nicht mehr geduckt durchs Leben gehen. Für mich war es auch nicht einfach. Manchmal musste ich mir auf die Zunge beißen, um es nicht versehentlich auszuplaudern«, gestand der jüngere.

»Nun müssen wir sehen, wie sie es wegsteckt.« Doch auch Steve fiel es nicht immer einfach, das Geheimnis zu wahren.

*

Nur noch einen letzten Abend mit Tom verbringen, mehr wollte sie nicht. Sie hatte Kopfschmerzen, ihr war noch immer schlecht und sie glaubte, alles um sie herum würde sich im Kreis drehen. Immer schneller, unaufhaltsam würde es aber irgendwann stehen bleiben und sie gegen eine Wand krachen lassen.

Es wurde alles gesagt und niemand hielt sie davon ab. Er war ihr Bruder und sie musste ihn kennen lernen. Sie legte eine CD ein, drehte aber den Regler leiser.

»Tom! Schön dich zu sehen!«

Er nickte.

»Komm Schwesterchen, lies mir aus dem Buch vor. Wir haben genug geredet! Jetzt will ich an nichts mehr denken,

außer an unsere Figuren.«

Lydia lächelte und holte den Roman wieder hervor.

»Wie willst du«, begann er nach einer Weile, »morgen ins Internat kommen? Fahrt ihr mit dem Auto?«

»Nein! Ich werde mich sehr früh losmachen. Ich möchte Stephen fragen, ob er mich zum Bahnhof fährt und dann war es das.«

»Kein Zurück mehr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Ich will auch nicht, dass mich jemand besuchen kommt. Ich warte lieber auf Briefe. Du schreibst mir doch, oder?«

»Na, klar.« Sie lächelte und las weiter. Ihr ging so viel im Kopf herum, sie musste ja auch noch packen und ... Sie las und las, betonte alles so, wie es sein sollte, und wollte sich am liebsten in dieser Geschichte verlieren. Nicht mehr herauskommen. Aber das war unmöglich. Die Realität lauerte hinter der Tür auf sie. Ihre Seifenblase wollte sie noch aufrechterhalten, zumindest für ein paar Stunden. Danach durfte sie wieder platzen.

»Schlaf gut, Bruderherz und vergiss mich nicht«, sagte sie, als sie sich gute Nacht wünschten. Leider verflogen ihre Kopfschmerzen nicht durch die frische Luft. Sie lag im Bett und starrte zur Decke:

*

»‹Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt,

Als Ausgestoßener weinend mich beklage,

Umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt,

Und ich verzweifelt fluche meinem Tage, -

Dann wär‹ ich gern wie andre hoffnungsreich,

So schön wie sie, bei Freunden beliebt,

An Kunst und hohem Ziele manchem gleich,

Freudlos mit dem, was mir das Schicksal gibt.

Veracht‹ ich mich beinah in den Gedanken,

so denk‹ ich dein, dann steigt mein Geist empor

Der Lerche gleich von trüber Erde Schranken

Und jauchzt im Frührot an des Himmels Tor.«

*

Sie atmete tief durch und flüsterte in die Dunkelheit hinein:

»Ach, Shakespeare sprach schon weise in seinen Sonetten.

Vielleicht passt ja auch irgendwann das letzte Stück von der 29 zu mir.

*

›In deiner Liebe fühl‹ ich mich so reich,

daß ich nicht tausche um ein Königreich!‹«

*

Lydia fühlte viel, nur nicht geliebt. Manchmal, wenn sie weder ein noch aus wusste, zitierte sie einfach irgendwas. Sie sprach dann mit sich selbst, damit sie ihre Gedanken wieder ordnen konnte. So war sie und in der Regel half ihr William Shakespeare wieder aus einer Sackgasse hinaus.

Und während sie vor sich hin murmelte verharrte Stephen eine Zeitlang vor ihrer Tür und hörte ihr aufmerksam zu. Denn, wie der Zufall es so wollte, war sie nicht gänzlich geschlossen.

Er wollte eintreten, ihr beistehen, doch ihm war bewusst, dass sie Zeit für sich brauchte.

Es war Sonntag und Lydia konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie hatte ihre Sachen gepackt. Auch Tom schlief nicht und immer, wenn er hinüberblickte, sah er noch Licht bei seiner Schwester brennen.

Irgendwann wusste Lydia, dass sie nun in die Küche gehen konnte.

»Hey«, flüstere Steve und schaute sie mit seinen großen, braunen Augen an.

»Morgen«, sagte sie und runzelte die Stirn, zog den Stuhl zurück und setzte sich. Ihr Blick fiel auf die Uhr hinter Steve und wunderte sich, warum er noch vor sieben Uhr wach war.

»Ich konnte nicht schlafen«, meinte er, als er ihren verunsicherten Blick wahrnahm.

»Ja, ich auch nicht. Ich hab meine Sachen gepackt.«

Lächelnd stand er auf und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. Er wusste, dass sie sehr früh aufstehen würde.

»Danke.« Die Tasse wärmte ihre kalten Hände und sie sog den Duft in sich auf. Kaffeeduft beruhigte sie.

»Ich versteh nicht, warum du nie etwas zu mir gesagt hast.«

Steve nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag.

»Hättest du es denn verstanden? Wenn wir es dir vor Jahren schon gesagt hätten, würdest du es dann so verstehen wie heute?«

»Aber ich kapiere es ja nicht«, sprach sie verzweifelt.

»Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Toms Familie schon früher hergezogen wäre. Vor Jahren wäre dir nicht das Herz gebrochen worden.«

»Mir wird schon wieder schlecht!«, murmelte sie in ihre Kaffeetasse.

»Weil ihr euch geküsst habt?« Sie sah ihn mit verkniffenen Augen an. Ihre Stimmen blieben die ganze Zeit gedämpft, da sie niemanden wecken wollten. Für beide war es wichtig, noch einmal etwas Zeit miteinander zu verbringen.

»Mach dir mal keine Gedanken darüber. Es ist nichts passiert.«

»Steve, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Alles, was du willst.«

»Würdest du mich zum Bahnhof bringen? Gegen 8 Uhr fährt ein Zug.«

»Du willst nicht, dass ich dich direkt hinfahre?«, fragte er sie.

»Nein!«

»Aber bis dahin werden die anderen noch schlafen.«

»Das ist ja meine Absicht. Du bist Frühaufsteher.«

Natürlich willigte er ein. Er würde um die halbe Welt reisen, um ihr zu helfen.

Sie verzog sich ins Bad, doch nach einer Weile kam Steve rein. Er wollte etwas mit ihr besprechen und hatte vollkommen vergessen, anzuklopfen, da er so in Gedanken war.

»Entschuldige!« Er schloss die Tür wieder und versank vor Scham im Boden. Kurz darauf wurde die Tür wieder geöffnet. Lydia hatte ihre Zahnbürste im Mund.

»Tut mir leid. Das ist mir peinlich.«

Sie spuckte die Pasta aus und legte die Bürste in eine Tasche.

»Nichts passiert.«

»Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Hilfe beim zusammen packen brauchst und was du essen möchtest«, stammelte er.

»Wenn du magst, klar.« Sie suchten nun Lydias Kosmetikzeug zusammen und gingen gemeinsam nach unten.

»Ach Stevie, du bist ja immer noch knallrot.« Sie boxte ihn und sagte: »Hey, wo nichts wächst, kann man auch nichts weggucken, denke dran!«

Da musste er lachen, doch wusste er natürlich, dass das nicht der Wahrheit entsprach. So etwas machte man nicht und da gab es auch nichts schönzureden oder zu diskutieren.

»Ja, das stimmt allerdings«, sagte er lachend. Sie schubste ihn und nun mussten sie gemeinsam lachen. Trotzdem fragte sich Lydia, ob es wohl jemals wieder so wie früher sein wird? Ob sie jemals wieder unbeschwert sein können.

Nach dem Frühstück packte er ihre Taschen in den Kofferraum.

»Hast du genug Geld?«, wollte er wissen, als sie am Auto standen.

»Oh verdammt! Da war ja noch was, was ich erledigen wollte«, meinte sie und schnipste mit den Fingern.

Steve nickte, zog sein Portmonee heraus und reichte ihr ein paar Scheine. Damit müsste sie die erste Zeit überstehen können.

»Danke. Das bekommst du aber bald zurück.« Sie fühlte sich so merkwürdig. Noch bevor sie es unterdrücken konnte, kullerte eine Träne ihre Wange hinunter.

Er ging etwas in die Knie und sah sie von unten an:

»Sei nicht albern, das ist das Mindeste.« Und wischte die Träne so sanft weg, dass sie die Luft anhalten musste.

»Danke.«

Sam, Michael und Sascha kamen nach unten. Doch sie sahen nur noch die Rücklichter vom Auto. Auch als Tom wach wurde, wusste er, dass er sie verpasst hatte.

Er blickte zu ihr rüber. Ein Zettel klebte an der Scheibe:

»Vergiss mich nicht, Brüderchen.«

*

»Es ist das Beste für uns alle«, sprach Sascha und nahm sich eine Tasse Kaffee. Die Jungs sahen sich an und verzogen sich ins Wohnzimmer. Sam war irgendwie erleichtert. Er liebte Lydia, wie er seine Brüder liebte, aber es war nie einfach. Er wuchs schließlich auch ohne Mutter auf, doch darauf achtete niemand. Es ging stets um Lydia. Allerdings musste er sich auch eingestehen: Seine Schwester war immer für ihn da gewesen und sie kümmerte sich um den Haushalt, sorgte dafür, dass alles ordentlich war.

Ja, er würde sie vermissen. Möglicherweise sogar mehr, als er es sich jetzt eingestand.

Michael hingegen wollte einfach nur, dass sie ihm verzeihen würde. Es war für alle das Beste gewesen, das sie fortging. Sie musste selbst darauf kommen und das tat sie. Sie wollte so gerne die Ausbildung beginnen, sie wollte ihre Gefühle zulassen. Doch alles war nun in Scherben. Es zerbrach, ihr Glück.

*

»Danke, Steve«, sprach sie, als sie den Bahnhof erreichten. Es war das Erste, was sie sagte, seitdem sie im Auto saßen.

»Gerne. Warte mal!« Er stieg mit ihr aus und drückte sie ganz fest zum Abschied. »Ich habe noch etwas für dich«, meinte er etwas zögernd. Er reichte ihr einen Brief, der noch etwas anderes enthielt, was sie fühlen konnte. »Erst öffnen, wenn der Zug schon mindestens 15 Minuten lang unterwegs ist.«

»Mach ich«, versprach sie weinend und zögernd.

»Deinen Fahrplan hast du und du weißt, wann du umsteigen musst?«

»Ja. Schickt mir meine restlichen Sachen bei Gelegenheit zu.«

»Machen wir! Beeile dich.« Tränen brannten in seinen Augen, doch noch konnte er sie nicht ganz zulassen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und rannte, mit Rucksack, Koffer und Tasche, zu ihrem Gleis. Das Ticket kaufte sie online.

Lydia - die komplette Reihe

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