Читать книгу Lydia - die komplette Reihe - Janine Zachariae - Страница 9

6. Neuanfang

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Das Mädchen war komplett am Ende. Alle paar Minuten dachte sie an etwas anderes und dann grübelte sie sehr lange darüber. Doch irgendwann schlief sie vor Erschöpfung einfach ein, während sie ein Buch noch in der Hand hielt. Als der Zug hielt, musste sie erst einmal überlegen, wo sie sich befand und dann prasselte die Realität wieder auf sie ein.

Die Strecke bis zum Internat selbst fuhr sie mit einem Taxi. So weit war es zum Glück nicht, vielleicht zwanzig Minuten. Der Taxifahrer schien ihre Stimmung zu registrieren, denn er ließ sie in Ruhe, lächelte sie aber freundlich an, als sich ihre Blicke im Rückspiegel begegneten. Sie versuchte, ein Lächeln zustande zu bekommen, und blieb natürlich freundlich.

»Hallo. Lydia Schaf mein Name. Ich wollte mich anmelden.«

»Guten Tag. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«

»Ja, vielen Dank«, sagte sie, ihre Stimme aber war sehr klanglos.

»Das freut mich!«, sagte die Frau von der Anmeldung. »Gut, dann werden wir Sie mal in Ihr Zimmer bringen.«

Sie registrierte kaum etwas von ihrer Umgebung, obwohl ihr erzählt wurde, wo sich was befand und war froh, als sie endlich in ihrem Zweibettzimmer angekommen waren.

Da Sonntag war, waren die meisten Schülerinnen - denn es war eine reine Mädchenschule - nach Hause gefahren.

»Ihr Vater rief uns heute Vormittag an«, begann die Frau, »er wollte sicher gehen, dass Sie auch wirklich gut ankommen und sich gut einleben. Da er Sie nicht selbst bringen konnte, bat er mich, ihn später zu benachrichtigen, wenn wir hier fertig sind.« Lydia lächelte und nickte sie an, sie hoffte zumindest, dass sie lächelte. Es fühlte sich recht merkwürdig an. »Wollen Sie, dass ich ihm etwas ausrichte?«

Sie dachte nach.

»Nein, alles gut. Haben Sie vielen Dank!« Lydia versuchte, so nett wie möglich zu sein, denn sie würde die nächsten Jahre hier verbringen.

»Brauchen Sie noch etwas?«

»Nein, ich hab alles. Ich würde gerne meine Sachen auspacken und mich etwas hinlegen, wenn ich darf?«, sagte Lydia.

»Gut! Wenn Sie noch was benötigen oder Ihnen etwas auf dem Herzen liegt, sagen Sie Bescheid. Hier noch ein Ordner über das Internat. Mit allen Regeln, der Hausordnung, Speiseplänen, Stundenplänen und einer Auflistung der Lehrer, die hier unterrichten.«

Sie nickte, nahm es an sich und bedankte sich. Die Tür schloss sich und sie war wieder alleine. Sie inspizierte ihr Zimmer, entdeckte das eigene Badezimmer mit Badewanne und Dusche und schaute noch einmal nach, wie ihre Mitbewohnerin hieß: Julie Schmoll.

Die Sachen legte sie ordentlich in den Kleiderschrank und seufzte, als sie den Geruch wahrnahm, der an ihnen haftete. Er erinnerte sie an das Weichmittel, welches sie einst mit Steve zusammen ausgesucht hatte und seit vielen Jahren benutzten. Es roch nach zu Hause, aber sie wusste, dass es bald verfliegen und sich ein neuer Geruch in den Vordergrund drängen würde.

Ihr Bett war direkt neben der Tür, während ihre Mitbewohnerin am Fenster schlief. Dort standen zwei Pflanzen und ein paar Figuren. Auf dem Nachttisch von ihr waren Bilder - sicher von ihrer Familie und ihren Freunden - dazu noch ein Wecker.

In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, auf dem eine Blume ragte. Sogar zwei Computertische, mit PC, gab es.

Lydia setzte sich auf ihr Bett und legte den Ordner vor sich.

Sie las ihn durch. Einige Regeln klangen absurd, andere waren durchaus nachvollziehbar.

So durfte man während des Unterrichts nicht rauchen, Kaugummi kauen oder essen. Aber trinken war erlaubt.

Alkohol war verboten und geraucht werden durfte nur auf dem Hof, in der Raucherecke. Samstags war Besuchertag: von 10 bis 18 Uhr. Unter der Woche war um 22 Uhr für die Größeren Bettruhe, die Kleinen mussten zwischen 20 und 21 Uhr das Licht ausmachen. Sie waren selbst für ihr Aufstehen verantwortlich, wer zu spät zum Unterricht erschien, wurde mit Nachsitzen und Ähnlichem bestraft. Spätestens um 20 Uhr musste man aber im Internat sein. Wenn man das Anwesen verlassen wollte, dann nur mit Erlaubnis. Ganz schön viel auf einmal und noch mehr stand drin.

Insgesamt lebten 120 Schülerinnen (auf 8 Klassen verteilt - von der Fünften bis zur Zwölften) unter einem Dach.

Lydia nahm sich nun ihren Stundenplan vor. Er war so, wie sie ihn in ihrer alten Schule auch gehabt hatte. Sie brauchte keine weiteren Prüfungen mehr absolvieren, erst wenn sie ihren Abschluss machen würde. Sie konnte schließlich ihre Fächer für das kommende Schuljahr bestimmen:

Mathe, Englisch und Deutsch waren Pflicht - aber eins davon durfte sie als Nebenfach wählen. Sie entschied sich für Mathe.

Dann kreuzte sie noch die an, die sie als Hauptfach haben wollte: Literatur, Geschichte, Kunst, Musik und Französisch.

Nebenfächer: Astrologie, Geographie, Sozialkunde,

Wirtschaftslehre, Hauswirtschaft und Sport - wobei sie bei Sport noch einmal wählen konnte und sich für Krafttraining entschied.

Sie suchte sich absichtlich so viel aus. Sie wusste, dass sie sich dadurch vielleicht zur Außenseiterin katapultieren würde, doch sie war ja hier, um zu lernen. Sie schrieb sich außerdem für zwei Aktivitäten ein: Bücherclub und Journalismus in der hiesigen Zeitung. Das Internat hatte eine Schülerzeitung, die einmal in der Woche erschien.

Sie fand in den Unterlagen noch eine Notiz, die besagte, dass Ihr Vater den Schreibtisch und den Computer bezahlte und er noch alles schicken würde, was in einem Büro nicht fehlen durfte:

Drucker, Scanner, Schreibmaterial und viele andere nützliche Sachen.

Auch eine Pinnwand lag in einem Fach. Ein Foto war dran geheftet, welches sie als dreijähriges Mädchen zeigte. Sie war auf dem Arm von Steve und alle anderen standen mit dabei. Sie nahm das Bild ab und drehte es um: »Ich hab dich immer als meine Tochter gesehen und du wirst es immer für mich bleiben.« Sascha musste all dies schon länger geplant haben!

Lydia setzte sich hin und legte das Foto nieder. Sie saß am Computer und weinte. Unendliche Schmerzen erfüllten ihre Seele und ihr Herz. Einsam und im Stich gelassen. Sie musste sehr lange so gesessen haben, denn sie merkte nicht, wie die Tür aufging und sie jemand an der Schulter berührte.

»Hallo, ist alles in Ordnung?«

»Oh, tut mir leid. Du musst Julie sein.« Sie wischte sich die Tränen weg. Julie nickte. Lydia drehte sich zu ihr und stellte sich vor.

»Ich dachte, du würdest erst morgen kommen!«

Lydia zuckte mit den Schultern und sagte, dass es nicht anders ging.

»Hat man dich schon umher geführt?«

»Ja, sehr schön hier. Ein großes Anwesen. Entschuldige, ich war noch nie in einem Internat, ist alles etwas neu für mich«, erklärte sie.

»Ja, das war es für mich auch, als ich das erste Mal hier war. Ich kam gerade in die 5. Klasse.«

»Oh, so lange bist du schon hier.« Lydia sah zu ihrem Bett.

»Meine Mitbewohnerin ist vor kurzem heimgefahren. Sie wurde der Schule verwiesen«, meinte Julie.

»Was ist passiert?«, hakte Lydia nach.

»Nun, sie wurde mit einem Jungen erwischt.«

Lydia musste schmunzeln. ›Ja, so was gehört sich auch nicht‹, dachte sie. »Ach so, okay.«

»Wie ich sehe, hast du dir schon alles durchgelesen.«

Julie zeigte zum Ordner, der noch aufgeschlagen auf dem Bett lag.

»Ja. Wobei ich nicht weiß, ob ich es toll finde, dass ich keine Prüfungen dieses Jahr schreiben muss.«

»Ach, hattest du schon welche geschrieben?«

»Deutsch, Englisch und am Freitag war erst Mathe dran.

Nächste Woche wäre Konsultation und bald darauf meine mündlichen. Zudem hatte ich schon eine Facharbeit abgegeben«, plapperte Lydia drauflos und beobachtete das Mädchen dabei. Sie trug sehr enge Kleidung, was ihr aber ganz gut stand, denn sie war sehr schlank und groß und hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden, was sie jünger erschienen ließ, als sie war.

»Das ist ärgerlich«, bestätigte Julie und packte ihre Tasche aus. »Warst du auf der Realschule?«

»Ja. Ich hatte auch schon einen Ausbildungsplatz.«

»Wie jetzt?«, Julie hielt inne und schaute ihre neue Mitbewohnerin perplex an.

Lydia wusste zwar noch nicht viel über Julie, aber zumindest wirkte sie nicht eingebildet oder hochnäsig.

»Ich bin zwar ganz gut in der Schule, aber das Abitur stand nicht wirklich ganz oben auf meiner Liste. Mein Vater hatte mir das Internat vorgeschlagen und na ja, plötzlich war ein Platz frei und die Ausbildung rückte in weite Ferne.«

»Einfach so? Du hättest doch trotzdem die Lehre anfangen können?«, wollte Julie irritiert wissen.

»Sag mal«, lenkte Lydia schulterzuckend ab, »wie ist das mit dem Bücherclub und der Zeitung?«

»Du schreibst für die Zeitung. Dabei wird vorher allerdings festgelegt, für welchen Bereich du schreiben darfst und ob du überhaupt gut genug bist. Gut möglich, dass du auch gar nicht dafür arbeiten darfst. Und der Bücherclub nimmt jede auf. Du musst die Bücher allerdings auch lesen, die besprochen werden. Nur wenige machen wirklich mit. Es sind in der Regel andere Bücher, als in Literatur. Die Bücher sind im Preis inbegriffen und du darfst sie auch behalten.«, erklärte Julie schmoll.

Lydias Augen strahlten zum aller ersten Mal, das fand sie sehr gut.

»Aber es gibt durchaus Bücher, die echt mies sind.«

»Bist du auch im Club?«

Julie lachte. »Nein, aber ich habe Literatur als Hauptfach. Da du von einer ›gewöhnlichen‹ Schule kommst, ist es vielleicht zu viel und du kommst nicht hinterher. In der Abschlussprüfung kann es nämlich vorkommen, dass du über eins schreiben musst, was wir in der 10. Klasse gelesen haben.«

Lydia musste schlucken und räusperte sich.

»Aber ich glaube, du bekommst alle Bücher noch. Wir haben zehn Stück gelesen. Nach Ostern schreiben wir eine Arbeit über eins«, meinte Julie.

»Ach, da habe ich ja noch Zeit«, stellte Lydia fest und fügte hinzu: »Ich bleibe die Ferien über hier. Auch den Sommer über. Das hat mein Vater mit der Direktorin so abgemacht. Ich mache dann Praktika oder suche mir einen Ferienjob und kann so noch zusätzlich die Bücher lesen, die ihr schon durchgenommen habt.«

»Du fährst nicht weg?« Julie sah sie skeptisch an und es schien fast so, als würde sie einen kleinen Skandal oder ein tolles Gerücht erahnen.

»Nein.« Lydia wurde traurig, als Julie weitersprach.

»Du wirst dann aber die meiste Zeit komplett alleine sein!«

»Das macht nichts, Julie. Es gibt hier ja eine Bücherei und so wie ich gesehen habe, haben unsere PCs Internetanschluss.«

»Das Internet dürfen wir nutzen wie wir wollen. Aber trotzdem wird es nicht gerne gesehen, wenn wir zu lange online sind.«

Die beiden Mädchen unterhielten sich noch eine Weile, bis Julies Freundinnen kamen.

Julie stellte alle vor und fragte, ob Lydia draußen eine Zigarette mit rauchen wollte.

Die Nicht-Raucherin verneinte.

»Okay, dann sehen wir uns zum Abendbrot.«

Sie vernahm noch ein Kichern von draußen, dann atmete sie tief durch, schnappte sich ihre ausgefüllten Listen und gab sie im Sekretariat ab. Anschließend schlenderte sie noch über den Hof, hörte Musik über ihren MP3 Player und wollte einfach nur den Kopf freibekommen, ehe sie zum Abendbrot musste. Jeder Tisch im Speisesaal hatte eine Nummer und so konnte sie ihren ganz leicht ausfindig machen.

Obgleich sie zuletzt am Morgen etwas gegessen hatte, konnte sie nichts Essen. Ihr Magen fühlte sich eigenartig leer und doch viel zu voll an. Natürlich machte sie sich etwas auf ihren Teller drauf, damit sie nicht plötzlich mitten in der Nacht Hunger bekommen würde.

»Bist du etwa auch eine von denen, die nie was essen?«, fragte sie ein Mädchen mit dem Namen Barbara, wie sie nebenbei erfahren hatte. Sie war ein stämmiges Mädchen, hatte aber selbst nur einen Salat und etwas Hühnchen auf dem Teller.

»Nein, nein. Im Gegenteil. Aber ich war heute fast zehn Stunden unterwegs, Zugfahrt, Aufenthalt und so und irgendwie hab ich danach nie Appetit. Oder es liegt an der Luft hier. Frag meine Brüder, sie ziehen mich immer damit auf, dass ich zu viel esse«, erzählte Lydia nervös.

»Wie viele Brüder hast du?«

Da merkte Lydia plötzlich, dass sie im Plural redete. Es war eine Gewohnheitssache. »Hallo?«

»Oh, entschuldige. Ja, also, das ist kompliziert. Eigentlich hab ich einen Zwillingsbruder und drei Stiefbrüder.« Sie lächelte, wobei ihr Lächeln eher krampfartig aussah.

»So viele und du bist das einzige Mädchen?«

»Ja, soweit ich weiß, ja, wobei mein Zwillingsbruder selbst eine Stiefschwester hat.«

Barbara sah sie skeptisch an und war etwas verwirrt, musste dann aber doch lachen.

»Welches Buch lest ihr eigentlich gerade in Literatur?«, fragte Lydia in die Runde, hauptsächlich um abzulenken.

»Ach, was von Shakespeare, falls du den kennst.« Nun kam doch etwas der Ton eines Snobs hervor. Wer kennt William Shakespeare nicht?

»Shakespeare? Super!«

»Sag bloß, du liest so was?«, riefen fast alle aus.

»Ja, könnte man sagen«, meinte die fünfzehnjährige.

Alle am Tisch sahen sie entsetzt an.

»Na, dann wirst du es ja nicht so schwer haben«, antwortete Barbara.

»Kommt drauf an, was ihr genau liest.«

»Hattest du das in der Schule?«, wurde sie gefragt.

»‹Romeo und Julia‹ - aber da ging es eher um den Kinofilm mit Claire Danes und Leonardo DiCaprio.«

Natürlich las Lydia so was. Sie liebte jegliche Art von Büchern - über Lyrik und Poesie, Krimi und Thriller, bis hin zu Liebesromanen und Romanen im Allgemeinen.

Doch auch schon auf ihrer alten Schule war sie eine Außenseiterin, weil sie lieber las, als über Make – Up zu sprechen. Sie mochte dieses oberflächliche Getue nicht. Sie war lieber für sich, so vermied sie ärger.

»Das ist Fräulein Lydia Schaf! Sie ist gestern erst hergekommen und wird von nun an hierbleiben.« Ihre Lehrerin stellte sie am Montagmorgen vor und gab ihr gleich alle Bücher, die sie noch lesen musste - zehn Stück waren es.

»Danke.«

»Sie haben einen sehr umfangreichen Stundenplan für nächstes Jahr gewählt.«

»Ja, ich weiß noch nicht, was ich später studieren will, und dachte mir, das, was mich interessiert, wäre ein guter Anfang.«

Sie lächelte, nahm die Lektüren und setzte sich.

Ihr erster Schultag verging recht ereignislos.

Sie bekam alle Bücher für die einzelnen Stunden und von jedem Lehrer eine Liste mit Aufgaben, die in der nächsten Arbeit dran kamen. Sie sortierte alles, machte sich Notizen und verbrachte so den ersten Schultag.

Sie musste am Dienstag - ihrem Geburtstag - bereits drei Arbeiten mitschreiben. Das war aber nicht so schlimm, da sie ja im Grunde das gleiche Wissen wie ihre Mitschülerinnen besaß. Jedenfalls theoretisch. Trotzdem platzte ihr der Schädel, als sie an all die Formeln und Dinge dachte, die sie besprachen.

Am Nachmittag wurden ein Päckchen und zwei Briefe überreicht.

Sie bedankte sich und marschierte damit in ihr Zimmer. Julie war nicht da und so konnte sie in Ruhe alles begutachten.

*

Und während sie ihre Post durchsah, erhielten auch Stephen und Tom ihre Briefe von Lydia.

Aufmerksam las ihn sich Steve durch. »Sie ist so unglaublich mutig. So alleine, so verlassen und doch scheint sie nicht voller Groll. Wie ist das nur möglich?«, sprach er am Telefon zu seinem Bruder.

»Weil sie eben unsere Lydia ist. Für sie ist Liebe nun mal stärker als alles andere. Aber sei vorsichtig! Sie ist verletzlicher, als sie es sich selbst eingesteht. Sie würde wohl nie ein schlechtes Wort über uns denken, und doch wird sie das Gefühl haben, hintergangen worden zu sein. Wir haben sie in dem Moment im Stich gelassen, als Vater beschloss sie wegzuschicken.«

»Wir hatten keine Wahl.«

»Es gibt immer eine Wahl«, meinte Michael ernst.

*

Mit zittrigen Fingern öffnete Lydia zuerst die Briefe, in denen Karten waren:

»Alles Liebe zum Geburtstag, Schwesterchen! Lass es dir gut gehen. Wir hören voneinander. Alles Gute, Tom.«

Auf der zweiten Karte stand:

»Hallo, Liebes, du hast sicherlich meinen Brief gelesen und bist überrascht. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute für deine Zukunft! Du wirst eines Tages eine tolle Frau werden, da bin ich mir sicher. Pass gut auf dich auf. Happy Birthday, Kleines!

In Liebe, dein Steve.«

Sie runzelte die Stirn und öffnete schließlich das Päckchen, welches von Michael war.

Direkt oben drauf lag ein langer Brief:

*

»Hallo, Lydia!

Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Sicherlich wunderst du dich, weshalb ich dir schreibe. Unser Vater hat dir ja bereits das geschenkt, was in deinem Zimmer - hoffentlich - steht.

Ich schulde dir eine Erklärung und eine Entschuldigung. Ich war immer wortkarg, wie du weißt. Habe nie groß Sprüche geklopft oder meine Meinung offen kundgegeben.

Doch meine liebe Frau hat mich ermutigt. Während ich nicht wusste, ob du meine Sicht über alles erfahren willst, wusste sie scheinbar, dass es das Beste für uns beide wäre.

Ich war dreizehn, als unser Vater dich zu uns holte. Er hat zu Steve und mir gesagt:

›Das ist eure neue Schwester. Wir haben sie zu uns geholt, weil sie sonst ganz alleine wäre.‹

Und damit gehörtest du zu uns. Wir haben dich gleich lieb gewonnen. Du hast uns mit deinen großen, leuchtenden grünen Augen angestrahlt und hast so niedlich gelächelt. Steve hat es nicht direkt verstanden, aber ich wusste, was das bedeutete.

Mir war klar, dass wir auf dich Aufpassen mussten. Als großer Bruder war ich für dich verantwortlich. Leider hab ich das nicht immer so gesehen und war froh, dass Steve so vernarrt in dich war.

Vor einigen Monaten hat unser Vater mit mir geredet. Ich war der einzige, der genau Bescheid über alles wusste, auch über Tom. Stephen und Sam ahnten nichts davon.

Unser Vater hat mich gefragt, was er machen soll. Die Familie von Tom hat ihm geschrieben und gemeint, dass ihr Sohn manchmal merkt, das etwas nicht stimmt. Er sagte mir auch, dass sich seine Familie Sorgen mache. Tom war klug,

irgendwann wäre er sicherlich dahinter gekommen und eventuell weggelaufen - um seine Schwester zu finden. Das wollten wir alle verhindern.

Wir beschlossen, dass ihr ein Recht darauf habt, die Wahrheit zu erfahren. Wollten es euch aber schonend beibringen. Ihr solltet in die gleiche Klasse gehen und euch so nach und nach kennen lernen. Leider haben Toms Eltern erst spät eine Arbeit hier in der Gegend gefunden. Das Schuljahr war fast vorbei und du wolltest nicht weiter dahin gehen. Ihr habt euch dann zufällig getroffen und euch so angefreundet. Leider sorgte sich Franziska, ob ihr euch womöglich zu gut verstehen könntet. Und so war es ja auch. Tom ist ein netter Junge. Seine Mutter merkte, dass du ihm gefallen hast. Ihr seid beide mitten in der Pubertät und wisst vielleicht mit euren Gefühlen nicht recht umzugehen. Dazu kommen noch eure Hormone, die manchmal verrückt spielen.

Wir wollten aber den Teufel nicht an die Wand malen und haben euch erst mal in Ruhe gelassen. Als aber unser Vater sah, wie ihr euch geküsst habt, rief er sofort alle zusammen.

Ich war gerade geschäftlich unterwegs und konnte zuerst nur am Telefon mit ihnen reden. Wir haben überlegt, was nun geschehen soll und in dem Moment fiel Vater wieder der Brief vom Internat ein, den er einige Tage zuvor erhalten hatte und war nun froh, diese Möglichkeit zu haben.

Er rang mit sich selbst.

Diese Ausbildung bedeutete dir sehr viel und das war ihm bewusst.

Wir redeten mit Toms Eltern und auch sie waren der Meinung, dass es besser wäre. Allerdings haben wir abgewogen, wer stärker ist. Der Platz im Internat war dir ja schon sicher.

Franziska und Jochen waren der Überzeugung, dass ihr Sohn es nicht ohne sie schaffen würde. Du, liebe Lydia, bist mit Jungs aufgewachsen und hast so gelernt, dich durchzusetzen und Stärke zu zeigen. Tom wurde von vornherein nur verhätschelt.

Er hat alles bekommen, was er wollte.

Als Steve und ich am Donnerstag bei dir waren, hast du uns bewiesen, dass du einen festen Charakter und Willen hast und du in jedem Fall deinen Weg gehen wirst.

Ich kann nicht ahnen oder nachvollziehen, wie es dir gerade geht, was du durchmachen musst und denkst. Aber ich weiß, dass du uns irgendwann verzeihst. Du bist ein so liebes Mädchen. Ein so herzliches und freundliches Wesen, dass du nie lange jemandem wütend sein kannst. Für mich bist du immer meine kleine Schwester. Das Mädchen, das mich manchmal voll gepinkelt hat, wenn ich es im Arm hielt und auf meinen besten Anzug gebrochen hatte, weil es versehentlich etwas mit Milch gegessen hatte.

Du hast uns Jungs eine neue Welt gezeigt und uns beigebracht, wie man sich einer jungen Frau gegenüber zu benehmen hat.

Hast uns aber nie verurteilt. Auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, so bleibst du immer ein Teil von mir.

Du kannst immer auf mich zählen. Mach dir nicht zu viele

Gedanken und Sorgen! Du warst immer unser Sonnenschein und du wirst uns allen sehr fehlen! Vater war am Samstag am Boden zerstört. Und noch immer kämpft er mit seinen Gefühlen. Du musst wissen, dass er dich gerne in die Familie aufnahm und er sich bereitwillig um dich gekümmert hat.

Selbst als unsere Mutter wegging, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dich wieder wegzugeben. Er hat den Wunsch deiner Eltern sehr ernst genommen. Sie waren so liebe Menschen, sagte er immer wieder.

Warum er nie mit dir darüber sprach, ist eigentlich leicht, zu verstehen: Er wollte deine unbeschwerte Art nicht gefährden. Er wollte nicht, dass du glaubst, eine Last zu sein. Das warst du nicht. Besonders nie für Steve.

Unser Vater gab mir eines Tages eine Kiste. Er befürchtete, dass du sie vielleicht findest. Es ist nicht viel, aber du hast ein Recht zu wissen, wer deine Eltern waren. Ich hab dich sehr gerne, alles Liebe wünschen dir Maria und dein Bruder, Michael. Wenn du mal Geld brauchst, sag Bescheid! Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.«

*

Lydia weinte, während sie den Brief las.

›Ein Foto von Shannon und James, von meinen Eltern. Sie sehen so lieb aus. Was ist hier noch ... Eine Decke‹, dachte sie, während sie die Kiste durchwühlte.

Es war Babydecke, LYDIA war ein gestickt, dazu ein kleiner Zettel, in der Handschrift von Michael:

»Toms Eltern hatten auch so ein Päckchen, aber das schickten sie ebenfalls zu mir, damit er es nicht finden konnte. Sobald ich ihn sehe, werde ich es ihm überreichen.«

Lydia war erleichtert und Michael sehr dankbar.

Ein Kuscheltier, weitere Fotos - von Tom und ihr, als sie gerade wenige Stunden alt waren, und noch andere Bilder.

Dann bemerkte sie ein Schmuckkästchen mit ihrem Namen drauf. Ihre Hände zitterten, als sie das Kästchen öffnete und ein Armband aus Silber darin entdeckte. Der Name ihrer Eltern war eingraviert, ein Ring fand sie ebenfalls vor. »Oh Gott, das muss der Verlobungsring meiner Mutter gewesen sein«, stieß sie laut hervor.

Das war’s, mehr war nicht darin. Sie suchte nach einem weiteren Brief. Sie hoffte, einen Brief ihrer Eltern zu finden, doch da war nichts. Tief in Gedanken versunken, merkte sie wieder nicht, wie ihre Mitbewohnerin sie ansprach. Lydia schüttelte sich.

»Was hast du denn schönes zum Geburtstag erhalten?«

Lydia zeigte ihr alles.

»Nett.« Lydia, noch immer mit ihren Gedanken beschäftigt,

bemerkte nicht den ironischen Ton in der Stimme von Julie und bedankte sich nur.

Kurz darauf war sie wieder alleine im Zimmer und legte die Sachen sorgfältig in ein Fach im Schreibtisch, welches sich abschließen ließ. Dort bewahrte sie auch die Briefe auf. Das

Armband zog sie aber um.

Sie setzte sich, und begann Michael zu antworten.

*

»Hallo, Michael,

danke für deinen Brief.

Es war lieb von dir, mir zu schreiben.

Ich danke dir für das Päckchen. Es bedeutet mir unendlich viel, das alles erhalten zu haben. Vielen

Dank. Du warst immer derjenige, der dafür sorgte, dass Sammy und ich nie alleine waren und das uns nichts fehlte.

Dass wir beide uns dennoch nie richtig unterhalten konnten, lag wohl am Altersunterschied. Wenn ich so darüber nachdenke, hat mich auch selten was mit Sammy verbunden. Er ist zwar nur wenige Jahre älter als ich, aber seit Jahren interessiert er sich nur noch für seine Freunde. Mit Steve konnte ich allerdings immer Pferde stehlen. Woran das liegt, weiß ich nicht. Ich mag dich und deine Frau sehr gerne. Maria ist ein liebevoller Mensch und ihr zwei seid so niedlich zusammen.

Du bist sicherlich ein toller Ehemann.

Dass du die Dinge, in deinem Brief, so deutlich geschrieben hast, wie es sonst niemand täte, finde ich gut. Natürlich bin ich in der Pubertät - auch wenn es peinlich ist, darüber zu reden. Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn jemand eine ›Sportzeitschrift‹ liest und einen dabei aber nicht in die Augen sehen kann. Das hab ich alles von euch gelernt. Ich habe gerade erst meinen ersten Kuss bekommen und da drehte sich alles in mir, also kann ich nachvollziehen, worauf du angesprochen hast. Dann ist auch noch Frühling und da spielt ja eh alles verrückt. Doch eins kann ich dir versichern: Ich würde nie weiter gehen. Ihr habt euch alle Sorgen gemacht, dabei wäre nichts passiert.

Auch wenn mein Herz jetzt gebrochen ist, so werden die Scherben irgendwann wieder an ihren alten Platz zurückkehren und es wird langsam wieder heilen. Vergessen werde ich nie. Es war mein erster Kuss. Die Schmetterlinge in meinem Bauch sind gestorben. Aber keine Sorge, Michael, es ist okay. Alles wird wieder gut.«

Lydia schrieb und schrieb und erzählte nun, was sie sich für die Schule vorgenommen hatte.

»Du bist ein toller Mensch. Lass meinen Brief als solchen im Raum stehen, ohne noch einmal darauf einzugehen. Ich bin dir nicht böse. Ich hab dir doch schon längst verziehen. Dennoch brauche ich Abstand. Ich hoffe, du verstehst das. Sage Sascha vielen Dank für alles.

Ich werde ihn beim Vornamen nennen, wenn er nichts dagegen hat. Ich weiß noch immer nicht, wie ich euch allen gegenüber treten muss/ kann/ darf/ soll. Ich werde mich in der Schule anstrengen und alles geben, was ich kann.

Irgendwann werdet ihr vielleicht stolz auf mich sein.

Deine Lydia!«

*

Mit einem Buch und dem Brief in der Hand ging sie nach unten. Den Umschlag schmiss sie in den Postkasten und mit dem Buch verzog sie sich auf eine Wiese. Sie setzte sich an einen Baum und begann zu lesen.

So verbrachte Lydia von nun an die Nachmittage, wenn die Schule zu Ende war.

Lydia - die komplette Reihe

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