Читать книгу Narzisse - Jasmin Cools - Страница 11
Kapitel 8 – Damals – Verrat
ОглавлениеJohnny Kruger war ein eher unscheinbarer Junge. Mit seinen 16 Jahren war er zu klein für sein Alter, zu schmächtig, zu picklig und zu dürr, um einem Mädchen zu gefallen. Dennoch erzählte er seinen Freunden von dieser und jener Frau, die er verführt hatte. Die Geschichten, die er sich ausmalte, waren außergewöhnlich. Fast immer traf er darin eine Unbekannte mit Hotpants und großer Oberweite und vergnügte sich mit ihr im Auto oder auf einer Parkbank.
Mit seiner blühenden Fantasie fiel es Johnny nicht schwer, sich neue Geschichten auszudenken. Er hatte das Lügen perfektioniert und wurde dabei immer mutiger. Der Trick war, stets ein bisschen Wahrheit einfließen zu lassen. So war er bei der Hochzeit seiner Cousine tatsächlich einer vollbusigen Blonden begegnet, die später mit ihm hinter das Gebäude gegangen war – jedoch nicht, um Sex zu haben, sondern weil er Gras bei sich hatte.
Seine Freunde, die den größten Teil ihrer Zeit in der virtuellen Welt von Fantasy-Computerspielen verbrachten, beneideten ihn um seine Erlebnisse. Keiner von ihnen stellte Johnnys Eroberungen in Frage. Und keiner wusste, dass Johnny in Wahrheit noch Jungfrau war.
Eines Tages, als Johnny und seine Freunde über den Schulhof streiften, sahen sie Rose Carter. Wie immer schien sie irgendwie von innen heraus zu leuchten – ein Strahlen, das alle Jungen im Umkreis von 100 Metern dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen.
Rose ging in seine Parallelklasse und war fast einen Kopf größer als Johnny. Trotzdem träumte er seit Jahren fast jede Nacht von ihr. Sie schien so nah zu sein und spielte doch in einer ganz anderen Liga als er. Mit ihr hatte er noch nie vor seinen Freunden geprahlt. Es wäre wohl die erste Geschichte gewesen, die sie ihm nicht geglaubt hätten. An Rose Carter kam niemand heran. Sie schwebte weit über allen.
»Wie wäre es, Johnny? Wenn du es schaffst, Rose ins Bett zu bekommen, bist du wirklich der King«, meinte einer seiner Freunde lachend und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
Johnny grinste ihn an und zuckte mit den Schultern, als müsste er es sich noch einmal überlegen. »Wer weiß. Sie wäre genau meine Kragenweite.«
Just in diesem Moment drehte Rose sich um und sah ihn direkt an. Johnny spürte, wie seine Knie wacklig wurden. Ihr Blick ging ihm durch Mark und Bein. Sie musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß und drehte sich schließlich wieder um.
»Alles klar, Alter?«, fragte sein Kumpel. Johnny tat, als müsste er husten, und wandte sich ab, um sein rotes Gesicht zu verbergen. Rose‘ Blick hatte ihn tief getroffen. Es hatte oft Mädchen gegeben, die er angehimmelt hatte, Mädchen, mit denen er geprahlt hatte, doch dieses war anders. Rose ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht sollte er es diesmal wirklich wagen.
Seit sie ihn angesehen hatte, konnte Johnny nicht mehr klar denken. Zu Hause stocherte er nur lustlos in seinem Essen herum, in der Schule konnte er einfachste Fragen nicht beantworten. Ihm fielen nicht einmal mehr Storys für seine Freunde ein.
Lediglich in der Chemiestunde konnte er sich wieder voll und ganz konzentrieren. Chemie war seine große Stärke. Er mochte es, Flüssigkeiten miteinander zu vermischen, um eine Reaktion hervorzurufen. Im Grunde hing alles von der Dosis und präzisem Vorgehen ab. Alles musste geplant und durchdacht werden – ein Schritt nach dem anderen.
Während Johnny Natriumchlorid in das Reagenzglas füllte, dachte er daran, dass sein ganzes Leben aus Chemie bestand. Die Lügen, die er erzählte, mussten genau richtig dosiert sein, sonst wurde die Geschichte unglaubwürdig. Ein paar Details und die richtige Menge an Macho-Sprüchen – und die Mischung war perfekt. Vorsichtig schüttete er die Flüssigkeit in das Reagenzglas, die Zehn-Milliliter-Linie fest im Blick.
»Du bist Johnny Kruger, richtig?«
Mit einem Ruck fegte Johnny das Reagenzglas vom Tisch, und es zerbrach mit einem lauten Klirren. Die Flüssigkeit spritzte umher, und ein Großteil traf ihn – und Rose Carter.
Er sah, wie ihre Augen sich weiteten: »Was war da drin?«
Johnny wurde rot. Rose‘ T-Shirt war durchweicht und schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Er konnte dessen Rundungen darunter erahnen. »Natriumchlorid. Tut mir wirklich leid«, stammelte er.
Sie schien nervös zu werden: »Verdammt, ich muss das abwaschen.«
»Es ist nur Salzwasser.«
Rose blickte ihn direkt an. »Oh, das bringt mich direkt zum Grund unseres Gesprächs.«
Johnny bemerkte, dass er immer noch seine Schutzbrille trug. Verlegen setzte er sie ab und zog die Handschuhe aus. »Du wolltest mit mir reden?«
»Ja, ich bin Rose Carter. Ich gehe in die Parallelklasse.«
»Ich weiß«, antwortete er – viel zu schnell.
Sie legte den Kopf schief und sah ihn belustigt an. »Ach so.« Sie hatte damit gerechnet. Das sah er ihr an. Er führte sich auf wie ein Zwölfjähriger. Wohin mit seinen Händen? Was tat er sonst mit seinen Händen? »Ich könnte ein wenig Nachhilfe in Chemie gebrauchen. Bei der letzten Klausur habe ich ziemlich versagt. Und ich will meinem Vater keinen Anlass dazu geben, mir eine zu verpassen«, sagte sie zwinkernd.
Nachhilfe? Johnny holte tief Luft. Rose Carter, die schönste Frau der gesamten Stadt, bat ihn um Nachhilfe. Er gab sich nicht einmal Mühe, entspannt zu wirken. »Natürlich helfe ich dir«, brach es aus ihm hervor.
Rose lächelte selbstgefällig, als habe sie bereits mit dieser Reaktion gerechnet. Jemand wie Rose bekam immer, was er wollte. »Ich komme dann Montag vorbei.« Sie nickte ihm kurz zu und ging zurück zu ihrem Platz.
Alle im Klassenzimmer hatten die Szene beobachtet. Die Ersten, die sich zu regen begannen, waren Johnnys Freunde, die ihm anerkennend auf die Schulter klopften und sagten: »Eine Kerbe mehr in deinem Bettpfosten. Und dann auch noch eine wie Carter.«
Johnny setzte sein machomäßiges Grinsen auf und zuckte lässig mit den Schultern, aber er spürte, wie seine Wangen glühten.
Am Montag flogen die Schulstunden nur so an Johnny vorbei. Er konnte den Nachmittag kaum erwarten. Als die Glocke ertönte, sprang er augenblicklich auf und stürmte zum Bus.
Daheim zog er sich dreimal um, entschied sich schließlich für ein blaues Shirt und schob seine Möbel hin und her, bis ihm auffiel, dass sein Verhalten lächerlich war. Er zog die Flasche Schnaps, die er vor seinen Eltern versteckte, aus dem Schrank und nahm einen kräftigen Schluck. Kurz überlegte er, das Zimmer mit Kerzen und Blumenblättern zu dekorieren, verwarf den Gedanken aber wieder. Rose sollte nicht den Eindruck gewinnen, er wolle sie verführen. Er machte eine zu große Sache aus der Nachhilfe.
Als es klingelte, war ihm, als würde er in Ohnmacht fallen. Rose trug ein luftiges Sommerkleid mit Blumenmuster. Sie sah sehr erwachsen und schick aus. Plötzlich kam er sich in Shorts und T-Shirt lächerlich vor. »Du siehst gut aus. Komm doch rein.«
Rose lächelte kurz, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Sie wirkte, wie immer, sehr distanziert. Johnny hatte das Bedürfnis, ihre Hand zu berühren, doch er hielt sich zurück. Er durfte sich nicht wie ein Freak verhalten. Wenn er das versaute, würde sie nie wieder zu ihm kommen und er das Gespött der Schule sein.
»Sollen wir nach oben?«
»Bitte?« Sie schien in Gedanken woanders zu sein.
»Zum Lernen«, sagte er unsicher.
»Ach so, natürlich. Ja, gehen wir hoch.« Rose ließ ihn vorausgehen und folgte ihm in sein Zimmer. Sie sah sich kurz um und sagte: »Nett hier«, doch es war eine Floskel. Sie war absolut desinteressiert. Es verunsicherte Johnny. Sie hatte IHN doch um einen Gefallen gebeten. Immerhin war sie hier.
Die nächste halbe Stunde versuchte er, ihr die Grundzüge der Chemie zu erläutern, doch er musste alles mehrmals wiederholen. Es schien, als würde Rose ihm überhaupt nicht zuhören. Schließlich unterbrach sie ihn. »Ich brauche unbedingt eine Eins am Ende des Jahres.«
Johnny schluckte. »Nun, das wird schwer sein. Aber vielleicht…«
»Nein, du hast nicht verstanden«, sagte sie, fügte aber nichts hinzu. Dann schlug sie das Buch zu. »Hör‘ mal, Johnny. Im Grunde bin ich nicht wegen Chemie hier.«
Johnny schlug das Herz bis zum Hals. Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. »Weswegen dann?«
Sie lächelte ihn nachsichtig an. »Wegen dir, Johnny. Aber was habe ich schon für Chancen? Du musst doch massenhaft Mädchen haben. Deine Freunde bewundern dich ja geradezu.«
Johnny starrte sie entgeistert an. Sogar sie war auf dieses Possenspiel hereingefallen? Er biss sich kurz auf die Lippe und überlegte, was er antworten sollte. Die Machonummer würde sie ihm niemals abkaufen, und falls doch, so würde sie Reißaus nehmen. Wer wollte schon einen Playboy, der mit seinen Eroberungen prahlte? Er sah ihr in die runden, großen Augen, die ihr etwas Kindliches gaben. Dann brach es aus ihm heraus: »Aber das denken doch nur alle. Die Leute glauben, was sie glauben wollen. Hätte einer nachgefragt, wäre mein ganzes Lügengerüst zusammengebrochen. Aber sie fragen nie. Sie glauben es einfach.«
Nachdem er es losgeworden war, spürte Johnny, wie ein Gewicht von ihm abfiel. Sicher, er genoss die Anerkennung, die ihm zuteilwurde, doch mit jeder Geschichte, jeder Lüge schien er ein Stück von sich selbst zu verlieren. Er konnte niemandem erzählen, was er wirklich dachte, wie sehnlich er sich eine Freundin wünschte und dass er im Grunde nur nicht mehr allein sein wollte. Johnny Kruger, der Frauenheld, war ein einziges Konstrukt, und es gab keinen Weg zurück.
Rose legte den Kopf schief und berührte ihn sanft an der Schulter. »Johnny, das hast du doch nicht nötig. Du musst keine Geschichten erfinden. Du könntest sie selbst erleben. Trau dich einfach! Was hast du deinen Freunden denn erzählt?«
Johnny zögerte und starrte zu Boden. Er hatte Rose schon viel zu viel offenbart. Im Grunde kannten sie sich doch kaum.
»Johnny.« Er hob den Blick und versank sofort in Rose’ Augen. Sie waren außergewöhnlich und wirkten doch, als habe er schon hundertmal in sie geblickt. Er fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Alles, was existierte, waren Rose‘ Augen. Und ihre herrlichen Lippen, die nun näherkamen. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen. War das, was gerade geschah, real? Würde er gleich aufwachen? Als ihre Lippen sich auf seine legten, war ihm klar, dass es real sein musste. So schön konnte kein Traum sein. Er spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust. Dieser Moment, so kurz er auch dauerte, war der schönste seines Lebens – das wusste er. Sein Herz flatterte nervös wie die Flügel eines Schmetterlings.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er Rose lächeln. Sie sah wunderschön aus. Er wollte mit ihr Kinder bekommen, wollte sie lieben, bis sein Herz aufhörte zu schlagen. Noch nie hatte er so etwas Starkes empfunden. Sie hatte ihn geküsst. Johnny konnte sich nicht beruhigen. Sein Puls war auf 180.
»Glaubst du mir jetzt, dass du mir vertrauen kannst?«
Seine Kehle war trocken. Er konnte nur nicken. Er würde ihr alles erzählen, was sie wissen wollte. Wenn sie von ihm verlangt hätte, jemanden zu töten, er hätte es getan. Johnny konnte nur an den Kuss denken. Rose und er – etwas anderes gab es nicht mehr. »Ich habe meinen Freunden erzählt, ich hätte unter anderem mit Jessica, Janine, Ivana, einem Mädchen vom College und der Haushälterin geschlafen.«
»Aus unserer Stufe? Und mit wem davon hast du tatsächlich geschlafen?«
»Mit niemandem.« Er senkte wieder den Kopf. Seine Lügen kamen ihm im Licht der vorherigen Situation noch infantiler vor.
Rose seufzte und strich ihm verständnisvoll über den Kopf. Am liebsten hätte er sie sofort wieder geküsst. Sie war ein Engel. »Lass uns Chemie machen«, sagte sie dann abrupt und öffnete das Buch.
Die nächsten Wochen waren die schönsten in Johnny Krugers bisherigem Leben. In der Schule taten er und Rose, als hätten sie nichts miteinander zu tun – Rose wollte es so. Er verstand die Geheimhaltung nicht, akzeptierte sie jedoch klaglos. Hauptsache, sie waren zusammen. Nachmittags trafen sie sich regelmäßig.
Rose hatte nicht viel Zeit, doch die Stunden, die sie zusammen verbrachten, waren für Johnny kostbar. Er übernahm ihre Hausaufgaben. So blieb mehr Zeit, um Küsse auszutauschen. Bei der nächsten Chemiearbeit schob er ihr einen Zettel zu, auf dem die Lösungen standen. Er wurde beinahe selbst nicht fertig. Doch das Lächeln, das Rose ihm dafür schenkte, war so wundervoll, dass er den Stress sofort vergaß.
Eines Abends sagte sie ihm, wenn er geduldig mit ihr sein würde, wäre sie bereit, eines Tages mit ihm zu schlafen. Als sie ihm das eröffnete, konnte Johnny nächtelang nicht mehr schlafen. Das Bedürfnis, Rose zu berühren, erfüllte ihn ganz und gar und ließ keinen Platz mehr für andere Dinge. Als sie das Ergebnis der Chemiearbeit bekamen, jubelte Rose. Sie hatte es geschafft. Wenn sie nun noch ein Referat halten würde, wäre ihr die Eins im Zeugnis sicher. Ihre Hausaufgaben waren dank Johnny mehr als passabel, und auch ihre Mitarbeit hatte sich verbessert.
Johnny freute sich mit ihr. Je glücklicher sie war, desto zutraulicher wurde sie. Sie küssten sich inzwischen sehr oft und leidenschaftlich. Johnny überlegte, ihr eine Hand unter den Pullover zu schieben, aber er traute sich nicht. Er hatte Angst, die Stimmung damit zu zerstören.
Seine Freunde bohrten immer wieder nach, was in jener Nachhilfestunde geschehen war, doch Johnny hatte jedes Mal geschwiegen und mit den Schultern gezuckt. In der Schule suchte er oft Rose‘ Blick, doch sie nickte ihm immer nur unverbindlich zu. Johnny konnte ihr Verhalten nicht verstehen. Es verletzte ihn. Wie gern hätte er auf dem Schulhof den Arm um sie gelegt, sie an der Treppe geküsst und kleine Aufmerksamkeiten im Spind versteckt. Er war es leid, der heimliche Lover zu sein. Sie hatte ihm gezeigt, dass sie ihn mochte. Wieso nicht allen?
Eines Tages konnte er nicht mehr an sich halten. Rose war wieder an ihm vorbei gegangen und hatte ihm nur geheimnisvoll zugezwinkert. Seine Freunde neckten ihn inzwischen damit, dass Rose die erste Frau war, die er wohl nicht ins Bett bekommen würde. Sie hatten weniger Respekt vor ihm, zogen ihn auf und fachsimpelten darüber, wie sie selbst es schaffen würden, Rose rumzukriegen.
An jenem Tag hielt Johnny es nicht mehr aus. »Okay, ihr wollt es wirklich wissen? Es tut mir leid für euch, Jungs, aber Rose und ich sind schon seit mehr als vier Wochen zusammen. Wir halten es nur geheim, damit es kein dummes Gerede gibt. Aber nach Schulschluss – da geht’s heiß her.« Er grinste.
Einen Moment lang starrten seine Freunde ihn fassungslos an. Normalerweise hätten sie längst gegrölt und derbe Sprüche vom Stapel gelassen. Nun aber wechselten sie ein paar Blicke.
»Was ist?«
Einer seiner Freunde holte tief Luft und legte den Arm um ihn: »Johnny, hör‘ mal. Du hast schon so viel erlebt, aber das mit Rose, das war einfach eine Nummer zu groß für dich. Das musst du akzeptieren. Und es bringt doch nichts, irgendetwas zu erfinden.«
»Was soll das denn heißen?« Es war geradezu grotesk. All seine abgedrehten Geschichten hatten sie ihm geglaubt, und nun bezichtigten sie ihn der Lüge? Er spürte, wie Wut in ihm hochkochte. Wieso glaubten sie ihm nicht? Sicher, Rose war einmalig, und er hatte es selbst kaum fassen können, doch er hatte sich bewiesen, dass er genau der Mann sein konnte, der er immer sein wollte. Und seine Freunde hätten ihn darin bestärken müssen, fand Johnny. »Fragt sie doch selbst, wenn ihr denkt, dass ich lüge!«, sagte er wütend und ließ seine Freunde stehen.
Den Rest des Tages versuchte er, mit Rose zu reden. Sie würde sich von seiner spontanen Verkündung bestimmt überrumpelt fühlen. Aber er und sie mussten ihre Beziehung offenlegen. Er konnte diesen Zustand nicht mehr ertragen. Obwohl er überall in der Schule suchte, fand Johnny sie nicht. Er schrieb ihr eine Nachricht, dass er sie sehen musste, und wartete zu Hause viele Stunden lang – keine Antwort, keine Rose.
Als die Dunkelheit hereinbrach, stützte Johnny seinen Kopf auf die Hände und musste die Tränen zurückhalten. Was war nur los? Sie hatten sich nicht gestritten, wollten in der nächsten Woche sogar miteinander schlafen. Das hatte Rose zumindest versprochen. Die ganze Nacht über wartete er auf eine Antwort – vergeblich.
Am nächsten Tag folgten ihm die Blicke, als er das Schulhaus betrat. Irritiert sah er sich um. Alle starrten ihn an. Erst erfüllte ihn diese Situation mit Unbehagen, doch dann ging ihm ein Licht auf: Rose musste sich zu ihm bekannt haben. Plötzlich erschien ihm der Weg um einiges leichter. Er schaffte es sogar, ein Lächeln aufzusetzen. Bestimmt hatte sie ihn überraschen wollen.
Als er das Klassenzimmer betrat, grinste er bereits seinen Freunden entgegen. Doch ihre Mienen blieben eisern. Waren sie etwa wütend auf ihn? Eigentlich hätten sie sich entschuldigen müssen.
»Hey Leute, was ist denn los? Schreiben wir einen unangekündigten Test?«
Keiner sagte ein Wort. Sie blickten ihn nur ausdruckslos an. »Wieso hast du uns angelogen?«, fragte schließlich einer von ihnen. Dabei fixierte er Johnny, und seine Augen blieben kalt.
»Ich habe euch doch schon gesagt, dass Rose und ich…«
»Hör‘ endlich auf, verdammt nochmal! Wir sind keine Idioten«, brach es aus seinem Freund heraus. Johnnys Grinsen entglitt ihm. »Wir wissen, dass du Jungfrau bist. Du hast uns angelogen, deine besten Freunde.«
Johnny spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. »Woher wollt ihr das wissen?«
»Ich bitte dich. Jeder weiß es.« Seine Freunde schüttelten den Kopf und drehten sich um.
»Leute, ihr versteht das nicht…«
»Spar‘s dir, Johnny.«
Er wollte gerade etwas erwidern, als einige Mädchen auf ihn zukamen. Als er den Blick hob, sah er, dass es sich um Jessica, Janine und Ivana handelte. Von einem Augenblick zum anderen wurde ihm sterbensschlecht. Er erwog einen Moment lang, fluchtartig das Zimmer zu verlassen, doch er konnte sich nicht rühren. Es schien, als würde der Schock ihn lähmen.
»Johnny Kruger, was fällt dir eigentlich ein, zu behaupten, ich hätte mit dir geschlafen? Das wäre das Letzte, was ich tun würde – und wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst«, keifte Ivana los.
Johnny spürte, wie er auf seinem Stuhl kleiner wurde.
»Du mieser kleiner Angeber. Dachtest, du gibst bei deinen Freunden an, aber hast nicht die Eier, wirklich mal eine anzusprechen. Du bist so armselig.« Janine verzog den Mund, als habe sie etwas Schlechtes gegessen.
»Ich würde mich nicht mal von dir anfassen lassen, wenn ich Geld dafür bekommen würde. Du bist einfach nur widerlich und ein Loser. Ein kleiner, hässlicher Loser«, sagte Loreen von oben herab. Sie ließen noch eine Vielzahl von Hasstiraden los, doch Johnny konnte sie bereits nicht mehr hören. Ihm rauschte das Blut in den Ohren. Woher wussten sie über seine Lügen Bescheid? Er verspürte das Bedürfnis, sich die Ohren zuzuhalten, wegzurennen, zu schreien, sich zu verstecken und nie wieder herauszukommen.
Alle in der Klasse starrten ihn an – die Jungs verächtlich, die Mädchen hämisch. Sie keiften immer noch wild und beschimpften ihn.
In diesem Moment betrat Rose das Zimmer. Erleichtert stand Johnny auf und ließ Jessica, Janine und Ivana stehen. »Rose, du musst mir helfen. Die Mädchen wissen Bescheid. Bitte, sag‘ ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen.« Alle hatten sein Flehen gehört, doch es war ihm egal. Rose würde ihm helfen, das alles durchzustehen.
Sie sah ihn unverwandt an. »Was zur Hölle möchtest du von mir, Ronny Kruger?«
Einen Moment lang war er fassungslos. Wie kalt sie wirkte. »Ich heiße Johnny. Aber, Rose, sag' ihnen bitte, dass wir zusammen sind.«
Jetzt lachte sie laut auf. »Wir zusammen? Oh Johnny, du hast wohl zu viel Zeit beim Online-Gaming verbracht. Das ist so erbärmlich, wirklich. Kaum nehme ich bei dir Nachhilfe, erzählst du überall herum, wir wären zusammen? Ich gebe dir einen guten Tipp: Erzähl' keine Geschichten, sondern krieg' dein Leben auf die Reihe! Du tust mir wirklich leid.«
Johnny stand mit geöffnetem Mund vor ihr. Das war nicht die Rose, die er kannte. Es war nicht die Rose, die er liebte. Jedes ihrer Worte hatte ihn getroffen wie ein Nadelstich. Plötzlich fühlte er sich umzingelt. Vor ihm stand Rose, hinter ihm die keifenden Mädchen, und die gesamte Klasse tuschelte über ihn. Sie zeigten mit dem Finger auf ihn, lachten ihn aus. Dazu Rose‘ grausamer Gesichtsausdruck. Plötzlich konnte er es nicht mehr ertragen. Ihm wurde schlecht. Er sah Rose noch einmal flehend an, erkannte aber, dass es keinen Sinn hatte.
Johnny stürzte auf den Gang und erreichte gerade noch die Toilette. Dort schloss er sich in einer Kabine ein und übergab sich, bis er glaubte, das miese Gefühl losgeworden zu sein. Nach einer scheinbar ewigen Zeit ließ er seinen Kopf auf den Toilettensitz sinken und schluchzte so heftig, dass es ihn am ganzen Leib schüttelte. Womit hatte er das verdient? Er hatte Lügen erzählt, ja, aber doch nur aus Einsamkeit. Wie sollte er jemals zurück ins Klassenzimmer gehen können? Er hatte niemanden mehr. Als er an Rose dachte, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Gott, wie sehr er sie liebte. Und doch hatte sie ihn im Stich gelassen, als er sie am meisten gebraucht hatte.
Er hörte, wie die Tür zum Waschraum aufging. Es klopfte an seiner Kabine. In Johnnys Kopf drehte sich alles. Schwach vom Schwindel zog er sich an der Klinke hoch, fuhr sich über den Mund und öffnete die Tür. Rose stand vor ihm. »Du bist kalkweiß. Komm ans Waschbecken!« Sie führte ihn hin. Im Spiegel sah er aus wie ein toter Mann.
Nachdem er sich den Mund ausgespült hatte, sah er Rose an. »Du warst es? Du hast es allen erzählt?« Er wusste, dass es stimmte, noch bevor er die Frage zu Ende gestellt hatte.
Rose nickte. In ihren Augen war nicht eine Spur von Reue zu sehen. »Du hast mir keine Wahl gelassen. Wenn du nicht zu meinen Bedingungen spielen kannst, dann verlierst du.« Er verstand kein Wort. »Ach Johnny, wenn du bloß keinem von uns erzählt hättest, dann wäre dir das alles hier erspart geblieben. Du wärst der glücklichste Kerl der Welt gewesen – bis zur Zeugnisvergabe.«
Sie hatte ihn ausgenutzt. Die Erkenntnis traf Johnny wie eine kalte Welle. Beinahe wurde ihm wieder übel. Er sank zurück auf den Toilettensitz und vergrub sein Gesicht in den Händen. Die Tränen rannen nur so über sein Gesicht. Wieso tat sie ihm so etwas an? Jede Berührung, jeder Kuss, jedes Versprechen war gelogen gewesen. Er hatte sich geirrt. Nicht er war der König der Lügen, sondern Rose.
»Das Leben geht weiter, irgendwann«, sagte Rose emotionslos und wandte sich zum Gehen. Als sie die Tür öffnete, sah er noch einmal auf und musterte ihre schlanke Figur, das lange Haar, verfolgte ihre Bewegung. Sie hatte ihm unendlich wehgetan, ihn verraten, sein Vertrauen missbraucht, ihn missbraucht. Und doch liebte er sie immer noch so sehr, dass es wehtat.