Читать книгу Lydia - die komplette Reihe - Janine Zachariae - Страница 5

2. Seelenverwandtschaft

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Es wurde getuschelt, gekichert und natürlich gelästert - alles hinter Lydias Rücken, aber sie kannte es nicht anders.

»Ignoriere sie. Die denken immer, sie seien was Besseres«, murmelte Lydia.

»So kam es mir auch vor. Wenn jemand mit einer solchen Stimme fragt, wer das ist und daraufhin sagt, dass derjenige gut aussieht, muss man sich nichts einbilden.«

Lydia lachte dabei, fand es aber schon peinlich, dass er das mit angehört hatte.

»Du warst in der Zwischenzeit noch mal zu Hause?«

»Jupp. Woher weißt du das?« Er schmunzelte und nahm sie auch ein wenig auf den Arm, aber sie antwortete ganz ernst:

»Du hast keine Jacke mehr dabei.« Demonstrativ hielt sie dabei ihre eigene Jacke in der Hand und grinste.

»Ja, ich hab meiner Mutter noch beim Einräumen geholfen. Vater war im Museum, um alles zu regeln, und fängt dann am Montag an.«

»Hast du noch Geschwister?«, erkundigte sich das dunkelblonde Mädchen.

»Ach, die Fragestunde war noch nicht vorüber?«

»Nein, und mir fallen immer wieder Neue ein, keine Sorge«, antwortete sie lächelnd, während sie die Stufen der Schule hinab gingen.

»Ja, ich hab noch eine Schwester, 22. Sie ist aber schon ausgezogen und wohnt in Heidelberg.«

»Was macht sie da?«

»Sie studiert Grafik-Design. Wie sieht es mit dir aus?«

»Drei Brüder!«, sagte sie und rollte theatralisch mit den Augen.

Er staunte. »Drei? Oje.«

Obwohl sie ihn nicht kannte, hatte sie das Gefühl mit ihm reden zu können und erzählte, wie es damals für sie alle war. Sie war als Kind kein typisches Mädchen, sondern verbrachte ihre Zeit mit ihren Brüdern auf dem Fußballplatz, somit hatte sie genauso dreckige Sachen, wie die Jungs und ihr Vater brauchte sie, bis zu einem gewissen Zeitpunkt, auch nicht anders behandeln. Doch eines Tages wollte Steve nicht mehr, dass sie mit Fußball spielte.

Tom zog bei ihrer Erzählung eine Augenbraue hoch. Sie liefen nebeneinander, sahen sich aber selten an und so bemerkte sie auch nicht, wie seine Mundwinkel sich leicht zu einem Lächeln zogen.

»Damals wusste ich ja noch nicht, was er meinte.«

»Alles klar. Du bist halt ein Mädchen«, meinte er und schaute ihr in die Augen. Grün waren seine, wie sie feststellte. Das war ihr vorher gar nicht so bewusst gewesen.

Sie wollten beide ernst bleiben, doch dann lachten sie gleichzeitig.

»Dann hat Steve es mir erklärt und ich fing an, mich für andere Sachen zu interessieren. Wenn ich allerdings nicht gerade lernen muss oder nichts andres im Fernsehen läuft, sehe ich trotzdem Fußball«, erklärte die 15-Jährige.

»Nicht schlecht.« Tom fand sie sehr erfrischend. Sie war nicht auf den Mund gefallen und sprudelte nur so voller Energie. »Wofür interessierst du dich denn jetzt?«

»Bücher, Musik und Kunst, denke ich, aber das mag ich schon seit der zweiten Klasse. Und du?«

»Ich lese auch viel, Musik mag ich auch, Kunst - na ja, kommt drauf an, was. Ansonsten Sport«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durch seine mittel-blonden Haare, die sehr kurz waren.

»Was für Musik hörst du?«

»Hauptsächlich Rock«, antwortete Tom. Lydia strahlte und nickte. »Was arbeiten denn deine Eltern?«

»Mein Vater ist Softwareingenieur und meine Mutter kenne ich nicht.« Er wartete und Lydia fügte hinzu: »Sie ging kurz nach meiner Geburt weg.«

»Und du hast keinen Kontakt?«, erkundigte er sich neugierig.

»Nein. Ich weiß weder, wie sie heißt noch wo sie ist«, erwiderte sie kopfschüttelnd.

»Und deine Brüder?«

»Ich glaube, für sie ist es zu schmerzlich, darüber zu reden.

Ach, ich weiß auch nicht. Als ich noch ein Kind war, hab ich meinen Vater oft gefragt. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Fragen wären unpassend und es käme so rüber, als sei ich undankbar. Seitdem lasse ich das Thema.«

Sie gingen um den Teich im Park und Tom meinte, dieser Platz gefiele ihm besonders.

»Hier, in dem Bücherladen«, sagte sie etwas später, »arbeite ich morgen einen Tag auf Probe!«

Ihr Weg führte sie quer durchs Dorf und sie erzählte ihm alle möglichen Anekdoten und Begebenheiten.

»Echt? Cool.«

»Ja, ich kenne die Ladenbesitzerin schon ewig. Als ich mich entschied, nicht das Abitur zu machen, hab ich angefangen, Bewerbungen zu schreiben.

Und Madlen meinte gestern zu mir, dass ich gute Chancen hätte.«

»Glückwunsch.«

»Danke«, sagte sie freudestrahlend.

»Gut, wenn du weißt, was du machen willst. Ich hab mich auch schon beworben. Aber noch steht es offen, ob ich nicht vielleicht doch mein Abi mache«, sagte er nachdenklich.

»Willst du auch studieren?«

»Das weiß ich ja noch weniger! Wenn es nach meinen Eltern ginge, schon. Aber ich weiß es noch nicht.

Wenn ich keine Ausbildung finde, mache ich das Abitur oder ich geh auf eine Fachoberschule - je nach dem, wo ich einen Platz bekomme -, danach kann ich immer noch sehen. Es war gar nicht so einfach, alles noch zu schaffen, zwischen Prüfungen und Umzug. Ursprünglich hätte ich bei uns gerne was gemacht, aber hier kenne ich mich ja nicht aus und das ist echt blöd.«

»Ich verstehe. Es ist ja alles im zeitlichen Rahmen. Noch ist nichts entschieden«, versuchte sie, ihn zu trösten. »Meine Familie ist nicht so begeistert von der Idee. Im Gegenteil«, seufzte sie und erzählte ihm davon. »Ich hatte trotzdem einen schönen Nachmittag mit Steve, den du gesehen hast.«

»Wie viel älter ist er?«

»Fünf Jahre und zwei Wochen, er hatte erst Geburtstag!

Michael ist allerdings schon 28, Sam ist 18«, erklärte Lydia.

»Ich finde es nicht schlimm, wenn jemand nicht studieren will. Was ist denn schon dabei? Gerade in dieser Zeit sollte man eher vorsorgen und so planen, dass es wirklich passt. Mal angenommen, wir würden noch bis zur zwölften zur Schule gehen, danach noch jahrelang studieren.

Die Möglichkeit, dass diese Arbeit dann nicht mehr so gebraucht wird, ist durchaus da. Dann hat man einen super Abschluss, der nicht billig war, steht am Ende aber mit nichts da, außer eventuellen Schulden.«

»Genau das denke ich auch«, bestätigte Lydia erleichtert und lächelte ihn an.

Sie bogen in ihre Straße und standen auch schon vor ihren Häusern.

Das Wetter war sehr schön und beide genossen diesen kleinen Spaziergang.

»Magst du noch mit rein kommen?«

»Das wollte ich dich auch gerade fragen, Lydia. Du könntest mir beim Einräumen helfen!«

»Klar. Ich sag nur mal eben meinem Vater Bescheid.« Tom stellte sich direkt vor und dann gingen beide zu ihm.

Als sie weg waren, betätigte Sascha einige Telefonate ...

»Meine Mutter scheint schon wieder weg zu sein«, bemerkte Tom.

»Schönes Haus. Zwei Jahre stand es leer, das war schade. Die Leute, die davor hier gewohnt haben, mussten umziehen. Der Mann hat woanders eine Arbeit gefunden. Sie waren ganz nett.«

»Warst du im Haus?«

»Einmal, aber nur in der Küche.«

»Dann will ich dich mal herum führen.« Direkt links neben der Eingangstür befand sich die Küche.

»Ihr habt ja einen Kamin! Das ist sicherlich gemütlich, wenn es draußen kalt ist«, stieß Lydia überrascht aus, als sie sich das Wohnzimmer ansah.

»Meine Mutter wollte unbedingt einen. In unserem alten Haus hatten wir auch keinen.«

Dann deutete er auf eine Tür, auf der ›Gäste WC‹ stand und erklärte: »Das Renovieren hat eine Firma übernommen. Wir haben denen gesagt, wie wir es haben wollen.«

»Ich glaub, ich hab doch zu viel gelernt in letzter Zeit. Ich hab absolut nichts mitbekommen!«, grübelte sie. Sie gingen die Treppe hoch und er erzählte ihr alles Mögliche.

Die Arbeiten am und im Haus haben über einen Monat gedauert, da aber Lydia meist über Kopfhörer Musik hörte - beim Lernen half es ihr, die äußeren Störfaktoren abzuwehren - bekam sie vom Lärm nichts mit.

»Okay, schnell raus hier, sonst werde ich noch neidisch«,

sagte sie mit einem Grinsen, als sie das große luxuriöse Badezimmer ansah.

»Wieso neidisch?«

»Der Spiegel ist ja gigantisch«, gab sie nur als Antwort. Sie schlenderten einen Flur entlang und er zeigte ihr, in welcher Richtung das Schlafzimmer der Eltern lag, gingen aber nicht hinein.

»Wir haben noch ein Gästezimmer und das hier ist das von meiner Schwester. Aber es ist noch nicht wirklich eingerichtet, und dient eher als Abstellraum, für die leeren Kartons, bis sie abgeholt werden. Ich schlag mal vor, wir beenden die Führung und gehen in mein Zimmer.«

»Blau-gelbe Wände!«, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, als er seine Tür öffnete.

»Ja, ich fand es ganz passend.«

»Sieht gut aus, meins ist in denselben Farben.« Sie sah sich weiter um, traute sich aber irgendwie nicht, ins Zimmer direkt einzutreten.

»Was ist?«, fragte Tom nach.

Ja, was war? Sie wusste es nicht. Sie dachte an die Romane von Jane Austen, was ihr aber doch unpassend erschien.

»Traust du dich nicht?« Schulterzuckend und lächelnd betrat sie den Raum und sah sich weiter um. Das Fenster war direkt über dem Bett. In einer Ecke standen eine Couch und zwei Sessel, dazu ein Tisch und ein großer Flachbildfernseher. Auf der anderen Seite war der Computer. Das Bett stand in der Mitte davon. Er hatte einen großen, hellen Kleiderschrank, drei Regale, ebenfalls in derselben Farbe - beige. Die Regale waren voll mit Büchern, CDs und DVDs. Er mochte wirklich Rockmusik, aber wie es aussah auch Brit Pop und Pop allgemein. Seine Bücher hatten aber keine bestimmte Richtung, alles war dabei: von Austen bis Shakespeare, über Sparks und King, bis hin zu Grisham und Patterson.

»Eine interessante Sammlung hast du«, bemerkte Lydia staunend.

»Danke, ich hab alles erst einmal nur so eingeräumt. Meine Mutter wollte unbedingt, dass die Kartons aus den Zimmern verschwinden. Zum Sortieren bin ich noch nicht gekommen.«

»Ach so. Hatte mich schon gewundert, da kein roter Faden zu erkennen war. Also, entweder alphabetisch oder nach Genre oder beides gemischt.«

»Du kennst dich wohl damit aus?«

»Klar!«, sagte sie und schaute sich die Regale genauer an.

»Magst mir helfen?«, fragte Tom sie.

»Erkläre mir, wie du sie sortieren willst.«

Sie setzten sich im Schneidersitz auf den Boden, der durch einen flauschigen Teppich sehr weich und warm war, und begannen die CDs, alphabetisch nach Genre und Erscheinungsdatum, einzuräumen.

Dasselbe machten sie bei den anderen zwei Regalen.

»Liest du denn viel?«, erkundigte sich Lydia anschließend.

»Sieht man das nicht?«

»Bücher zu haben, bedeutet nicht gleich, dass man sie alle selbst gelesen hat«, konterte Lydia.

»Touché.« Sie setzten sich nun einander gegenüber hin.

»Ich lese relativ viel, aber ich hab nicht alles gelesen, was hier steht. Manche fing ich an, legte sie aber recht schnell wieder weg, andere hab ich verschlungen und mehrmals gelesen und zwei oder drei muss ich noch lesen.«

»Wie fandest du ›Das Kloster Northanger Abby‹?«

Thomas nahm das Buch und sah es sich an, bevor er auf die Frage antwortete. Eigentlich war es eher eine Fangfrage, nie hätte sie geglaubt, dass er es wirklich gelesen hat. »Anders«, sprach er bedächtig.

Natürlich war es anders.

Aber das reichte ihr als Antwort nicht, also hob sie nur eine Augenbraue und wartete, ob er vielleicht doch noch was ergänzen würde. »Man merkt ziemlich schnell, dass es im Grunde ihr erstes Werk war. Auch wenn ›Verstand und Gefühl‹ als erstes fertig wurde, so fing sie ja das Kloster, in der Rohfassung sozusagen, noch vorher an.«

Er kannte sich aus. Lydia war begeistert und fügte zudem, was Tom sagte, hinzu: »Was ich allerdings klasse finde. Austen war dabei so voller Zweifel. Lohnen sich Romane? Lesen die Leute vielleicht doch lieber Schauerromane oder kann man es sich als Frau überhaupt leisten zu schreiben? Ich liebe ihre Bücher! Heute heiraten die Leute eher mit Ende zwanzig. Jeder wundert sich und beschreibt eine Ehe als gescheitert, wenn man bereits mit 20 den Partner fürs Leben gefunden hat. Doch damals war es eher so, dass man mit 28 Jahren schon fast zu alt war, jedenfalls als Frau. Ein Mann sollte erst einmal seinen eigenen Hausstand gründen und gut verdienen, dann galt er meist auch als gute Partie.«

Tom nickte. Lydia zuckte mit den Schultern, als sie merkte, dass sie zu schnell geredet hatte, und fühlte, wie ihr Rücken langsam durch das lange Sitzen im Unterricht und auch hier, schmerzte.

»Wer ist denn deine Lieblingsfigur?«, wollte er nun wissen.

»Schwer zu sagen.« Lydia zuckte mit den Schultern und stütze sich mit ihren Händen nach hinten auf.

Sie hatte ein lilafarbenes T-Shirt mit V-Ausschnitt an und eine kurze Jeans. In dieser Position streckte sie versehentlich ihre Brust nach vorn. Sie hatte eine gute Figur, ohne viel dafür getan zu haben. Tom beobachtete sie. Als sie es merkte, setzte sie sich wieder aufrecht hin.

»Ich tippe auf ›Elizabeth Bennet‹«, mutmaßte er, als er sich wieder konzentrieren konnte.

»Gut möglich«, nachdenklich überlegte sie weiter. Sie könnte stundenlang über die Romane dieser Autorin sprechen, aber sie wollte einfach noch nicht alles ›raushauen. »Zudem denke ich, dass ›Mister Darcy‹ ein gutaussehender Mann war. Und du?«

»Von den Frauen mag ich Elizabeth sehr gerne und von den Männern wäre ich wohl eher wie ›Mister Knightley‹ oder ›Bingley‹« Er blickte ihr dabei direkt in ihre grünen Augen und sie bekam eine leichte Gänsehaut.

»Die zwei sind doch total unterschiedlich!«, stieß sie hervor.

»Beide sind verliebt, trauen sich aber nicht, es zu sagen«, begann er und sprach leidenschaftlich, wie er es meinte. Das Mädchen saß da und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Als sie merkte, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, biss sie sich auf ihre Lippen, hörte aber weiterhin aufmerksam zu. Sie spürte ein ziehen in ihrem Bauch und wunderte sich darüber. Wollte er sie beeindrucken oder meinte er es wirklich so? Es schien beinahe so, als hätte er die Bücher nicht nur einmal gelesen.

»‹Fanny‹ ist aber auch eine tolle Heldin, finde ich!«, bemerkte sie, um von dieser Rede abzulenken.

»Ja, das ist sie. Lieb und chaotisch. Aber ich weiß nicht, ob sie eine Heldin in dem Sinne darstellt. Sie ist zurückhaltend und liebt seit etlichen Jahren ihren Cousin.«

»Ja, aber das war früher durchaus legitim. Nichts Verwerfliches.«, meinte sie, verstummte dann aber. Sie wollte nicht zu viel erzählen. ›Mansfield Park‹ war das Buch, was sie lange beschäftigt hatte.

»Das mag sein. Aber ich fände es trotzdem seltsam!«, meinte er.

Schulterzuckend gab sie zu: »Eigentlich ist es auch romantisch. ›Edmund‹ ist ihr bester Freund.

Es gibt schlimmeres als in seinen besten Freund verliebt zu sein.«

Oh, arme Lydia.

Wenn die Gefühle nicht erwidert werden, gibt es nichts Schlimmeres.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über die Bücher von Jane Austen, die von 1775 bis 1818 lebte.

»Sie hat im Grunde bis zu ihrem Tode geschrieben«, meinte Lydia nachdenklich und wusste, dass das Thema vorerst beendet war, aber sie würde gerne irgendwann wieder darauf zurückkommen. Sie hätte nie geahnt, dass ein Junge so etwas lesen und auch zugeben würde.

Diese Jugendlichen kannten sich wirklich gut aus, auch wenn sie manches etwas durcheinanderbrachten.

»Könnte man so sagen, ja.«

Lange sahen sie einander in die Augen und erkannten darin, eine Veränderung. Diese Gemeinsamkeit, das Wissen darum, war einzigartig.

Sie löste sich aus dem Schneidersitz, weil sie Schritte hörte.

»Ah, meine Mutter ist wieder zu Hause. Ich sehe mal nach.«

Kaum hatte er es gesagt, öffnete sich seine Tür.

»Hier bist du Tom. Oh, entschuldige, du hast ja Besuch. Wer ist deine Freundin?«, erkundigte sie sich, aber wirkte keines Wegs überrascht. Es schien, als wüsste sie bereits wer das Mädchen war.

»Sie wohnt im Haus nebenan, Lydia Schaf.«

»Guten Tag, Frau Hafe!«

»Hallo, Lydia. Ich habe Kuchen mitgebracht, wollt ihr runter kommen?« Tom war immer für ein Stückchen Kuchen zu begeistern und so gingen sie mit in die Küche.

Lydia war es etwas peinlich, aber sie musste ablehnen.

»Tut mir leid, ich bin laktoseintolerant.«

»Das macht nichts«, sagte Toms Mutter lächelnd. »Der Kuchen ist gänzlich ohne Milchzucker. Tom leidet auch darunter.« Sie sah ihren neuen Freund an und war erstaunt.

»Ja, wir haben es vor einigen Monaten erfahren und seitdem geht es mir besser. Meine Mutter hat sich umgeschaut, gestern schon, und in der Stadt einen Konditor gefunden, der in seinem Sortiment solche Leckereien besitzt. Das macht vieles leichter, da ich ungern auf Kuchen oder Torte verzichten will«, erklärte der junge Mann fröhlich.

Lydia war überrascht und gab zu: »Als ich herausfand, dass im Puddingpulver nichts ist, was ich nicht vertrage, war ich total begeistert. Denn so kann ich mir schnell einen mit Soja- oder mit laktosefreier Milch machen.«

»Ja, da muss man auch erst hinter kommen. In einigen Sachen vermutet man so was und in anderen gar nicht und dann ist es manchmal genau umgekehrt«, erwiderte Tom.

»Darf ich dir denn ein Stück anbieten?«, fragte Frau Hafe.

»Aber nur, wenn wirklich genug da ist!« Lydia wusste ja nicht, wie viel so was kostet, und wollte niemandem etwas wegessen.

»Du musst doch aber Hunger haben! Als ich meine Matheprüfung hatte, war ich hinterher so ausgelaugt, dass ich den Kühlschrank plünderte.«

»Ach, du hattest heute Prüfung?«

»Ja. Ich hab zwischendurch eine Banane gegessen und heute gut gefrühstückt.« Sie errötete vor lauter Fürsorge.

»Mmh, also wir haben wirklich genug davon. Toms Vater isst keinen Kuchen und ich hab zufällig zu viel geholt, so dass auf jeden Fall mehr als reichlich übrig bleibt.«

Lydia lächelte und freute sich über den glücklichen Zufall. Seit Monaten hatte sie schon keine Zeit mehr gehabt, selbst zu backen.

»Gut, wenn das so ist, kann ich wohl nicht nein sagen.

Dankeschön, Frau Hafe.«

Natürlich war Lydia hungrig. Sie wollte es nur nicht zugeben.

Franziska Hafe fragte Lydia alles, was auch schon Tom wissen wollte.

»Du Ärmste! Es muss schlimm sein, seine Mutter nicht zu kennen.«

»Manchmal fehlt sie mir, denke ich. Wenn ich Fragen habe, zum Beispiel, die mir meine Brüder unmöglich beantworten können. Aber ansonsten geht es.«

»Hast du dann jemand anderen, den du fragen kannst?«

Sie schüttelte verlegen den Kopf.

»Nein, eigentlich nicht. Stephen, der Zweitälteste, hat mir die ›Bravo‹ hingelegt, als ich noch sehr jung war und gemeint, ich solle sie lesen.«

Alle lachten. »Meine Klassenkameradinnen konnte ich ja auch nicht fragen, da sie mich dann ausgelacht hätten. Also nahm ich den Rat meines Bruders zu Herzen und las eben diese Zeitschrift, wobei mich eher die Stars interessierten«, gab sie lachend zu.

»Möchtest du denn etwas Besonderes wissen?«, wollte Toms Mutter wissen.

»Oh, äh, nein, danke.«

»Wie war es denn für deinen Vater?«, erkundigte sich Franziska weiter.

»Drei Jungs und ein Mädchen zu haben?« Lydia dachte darüber nach und inspizierte in der Zwischenzeit die Küche, die wirklich wundervoll aussah, marmorierte Arbeitsflächen, ein gigantischer Kühlschrank, wie man ihn eigentlich nur aus Amerika her kennt, und allgemein bot dieser Raum viel Platz, um mit der gesamten Familie an Weihnachten Plätzchen backen zu können. Warum sie plötzlich an Weihnachten denken musste, wusste sie nicht. Sie lächelte Frau Hafe an und beantwortete die Frage von Frau Hafe.

»Und wie alt ist der Älteste?«

Lydia erzählte freudestrahlend und wild gestikulierend über ihre Familie. Sie war stolz auf ihre Brüder.

»Der Altersunterschied ist ziemlich groß«, sagte Frau Hafe nachdenklich und betrachtete Lydia dabei sehr mitfühlend.

»Das stimmt! Mein Vater war erst 20 und nach einer Pause hat er sich weiter seinem Studium gewidmet«, erklärte Lydia. Frau Hafe hörte ihr aufmerksam zu.

»Ich glaube, als meine Mutter fortging, hat es meinen Vater sehr zurückgeworfen. Er nahm erst einmal Vaterschaftsurlaub, danach hat er seine Arbeit oft von zu Hause aus erledigt, oder mich mit ins Büro genommen, dort gab es eine Krabbelgruppe. Jedenfalls hat er es mir mal erklärt, wie er das alles angestellt hat, als ich ihn fragte«, meinte sie nachdenklich und bemerkte, wie sich etwas im Blick von Frau Hafe veränderte. Doch erzählte sie weiter und versuchte zu erklären, wie ihr Vater sich um alles kümmerte und was ihre Brüder für sie machten, als diese alt genug waren. Kindergarten, Schule. Irgendwie haben sie es auch ohne Mutter geschafft. Es konnte nur klappen, weil sie zusammenhielten. Ihre Brüder ließen sie nicht im Stich, sondern kümmerten sich um sie.

Sie trank etwas Kaffee und nahm eine Gabel voll Kuchen, er war sehr lecker und sie fand es lustig, dass Tom dasselbe durchmachte. Dann fügte sie hinzu: »Es kommt bestimmt so rüber, als sei meine Mutter herzlos.

Aber ich denke mal, sie war nur überfordert. Drei Jungs sind sicherlich stressig. Und als der jüngste dann schon soweit war, um in die Kindergrippe zu gehen, war ich plötzlich unterwegs. Und alles fing von vorne an.

Meine Mutter hatte keine Zeit für sich, sie war immer nur für die Kinder da und hat ihr Leben hinten angestellt«, versuchte sie zu erklären. Manchmal konnte Lydia nicht anders, sie verteidigte jene, die ihr Schmerzen zufügten, auch wenn es unbewusst war.

»Wie kommst du darauf?«, wollte Tom wissen.

»Nun, ich habe nie ein schlechtes Wort über sie gehört. Nie hat sich jemand in meiner Familie beklagt und wenn, dann nicht in meiner Gegenwart. Ich glaube oder hoffe, dass sie mich vermisst, aber nicht zurückkommen kann. Vielleicht hat mein Vater sogar noch Kontakt zu ihr, wer weiß«, plapperte sie und schaute Tom mit ihren großen Augen an, als wollte sie sagen: ›Ich hoffe, dass es einfach so ist, wie ich es mir denke.‹

»Sicherlich. Keine Mutter kann ihr Kind vergessen. Sie wird bestimmt ihre Gründe gehabt haben«, sagte Franziska in einem Ton, der mütterlich klang. Lydia zuckte mit den Schultern.

Sie dachte oft darüber nach, hatte aber noch nie so ausführlich davon geredet. Zu Hause vermied sie das Thema. Sie sah zur Uhr an der Wand, es war fast vier.

»Musst du los?«, hakte Frau Hafe nach.

»Nein, Entschuldigung. Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, ständig auf die Uhr blicken zu müssen. Ich muss erst zum Abendbrot zu Hause sein.«

»Dann ist es ja gut.«

Sie nickte.

»Wollen wir wieder hoch?«, fragte Tom.

»Okay. Danke für Kaffee und Kuchen!« Toms Mutter lächelte und beobachtete sie so lange, bis sie die Tür von Toms Zimmer hörte.

Sie atmete tief durch, nahm das Telefon in die Hand und telefonierte so lange, bis sie erneut die Tür hörte.

»Deine Geschichte ist irgendwie traurig!«, bemerkte er, als sie die Stufen hoch gingen.

»Warum traurig?«

»Ich weiß auch nicht«, meinte er und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, »du wächst ohne Mutter auf, dein Vater arrangiert sein Leben um dich herum und deine Brüder müssen, obwohl sie selbst noch jung sind, auf dich aufpassen.«

»Ja, aber ich glaube, sie haben es gerne gemacht.

Ich hab nie angenommen eine Last für sie zu sein. Zumindest hab ich nie etwas gemerkt!«

»So meinte ich das nicht!« Er setzte sich auf die Couch in seinem Zimmer, sie sich in einen Sessel.

»Wie dann?«, wollte sie wissen und war gespannt, was er zu sagen hatte. Tom musste erst einmal nach den richtigen Worten suchen und runzelte dabei die Stirn, zuckte mit den Schultern und meinte, er wäre selbst überfordert, wenn er in einer ähnlichen Situation wäre. Natürlich stimmte das auch, wie Lydia wusste. Die Jungs brauchten damals auch ihre Freiräume. Sie wusste aber auch, dass sie pflegeleicht war und nie viel verlangt hatte. Sie war selig, wenn sie einfach im Gras saß und ihren Brüdern zu sehen konnte. Sie malte, las oder schlief.

Ihre Stimme zitterte etwas, während sie dies alles erzählte.

Sie war sich sicher, dass es niemand bereuen würde.

Manchmal überkam sie aber eine Welle der Unsicherheit. Ihre Träume signalisierten ihr dann, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich deplatziert.

»Steve bedeutet dir sehr viel, oder?«

»Er ist für mich da. Die andren sind ihre eigenen Wege gegangen, aber Steve besucht mich immer noch, sooft es geht und wir telefonieren jeden Tag.«

»Das ist schön. Ich rede wenig mit meiner Schwester. Jenny geht lieber auf Partys. Sie ist eben eine richtige Studentin.«

»Sag mal«, meinte Lydia nach einer kurzen Pause, »ist es nicht eigenartig, dass wir uns so gut unterhalten können und scheinbar auch verstehen?«

»Du meinst, weil wir uns erst seit heute Morgen kennen?«

»Jupp!«, bestätigte Lydia.

»‹Eigenartig‹ würde ich es nicht nennen, aber ja, schon seltsam«, sagte Tom.

»‹Seltsam‹ ist nichts anderes wie ›eigenartig‹!«, lachte sie.

»Gut, ja. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide Jane Austen Romane lesen und eine Laktoseintoleranz haben!«

»Das wussten wir aber heute Morgen noch nicht, Tom, und da haben wir uns auch schon unterhalten!«

»Vielleicht liegt es ja trotzdem an der Denkweise. Wenn man Austen liebt und viel gelesen hat, dann denkt oder redet man auch fast in dieser Sprache. Automatisch schwimmt man auf einer Wellenlänge.«

Sie machte große Augen. Flirtete er mit ihr?

»Wir schwimmen also auf einer Wellenlänge?«

Beide erröteten.

»Ich denke schon.« Er lächelte sie schüchtern an.

»Ich sag ja, es ist eigenartig«, meinte sie nachdenklich.

»Wäre es aber nicht, wenn es in einem Roman stünde!«, bemerkte der dunkelblonde Junge.

»Nein, das nicht«, sagte sie seufzend und ignorierte den Wunsch, ihre Hand durch seine kurzen vollen Haare gleiten zu lassen. Sie glänzten und würden sicherlich herrlich duften. Sie errötete bei dem Gedanken, was Tom lächeln ließ.

»Was ist denn schon dabei? Ich bin jedenfalls froh, gleich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich gut verstehe. Hätte ich nicht geglaubt. Grad hergezogen, meine Freunde in Köln gelassen, und schon lerne ich jemanden kennen, mit dem ich mich unterhalten kann.«

»Das stimmt. Und wenn du magst«, sie sah auf die Uhr, »kannst du mit zum Abendbrot zu uns kommen und dann lernst du noch Sam kennen.«

»Das ist nett, aber ich denke mal, du hast genug zu tun mit der Vorbereitung für morgen.«

Stimmt!

Lydia musste ja Probearbeiten. Sie freute sich total darauf.

»Da hast du recht. Ich will im Internet lesen, was es so alles für Bücher gibt. Damit ich schon mal auf Kundenfragen oder auf Fragen von Madlen vorbereitet bin.

Ich kenne zwar einige Autoren und Verlage, aber nicht die komplette Bestsellerliste. Das will ich noch ändern. Ich bin immer gerne vorbereitet. Schön, dass du das erwähnt hast. Dir geht es wohl auch so?«

»Ja! Vorbereitung ist immer alles. Ich mache es nicht anders. Ich werde heute auch Bewerbungen schreiben. Noch ist Zeit, haben ja erst April.«

»Weißt du schon als was beziehungsweise wo? Ich kann mir gut vorstellen, dich in einem Buchladen zu sehen oder in einem Musikladen, oder das du auf eine Fachoberschule gehst, Tom.«

»Fachoberschule? Welche Richtung?«

»Ich hab gelesen, nicht weit von hier, gibt es eine Schule, bei der man mit Sprachen zu tun hat: Deutsch, Englisch,

Französisch und natürlich auch mit Literatur. Wenn ich keine Lehrstelle finde, würde ich mich da bewerben.«

»Dann werde ich mir das Mal ansehen.«

»Tue das und ich mach mich los.«

»Es ist doch noch nicht sechs«, bemerkte Tom.

»Ja, aber Sam hasst es, den Tisch zu decken«, erwiderte sie lachend.

Tom brachte sie zur Tür. Lydia verabschiedete sich auch von der Mutter, die das Telefon hinter ihrem Rücken versteckte.

Sie brauchte nur wenige Sekunden, dann war sie schon zu Hause.

»Na, Schwesterchen, wie war die Prüfung?«, erkundigte sich Sam.

Sie verzog ihr Gesicht. »Doof. Ich glaube, ich hab es verhauen«, sagte sie geknickt und erinnerte sich an die ein oder andere Aufgabe, die ihr irgendwie total merkwürdig und vollkommen unlogisch erschienen.

»Ja, es kann halt nicht jeder ein Genie in Mathe sein.«

»Ha ha! Sehr witzig, Sam.« Sie lachten beide. »Ist Papa noch nicht da?«, fragte sie dann.

»Mmh? Nein, er kommt aber sicher gleich. Du kannst ja schon mal das Abendessen kochen.«

»Hast du noch nicht?«

»Nein. Ich weiß, ich weiß«, er hob seine Hände, als er ihren Blick entdeckte, »ich bin eigentlich die Woche an der Reihe, aber sorry, ich hatte so viel zu tun gehabt.« Lydia blähte ihre Nasenflügel auf, doch dann schüttelte sie nur den Kopf. »Ich übernehme nächste Woche für dich, versprochen. Steve kommt übrigens morgen vorbei. Er will übers Wochenende bleiben.«

»Super! Dann lernt er ja Tom kennen!«, sagte sie freudestrahlend.

»Ach, unseren Nachbarn. Stimmt ja, Vater meinte, bevor er ging, dass du drüben wärst. Wie ist er so?«

»Ich sage es dir, wenn du mir beim Kochen hilfst!«

»Na gut, Schwesterchen«, seufzte er.

Es sprudelte schließlich einfach aus ihr heraus und sie berichtete ihm, was alles Geschehen war - auch wie das Haus ausgesehen hat und wie cool Toms Zimmer war.

»Ach herrje, du bist ja verknallt.« Sammy betrachtete seine kleine Schwester und musste schmunzeln. Sie wirkte niedlich, wenn sie sich so verhielt.

»Was? Nein!«, wehrte sie ab und wurde rot dabei.

»Warum hast du ihn nicht zum Abendessen eingeladen?«

»Hab ich. Er erinnerte mich, dass ich morgen im Buchladen arbeiten werde und dass ich mich sicherlich vorbereiten will. Und da hatte er Recht. Aber er kommt morgen zu uns und will dich auch unbedingt kennen lernen«, sagte sie sehr schnell.

»Schön. Mal sehen, ob er wirklich ein solcher Traumprinz ist.«

»Was, wie? Traumprinz? Das hab ich nicht behauptet!«, stammelte Lydia.

»Musstest du nicht. Es ist schön, wenn du dich verliebt hast.«

Er ärgerte sie immer weiter und dabei vergaß er ihr beim

Kochen zu helfen, doch freute er sich wirklich für sie. Manchmal fragte er sich, wann sie überhaupt so alt geworden war, dass sie sich für Jungs interessierte, aber er würde es sich für sie wünschen.

Sie brutzelte einige Schnitzel in der Pfanne, Pommes hatte sie zuvor in den Ofen gemacht, und bereitete einen Salat vor.

Nachdem sie auch ihrem Vater beim Abendessen von der Familie Hafe erzählt hatte, ging sie in ihr Zimmer.

Doch während sie berichtete, entging ihr der Gesichtsausdruck ihres Vaters und dieser wirkte nicht gerade glücklich ...

Sie erkundigte sich im Internet und machte sich Notizen.

Als Lydia die Jalousie in ihrem Zimmer runter machen wollte, sah sie aus dem Fenster und blickte genau in das von Tom. Er war gerade dabei sich umzuziehen, als auch er sie bemerkte. Er öffnete das Fenster und sie tat das gleiche.

»Hey, ich wusste gar nicht, dass unsere Zimmer gegenüber liegen«, staunte er.

»Ich auch nicht und es hätte peinlich werden können, wenn wir beide es nicht gleichzeitig bemerkt hätten.«

Er lachte. »Oh ja. Aber irgendwie ist es cool.«

»Das du spannen kannst, wenn ich unachtsam bin?«, sagte sie sarkastisch.

Er grinste schelmisch. »Nein, dass wir so noch reden können, ohne groß schreien zu müssen.«

Die Häuser standen nicht mal zehn Meter voneinander entfernt.

Trotzdem war es schon unangenehm. Tagsüber zog sie sich ja in ihrem Zimmer auch um und nun musste sie aufpassen.

»Ja, klar. Notiz an mich: Gardinen aufhängen, die blickdicht sind!«, sagte sie laut.

»Ich guck dir schon nichts weg«, grinste er.

»Mmh, Männer sind alle gleich!«, konterte sie.

»Was machst du jetzt, Lydia?« Er beobachtete sie ganz genau und atmete tief durch. Die frische Luft tat ihm gut, denn seine Gedanken wirbelten umher und er konnte sie nicht fangen.

»Ich will gleich duschen gehen und du?«

»Meinen Schlafanzug anziehen und dann noch etwas lesen.

Wie lange duschst du denn?«

»Da mein Bruder bereits weg ist und nicht mehr drängelt, dass ich mich beeilen muss, weil er noch sein Haar stylen will, kann ich mir Zeit lassen.« Eigentlich hatten sie zwei Badezimmer, aber das andere war nur für Sascha.

»Ich lass mein Fenster auf, dann kannst du Bescheid sagen, wenn du wieder da bist.«

»Okidoki!«

Tom schaute noch einige Sekunden in ihr Zimmer. Dann setzte er sich auf sein Bett und las.

Eine Viertelstunde später hörte er Pfiffe.

»Ah, schon fertig?«

Er hatte in der Zwischenzeit einen blauen Schlafanzug angezogen. Lydia trug einen kurzen Pyjama mit einem Aufdruck, zog aber eine Strickjacke darüber, da es schon frisch war.

»Schickes Nachtzeug!«, sagte er und lächelte sie dabei an. Da auch ihr Bett am Fenster stand, konnte sie es sich bequem machen und ihre Arme auf dem Fenstersims verschränken.

»Danke! Was liest du?«

»Ach, nur eine Sportzeitschrift. Und du die ›Bravo‹?«

»Das fandest du bestimmt lustig, als ich davon erzählt habe, oder?«

»Jupp! Aber hey, Aufklärung ist wichtig. Hast du denn alles erfahren, was man wissen muss?«

Sie zuckte mit den Schultern. ›Typisch Mann‹, dachte sie.

»Es ging mir ja nicht darum!«, erwiderte sie und lachte etwas nervös.

Er grinste. »Dachte ich mir. Ich wollte nur einen Witz machen, entschuldige. Ich hab ja auch eine Schwester und diese hat sich oft im Bad eingeschlossen oder lange mit meiner Mutter geredet und mich dabei immer weggeschickt. Besonders schlimm waren ihre Launen.«

»Ich glaube, Steve musste auch schon oft genug eine Attacke von mir ertragen, wenn ich mal zickig war. Tja, so sind wir Frauen halt. Aber wir haben auch unsere guten Seiten!«

»Welche denn?«

Sie schaute ihn mit einem bösen Blick an.

»In einem Haus voller Männer muss man lernen, sich durchzusetzen. So festigt sich auch ein Charakter. Ich glaube, durch meine Brüder versteh ich euch Jungs besser. Was mein Vorteil ist, denn ich durchschaue schnell was.

Ich bin aber auch sehr tolerant und übersehe gerne mal irgendwelche Fehler!«, antworte sie und zwirbelte dabei eine noch feuchte Haarsträhne mit ihren Fingern.

»Das ist sehr gut. Obwohl ich nicht weiß, welche du meinst!«

»Nein, natürlich nicht.«

Er wehrte ab. Beide lachten.

»Was liest du denn zur Zeit?«, wollte Tom nun wissen.

»Ich war gestern mit Steve im Buchladen und er hat mir zwei Bücher geschenkt, die ich aber noch nicht angefangen habe, zu lesen.« Sie nannte die Titel.

»Such dir eins aus und lies es vor. So werden wir beide müde, genießen diese schöne Luft und verbringen noch den Abend zusammen.«

Die Idee gefiel ihr.

»Okay, aber vorher muss ich noch mal ins Bad.«

»Ich auch!«

Wenig später stellte sie eine kleine Lampe so hin, dass sie genug Licht hatte. Obwohl ja die Straßenlaternen hell waren, wollte sie aber ihre Augen nicht unnötig belasten. Dann schlug sie das Buch auf und begann zu lesen. Zum Glück wohnten sie in einer sehr ruhigen Gegend.

So brauchte sie nicht schreien. Das Zimmer ihres Vaters lag eh auf der anderen Seite und Sam war nicht da. Einmal hatte sie ausprobiert, wie laut sie eigentlich das Radio machen konnte, ohne dass ihr Vater sich gestört fühlte. Sie war mehrfach hin- und hergelaufen. Am Ende war sie zufrieden, denn sie konnte es relativ laut drehen. Auch unten, im Wohnzimmer, hörte man es nicht.

»Ach, übrigens, bevor ich es vergesse«, fiel ihr zwischen zwei Kapiteln ein, »Steve kommt morgen zu uns. Er will bis Sonntag bleiben und Sam meinte, ich soll dich auf jeden Fall einladen!«

»Schön, klar, ich komme gerne vorbei. Ich wollte sowieso fragen, ob ich morgen Nachmittag zu dir kommen kann.

Wie lange musst du eigentlich arbeiten?«

»Von neun bis zwei oder so. Wundere dich aber nicht, wenn die Jungs mich aufziehen. Ich denke mal, sie werden mich auch mit oder wegen dir necken«, erklärte sie.

»Alles klar.« Er musste ein Grinsen unterdrücken.

»Ich denke mal, sie werden nicht glaube, dass wir nur Freunde sind.«

»Sind wir?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Glaub schon. Wie du schon bemerkt hast, wir schwimmen auf einer Wellenlänge. Und ich nehme an, wir können uns schon als Freunde betrachten, da wir viel übereinander wissen. Ach ja, und du hast mich schon im Pyjama gesehen!«, lachte sie.

»Dann sind wir auf jeden Fall Freunde«, bestätigte Thomas.

»Meinst du nicht?«

»Doch, klar. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du das auch schon so siehst.«

Sie zuckte mit den Schultern. Sie unterhielten sich über die merkwürdigsten Dinge, aber es passte einfach und sie fühlte sich wahnsinnig wohl in seiner Gegenwart.

»Warum auch nicht.« Lydia musste plötzlich gähnen und Tom sah erschrocken auf seine Wanduhr.

»Oh, schon kurz vor elf. Du musst langsam schlafen.«

»Ja, das denke ich auch. Und du? Liest du noch?«

»Ich werde auch gleich schlafen gehen.«

Sie lächelte.

»Gute Nacht, Tom. Bis morgen!«

»Schlaf schön, Lydia und viel Spaß und Glück morgen.«

»Danke!« Sie schloss das Fenster. Zog ihre Strickjacke aus, ohne ans Licht zu denken, und machte dann die Jalousie runter, aber nicht ganz.

Einen Spalt ließ sie offen. Sie schaltete das Licht aus. Schlafen konnte sie aber noch nicht. Sie schaute durch den kleinen Schlitz zu Tom rüber und sah, dass auch er ab und zu zu ihr spähte. Dabei trafen sich ihre Blicke und sofort verkroch sich Lydia unter ihre Bettdecke.

Lydia - die komplette Reihe

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