Читать книгу Lydia - die komplette Reihe - Janine Zachariae - Страница 4

1. Zukunftsträume

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Manchmal kam auch Lydia der Gedanke, dass sie studieren könnte. Sie liebte Musik, Bücher und Kunst. Sie selbst war in keinem Gebiet gut, aber sie interessierte sich dafür. Ob sie überhaupt das Gymnasium besuchen wollte, nachdem sie bereits fast zehn Jahre die Schulbank gedrückt hatte, wusste sie auch noch nicht. Ihre Noten hätten dafür ausgereicht, aber eigentlich wollte sie sich lieber direkt in eine Ausbildung stürzen. Sie spürte den Drang nach Unabhängigkeit.

»Papa, ich hab nachgedacht«, sagte Lydia eines Abends. Sam und ihr Vater schauten Fußball im Fernsehen, aber sie wartete bis zur Halbzeit, ehe sie ihnen ihre Entscheidung mitteilte. »Also«, sie holte tief Luft, »ich werde nicht das Abitur machen und demnach auch nicht studieren.«

»Wieso nicht?« Ihr Vater war überrascht und schaltete den Ton aus.

»Schau, ich hab überschlagen, was dich die Jungs gekostet haben. Du hast viel Geld in ihre Ausbildung gesteckt - gut, Michael hat es dir zurückgegeben, aber das wolltest du ja nicht. Die Wirtschaftskrise wird sicherlich noch lange Nachhallen und wer weiß, ob du nicht auch in einem halben Jahr Kurzarbeit leistest oder halt weniger Aufträge bekommst. BAföG will ich nicht beantragen, da man das immer zurückzahlen muss, ganz gleich, ob man es kann oder nicht. Meine Brüder haben alle ein Ziel gehabt, als sie bereits in meinem Alter waren. Sie sind auf ihren Gebieten talentiert. Ich weiß nicht, was ich machen will. Daher wäre es nicht gerecht, wenn ich noch zwei oder drei Jahre zur Schule gehe, um anschließend noch einige Semester studiere.

Deshalb habe ich mich umgesehen, Bewerbungen verschickt und warte nun auf Antworten. Es ist ja noch etwas Zeit.«

Manchmal, wenn Lydia etwas wirklich wichtig war, überschlugen sich ihre Gedanken.

Die zwei starrten sie nur perplex an und es dauerte einige Augenblicke, ehe Sam endlich etwas dazu sagen konnte:

»Schwesterchen, wie kommst du denn auf solche Gedanken?«

»So was passiert, wenn man den Kindern seinen eigenen Fernseher gibt!«, lachte Lydia und sah demonstrativ zu ihrem Dad und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Im Ernst, ich hab das alles mit der Krise verfolgt, schon seit Monaten. Klar, US-Präsident Obama hat schon viel erreicht in seiner kurzen Amtszeit und auch Kanzlerin Merkel versucht irgendwie etwas zu machen. Aber die wirtschaftliche Lage ist nicht lustig und viele Jobs sind betroffen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich später studieren will. Ich möchte lieber eine Lehrstelle.

Lernen macht mir eh keinen Spaß, das wisst ihr. Und wenn ich dran denke, vielleicht noch fünf, sechs Jahre büffeln zu müssen, ohne zu wissen, ob ich später überhaupt eine Arbeit erhalte, werde ich nur traurig. Sams Noten sind super, er muss studieren«, während sie das letzte sagte, machte sie große Augen und sah ihren Bruder an.

»Lydia, du bist klüger als die meisten, die ich kenne, und jünger als jene, die glauben, die Welt nach ihrem Studium ändern zu können.« Sam stand von seinem gemütlichen Sofa auf und ging zu ihr.

»Was soll’s. Drei von vier Schaf-Kinder sind Genies. Das ist doch sehr gut.« Sie brachte ihre Familie immer zum Lachen, egal, wie wichtig ein Gespräch war. »Aber macht euch mal keine Gedanken. Das Spiel fängt wieder an. Ich werde zurück in mein Zimmer gehen und etwas fernsehen.«

»Aber keine Nachrichten mehr!«, rief ihr Bruder hinterher. Er setzte sich wieder zu seinem Vater. Beide waren sehr überrascht. Lydia hörte, wie sie sich etwas über sie unterhielten, aber dann erklang der Pfiff zur zweiten Halbzeit und sie widmeten sich wieder der Nationalelf und schimpften auf die Spieler, die ihrer Meinung nach falsch eingewechselt wurden und auch über die Schiedsrichter, die ein Abseits nicht richtig deuteten.

So war Lydia. Von außen sah sie unbeschwert aus, doch sie dachte viel nach. Zu viel, wie ihre Familie meinte. Als sie am Tag darauf von der Schule nach Hause kam, hatte sie Besuch von Michael und Stephen.

»Ach, Hallo ihr«, begrüßte sie die Jungs und umarmte ihre großen Brüder.

»Hey, Kleines«, kam es fast wie im Chor. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.

Sam und ihr Vater waren nicht da. Michael fing als erster mit dem Thema an:

»Du willst nach der zehnten Klasse nicht weiter zur Schule gehen?«, hakte der große Bruder vorsichtig nach.

Lydia stellte sich wieder hin und funkelte sie böse an.

»Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen und ihr seid nur hier, um mir ins Gewissen zu reden?«

»Nein, nein. Gar nicht«, wehrten beide fast synchron ab.

»Also, ich hab es gestern Abend Papa und Sam erklärt.« Sie stemmte ihre Arme in ihre Hüften und sah beiden direkt in die Augen.

»Liegt es am Geld?«, wollte Steve wissen.

»Zum Teil«, meinte sie und seufzte. »Ich sehe aber auch keinen Sinn für mich darin.«

»Geld haben wir und Vater hat einiges für uns alle zurückgelegt«, sagte Steve direkt und beobachtete seine kleine Schwester. Michael stimmte dem nickend zu. Er war nie ein Mann großer Worte, aber seine Anwesenheit allein genügte oftmals schon aus, um zu zeigen, dass man sich auf ihn verlassen konnte.

»Ich will Vater einfach nicht noch mehr auf den Taschen liegen.«

Die Jungs sahen sich fragend an. Die Brüder konnten miteinander kommunizieren, ohne zu sprechen. Besonders wenn Lydia bei ihnen war, konnte diese Art der Verständigung sehr hilfreich sein. Manchmal schaute Lydia sie dann argwöhnisch an, als würde sie ahnen, das etwas nicht stimmte.

»Hört mal, ich freue mich immer, euch zu sehen, aber ich will wirklich nicht auf ein Gymnasium und sollte ich irgendwann die Muse haben zu studieren, kann ich auch ein Fernstudium machen. Die sind sicherlich nicht so wie ein ›Richtiges‹, aber sie öffnen einem auch Türen. Was sollte ich denn eurer Meinung nach studieren?«, fragte sie aufgebracht und fuhr sich mit der Hand durch ihr langes dunkelblondes Haar.

»Ein Fernstudium? Das kostet auch Geld!« Steve machte sich spürbar Sorgen um seine kleine Schwester und blickte ihr direkt in die Augen, denn darin konnte er mehr erkennen, als in ihren Worten. Lydia aber wirkte entschlossen, als wüsste sie, wie ihre Zukunft aussieht. Als hätte sie alles genau durchdacht und geplant. Er musste schmunzeln, denn genauso war es wahrscheinlich: Sie hatte einen Plan, den sie nur noch nicht verstanden. Michael hörte schweigend zu, aber auch er erkannte, wie sie sich selbst sah.

»Ja, aber nicht annähernd so viel wie eins an einer Uni. Ein Fernstudium kann ich von zuhause aus machen und nebenbei arbeiten. Wenn ich ein Studium antreten würde, bräuchte ich eine Bleibe und müsste zusätzlich eh Geldverdienen«, versuchte sie ihren Standpunkt ganz klar darzustellen.

»Du magst doch Bücher! Du könntest Literatur studieren oder Deutsch oder Geschichte.«

»Steve, und, was mache ich dann mit einem solchen Wissen?«

»Du könntest Lehrerin oder Bibliothekarin werden ... Du könntest alles werden, was du willst!«, ergriff der Ältere das Wort.

»Ihr redet so, als wäre es schlecht, nicht zu studieren! Warum sollte jemand, der nicht x Jahre eine Uni besuchte, schlechter in etwas sein? Klar, alles kann man nicht machen. Aber es gibt viele tolle Jobs! Ich könnte genauso gut Buchhändlerin werden oder Einzelhandelskauffrau«, sagte Lydia.

»Es ist nichts Schlechtes dabei. Aber wenn man doch, im Prinzip, was anderes werden will, warum sollte man sein Talent vergeuden?«

»Wer vergeudet denn hier etwas, Michael?«, sagte sie etwas lauter, als beabsichtigt und senkte ihre Stimme wieder, bevor sie fortfuhr. »Ihr habt eure Chancen ergriffen. Ihr habt eure Interessen und Fähigkeiten so eingesetzt, dass ihr das Beste daraus machen konntet. Auch Sam wird sicher eines Tages ein toller Anwalt sein. Deine Frau, Michael, macht ihre Arbeit bestimmt auch grandios. Versteht ihr nicht? Ich weiß, was ich kann und was nicht. Ich kenne meine Möglichkeiten und ich weiß, dass ich sicherlich keinen oder kaum Erfolg haben werde«, erklärte sie stur.

Lydia schätzte sich seit jeher falsch ein. Sie sah nicht, was sie wirklich in sich hatte.

Manchmal, auch wenn es nur Augenblicke waren, fühlte sie sich nicht zugehörig. Wie Fanny aus ›Mansfield Park‹: Sie gehörte zur Familie, aber irgendetwas fehlte.

Damit war für sie das Thema beendet. Steve wollte gerade noch einmal ausholen, als es an der Tür klingelte. Lydia war erleichtert und nahm ein Paket entgegen, bedankte sich beim Postboten und ging zurück ins Wohnzimmer. »Ist für Vati.«

Steve schaute es sich an und Lydia glaubte, für einen Moment etwas in seiner Mimik wahrgenommen zu haben, als er es sich anschaute.

»Wann ist er eigentlich zu Hause?«, erkundigte er sich.

»Dauert nicht mehr lange. Viertelstunde noch, warum?«

»Weil ich mir gerade gedacht habe, wenn er zurück ist, können wir noch das schöne Wetter ausnutzen.«

»Mmh, ich müsste eigentlich lernen!«, murmelte Lydia.

»Ach, komm schon. Du lernst seit Monaten ununterbrochen! Zuviel des Guten ist auch nicht hilfreich.«

Lydia strahlte, weil sie annahm, ihre Brüder würden sie auch noch dazu drängen. Sie paukte in der Schule schon so viel, das ihr Kopf wehtat. Schließlich wurde sie oft - nicht ausgeschimpft - aber doch anders behandelt, wenn sie eine schlechte Note erhalten hatte. Ihr Vater ignorierte sie dann für den restlichen Tag und manchmal sogar das ganze Wochenende.

Michael konnte nicht länger bleiben, aber er war froh, dass Stephen noch Zeit mit ihr verbringen wollte.

Als ihr Vater nach Hause kam, erzählte sie vom Paket und auch hier erkannte sie ein leichtes Zucken, sie ignorierte es und fragte, ob sie mit Stephen wegkönnte.

»Zum Abendessen seid ihr wieder zurück«, meinte er nur und widmete sich, als er alleine war, dem Inhalt des Pakets.

Lydia sah zu Steve auf. Er war ihr am ähnlichsten, auch wenn sie sich allgemein von den anderen unterschied: Sie hatte mittel-blondes Haar, ihre Brüder waren alle brünett. Ihre Augen waren grün, während alle anderen in ihrer Familie braune Augen hatten. Sie machte sich nichts aus solchen Äußerlichkeiten. Steve war stets für sie da. Michael und Sam auch, aber irgendwie hatte sie immer mehr Zeit mit Steve verbracht.

Er fühlte sich für sie verantwortlich und wollte möglichst jegliches Leid von ihr nehmen. Deshalb war er da, wenn sie ihn brauchte.

»Schau mal, Brüderchen, da ziehen welche ein!«

»Neue Nachbarn sind doch immer gut. Sie scheinen Kinder zu haben, siehst du!«

Beide blieben einen Moment vor dem großen weißen Haus stehen. Es war genau neben ihrem und jedes Mal, wenn sie von der Schule kam, fand sie, dass es eine Verschwendung war, wenn ein solches Haus ohne Besitzer blieb. Es hatte viele Fenster, eine Terrasse, Balkon und einen wunderschönen Garten mit einem Brunnen.

Der Frühling war erst wenige Wochen alt und doch blühte schon alles. Der Vermieter kümmerte sich darum.

Es stand nun zwei Jahre leer.

»So, was wollen wir heute, bei diesem schönen Wetter, unternehmen?«

»Ich weiß was!«, sagte sie und klatschte fröhlich in die Hände. Sie schaute ihn hoffnungsvoll an und er meinte nur:

»Och, nein. Die Sonne scheint, es ist warm und du willst wirklich in den Buchladen?«

Sie nickte. »Ich war schon lange nicht mehr dort und mittlerweile gibt es einige neue Bücher, die ich mir gerne einmal ansehen möchte. Heute ist Donnerstag, da passt es doch gut, oder?« Steve gab sich geschlagen.

Wenn es um Bücher ging, hatte er keine Chance.

»Na gut. Aber nur, wenn wir einen Umweg um den Teich mit den Schwänen machen«, sagte er bereitwillig.

Sie verbrachten einen schönen Nachmittag zusammen und Steve kaufte ihr gleich zwei Bücher, auch wenn sie es gar nicht beabsichtigte.

»Du weißt, ich schau sie mir immer gerne an und liebe den Geruch von neuen Büchern. Madlen - die Inhaberin - freut sich auch so, mich zu sehen. Ich hab mich übrigens dort beworben. Madlen hatte mir vorhin gesagt, dass ich gute Chancen hätte. Ich soll am Samstag mal Probearbeiten«, erzählte sie fröhlich. Lydia konnte von einem Thema zum anderen wechseln, ohne Luft zu holen.

»Wann hat sie dir das denn gesagt?«, erkundigte sich ihr Bruder.

»Als du dir die Sportzeitschriften angesehen hast.« Sie boxte ihn auf den Oberarm und lachte.

Anschließend machten sie sich wieder auf den Weg nach Hause.

»Der Umzugswagen ist schon weg.« Kaum hatte sie die Wörter gesagt, sahen beide jemanden auf dem Balkon.

»Hallo!«, winkte ihr neuer Nachbar.

»Hi!«, krächzte sie. Mehr brachte sie nicht heraus.

»Lydia, was ist denn mit dir? Du wirst ja ganz rot!« Neckte ihr Bruder sie.

»Quatsch. Ich hab nur einen Sonnenbrand«, stammelte das Mädchen.

»Ja, alles klar, von den vielen Büchern sicherlich.« Er schubste sie etwas und beide gingen ins Haus.

»Ach, da seid ihr ja. Steve, bleibst du zum Essen?«, fragte ihr Vater. Steve willigte ein, nachdem er auf die Uhr blickte und sich sicher war, dass er noch genügend Zeit hatte, ehe er wieder losmüsste. Kaum waren sie im Wohnzimmer, wurde Lydia auch schon in die Küche gerufen und Sammy bat sie, den Tisch zu decken. Er wusste, dass Steve über das Päckchen sprechen würde, welches einige Stunden zuvor angekommen war.

»Lass es gut sein, Bruder. Mir hat er auch nichts erzählt«, seufzte Sammy, nachdem sich Herr Schaf wieder einmal herausgeredet hatte.

»Wer hat wem nichts erzählt?« Lydia kam zufällig dazu, aber alle verstummten nur.

»Deine Brüder wollten wissen, was in dem Päckchen war, das ich von eBay ersteigert hatte. Aber wenn ich es euch jetzt sage, ist es ja keine Überraschung mehr«, flunkerte der Vater.

»Überraschung?«

»Ja! Sam fängt bald ein neues Leben an und bei dir ist auch demnächst ein wichtiger Abschnitt zu Ende. Aus diesem Grund gibt es eine Überraschung, aber nun hab ich zu viel verraten.« So was konnte Sascha schnell erfinden, jetzt musste er allerdings noch zwei Geschenke besorgen.

»Na, dann wollen wir mal nicht weiter fragen, nicht wahr Jungs?! Ach ja, wir können essen.«

Sie drehte sich um und hüpfte in die Küche.

»Gut gerettet, Vater!«, sagten die Jungs und klopften ihm auf die Schulter. Doch skeptisch war Steve trotzdem, denn dieses Mal schien es anders zu sein, als sonst. Nie erzählte ihr Vater ihnen, was los war. Sie alle wussten etwas, aber sie verschwiegen das Offenbare.

Die Familie setzte sich, während Lydia die vollen Teller auf den Tisch stellte.

»Ach, Schwesterchen, wolltest du nicht noch etwas erzählen?«

Lydia sah Steve mit großen Augen an.

»Hä? Ah ja, ich hab vielleicht einen Ausbildungsplatz.

Am Samstag soll ich hier im Bücherladen Probearbeiten.«

Sie war schon jetzt aufgeregt und freute sich ungemein. Es war ihr Lieblingsjob. Sie wollte diese Ausbildung unbedingt.

»Das ist klasse. Gut gemacht. Du verstehst dich ja mit der Ladenbesitzerin so gut«, beglückwünschte sie Sam.

»Das bedeutet, dass du hierbleiben willst?«

Diese Frage von ihrem Vater kam unerwartet und ließ Lydia erst einmal innehalten. Sie blickte ihn verdattert an und runzelte die Stirn.

»Dachte ich eigentlich. Äh, ich hatte gehofft, die Lehre über noch hier wohnen zu können. Aber wenn du nicht willst, dann such ich mir eine Wohnung, sobald ich etwas Geld gespart habe.«

»Das meinte ich nicht. Natürlich kannst du solange hierbleiben, wie du magst. Ich dachte nur, du findest das Dorf vielleicht zu langweilig«, meinte ihr Vater ausweichend und nahm sich eine Gabel voll mit Spaghetti.

»Nebenan ist eine Familie eingezogen, der Junge dürfte in ihrem Alter sein. Vielleicht wird es dann gar nicht mehr so langweilig«, stänkerte Steve.

»Ihr habt die Nachbarn schon kennen gelernt?«, wollte Sascha wissen, ohne auf die Bemerkung einzugehen.

»Nicht direkt. Wir haben heute nur gesehen, wie der Umzugswagen da stand und als wir wieder zurückkamen, war er weg. Dann haben wir auf dem Balkon diesen Jungen gesehen und das war es«, antwortete sie etwas überrumpelt.

»Der Junge gefällt unsrer kleinen Schwester also?«, bohrte Sam nach.

»Sie wurde jedenfalls rot, als er uns begrüßte.«

Die Jungs lachten, nur Lydia war es peinlich.

Keiner bemerkte den besorgten Blick von Sascha.

Immer und überall hörte Lydia Musik und so auch auf dem Weg zur Schule. Dadurch bekam sie nicht gleich mit, dass nach ihr gerufen wurde. Sie rechnete gar nicht damit, angesprochen zu werden.

»Hi, warte mal!«, rief jemand und hatte Lydia schon beinahe eingeholt. Sie drehte sich überrascht um und löste ihre Ohrstöpsel.

»Hallo, neuer Nachbar!«

»Tom Hafe.«

»Lydia Schaf.«

Er reichte ihr die Hand und sah ihr direkt in die Augen. Sie errötete und schaute verlegen zur Seite.

»Bist du gerade auf dem Weg zur Schule?«

Sie nickte und wartete ab, was er nun sagen würde.

»Darf ich dich etwas begleiten? Ich kenne hier noch keinen und will mich nicht verlaufen.« Sie machte eine Kopfbewegung, die signalisierte, dass sie gehen konnten.

Schmunzelte aber bei der Bemerkung, er könne sich in diesem Ort verlaufen.

»Woher kommst du?«, wollte Lydia wissen und beobachtete ihn von der Seite aus, dabei brauchte sie gar nicht so weit nach oben blicken, denn so viel größer war er gar nicht.

»Aus Köln«, antwortete Tom.

»Warum seid ihr hergezogen?«

»Meine Mutter hatte immer so starke Kopfschmerzen von dem Smog und mein Vater bat um eine Versetzung hier in diese Gegend. Tja, so sind wir hier gelandet«, meinte er schulterzuckend.

»Was arbeitet dein Vater?«

»Er ist Museumsdirektor. Im Museum, in der Stadt, wurde eine Stelle frei und die hat er sich sofort geschnappt, als es günstig stand. Meine Mutter ist Architektin, sie hat bereits neue Aufträge erhalten, zudem lehrt sie an der Universität in Heidelberg«, erklärte er.

»Deine Eltern haben echt tolle Berufe. Was heißt aber ›günstig‹?«, hakte Lydia nach.

»Ferienbeginn. Ja, das haben sie.«

»Ach so, dann hast du schon Ferien? Ich muss noch etwas durchhalten.«

Tom lachte.

»Du bist in der Zehnten, oder?«

»Jupp«, sagte Lydia.

»Schon Prüfungen gehabt?«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

»Ja, Montag, Mittwoch und in einer halben Stunde.«

»Und was?«

Sie verzog ihr Gesicht: »Mathe!«

»Beileid. Deutsch und Englisch hast du demnach schon überstanden?«

»Ja. Darüber hab ich mir auch kaum Gedanken gemacht. Im Grunde wie mit Mathe. Was ich bis heute nicht weiß, bekomme ich eh nicht mehr rein. Daher hab ich es ruhig angehen lassen, mehr oder weniger«, plapperte sie nervös und rieb sich etwas den Nacken. Er sah zu ihr und erkannte, dass sie nicht ganz die Wahrheit sprach.

Was auch stimmt, denn manchmal lernte sie bis nach Mitternacht. Sie gönnte sich nur wenige Pausen. Diese nutzte sie allerdings ganz bewusst: Spaziergänge, Lesen und ganz viel Musik – was ihr auch beim Lernen half.

»Entweder man kann’s oder nicht und ich kann’s nicht«, sagte sie mit einem Zwinkern.

»Ich wünschte, ich wäre so unbekümmert gewesen«, seufzte Tom Hafe und kickte gedankenverloren einen kleinen Stein vor sich.

»Wie lief es denn bei dir?«

»Nun, Mathe lief, denke ich, ganz gut, Deutsch sicher auch. Nur in Englisch hatte ich Probleme. Ich hab allerdings wie blöde gelernt«, gab er zu und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus und irgendwie fand sie ihn schon sehr süß.

»Und mündlich?«

»Werde ich dann hier machen. Das Schulsystem ist ja ähnlich. Großartig Unterricht gibt es ja auch nicht mehr, so dass mich deine Lehrer nicht verunsichern können. Französisch und Sport«, erzählte der Junge.

»Französisch kann ich ja noch verstehen, aber Sport?«, wollte sie wissen.

»In beiden steh ich auf kippe. Bei den anderen Fächern wäre es fast egal, welche Note ich bekomme.«

»Ich muss Geographie und Biologie machen.«

»Autsch.« Er legte seine Stirn in Falten, was aber lustig aussah.

»Das kannst du laut sagen. So, Tom, das ist die tolle Schule, in die du auch bald gehen musst.«

»Dann wünsche ich dir viel Glück. Wann bist du fertig?«

»Drei Stunden geht die Prüfung. Wir haben es gleich neun, also bis zwölf.«Ihr Unterricht fing später an, da ausgeschlafene Schüler bessere Ergebnisse liefern, jedenfalls bei einer Prüfung.

»Alles klar. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich nachher bitten, mich hier noch etwas umher zuführen.«

»Von mir aus. Bis später und verirre dich nicht.« Lydia musste dabei lachen und so betrat sie kichernd das Schulgebäude.

Die Zeit verging sehr schnell, jedenfalls dann, wenn das Mädchen gerade wusste, wie sie eine Aufgabe lösen konnte.

»Noch dreißig Minuten!«, gab ihre Lehrerin an. Zwei andere gingen die ganze Zeit in der Aula hin und her. Das irritierte sie schon etwas, da sie es nicht mochte, wenn sie beobachtet wurde. Auch wenn sie nicht spickte - und es auch nie machen würde - war sie trotzdem stets nervös, wenn ihr jemand über die Schultern schaute.

Sie hatte dann immer Angst kritisiert zu werden, weil sie die Aufgabe nicht konnte, obwohl sie gelernt hatte.

»Noch zwanzig Minuten.«

Lydia saß direkt am Fenster und konnte gut auf den Schuleingang blicken.

»Noch fünfzehn Minuten.«

Dann sah sie, wie Tom gerade aus der Ferne kam. Er musste die Zeit über zu Hause gewesen sein, da er seine Jacke nicht dabei hatte. Am Morgen war es noch etwas frisch gewesen, aber die Sonne schien nun sehr warm. Er trug ein T-Shirt, Jeans, Chucks und eine Base Cape.

»Zehn Minuten!«

Tom stand nun vor dem Gebäude und blickte nach oben. Als er sie entdeckte, winkte er ihr strahlend zu, sie lächelte schüchtern in seine Richtung und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Blatt, wobei ihre Wangen etwas errötet waren.

»Fünf Minuten!«

Seufzend sah sie sich ihre Aufgaben noch einmal an. Im Grunde hatte sie alles geschafft, mehr oder weniger. Zwei oder drei Aufgaben fing sie an, ohne zu beenden. Und bei manchen hatte sie nur geraten, einige gewusst und bei vielen war Glück sicherlich im Spiel, wenn es richtig wäre.

»Okay. Legt eure Stifte weg und bringt die Arbeiten nach vorne.«

Lydia packte alles zusammen und legte ihre Prüfung zu den anderen auf den Lehrertisch.

»Hey, Lydia. Wie fandest du die Prüfung?«, fragte sie eine Klassenkameradin.

»Na ja, Svenja, es ging so und euch?« Neben ihr standen noch andere Mädchen und Jungen, die aber teilweise etwas abwesend wirkten.

»Bescheuert, wer soll denn das alles wissen?« Zusammen gingen sie aus dem Gebäude.

»Uh, wer ist denn das? Der sieht gut aus! Ein cooler Junge«, bemerkte Svenja und auch die anderen sahen sich den ›Neuen‹ an. Doch er ignorierte sie und lächelte nur Lydia an.

»Hey, Lydia, wie lief es?«, erkundigte er sich direkt.

»Hi, Tom. Ach na ja, du weißt schon. So, wollen wir dann?« Sie drehte sich kurz zu den anderen und sagte: »Bis nächste Woche.«

Lydia - die komplette Reihe

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